Seit Sie vor fünf Jahren beschrieben haben, „wie Demokratien sterben“, hat sich die globale Landkarte liberaler Regierungen weiter verändert. Wo sehen Sie die Demokratie als politisches System heute – auf dem absteigenden Ast, gar am Abgrund oder auf dem Weg der Transformation und Konsolidierung?
Daniel Ziblatt: Es gibt heute mehr Demokratien auf der Welt als je zuvor, außer in der begrenzten Phase zwischen den Jahren 2000 und 2010. Die Demokratie als Regierungssystem ist unverändert stark und attraktiv. Natürlich stehen Demokratien überall vor neuen Herausforderungen. Wir beobachten gerade in jungen Demokratien Erosionsprozesse, aber auch in Ländern mit langjähriger demokratischer Tradition steht die Demokratie unter Druck – nehmen Sie die USA, Indien oder Ungarn.
Ist zunehmende politische Gewalt gegen Personen und Institutionen Symptom oder Ursache einer erodierenden Demokratie?
Es ist zunächst ein Symptom. Wenn politische Gegner sich gegenseitig als Feinde betrachten, dann wird man alle Mittel nutzen, um an der Macht zu bleiben oder Macht zu erringen – auch Gewalt. Insofern ist sie sowohl Symptom wie Folge des Zerfalls von gegenseitiger Achtung und Respekt.
In den USA hat es 2021 einen Regierungswechsel gegeben, mit gewalttätigen Begleiterscheinungen nicht bloß am 6. Januar bei der Erstürmung des Kapitols. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass sich die amerikanische Demokratie von Trump erholt? Ist die Demokratie, insgesamt, am Ende doch widerstandsfähiger als befürchtet?
Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Einerseits stimmt es, dass Trump abgewählt wurde und es einen Machtwechsel gab. Das ist schließlich eine notwendige Voraussetzung für eine Demokratie. Andererseits ist auch wahr, dass 70 Millionen Amerikaner Trump gewählt haben, und diese Wähler sind immer noch da. Das ist eine politische Minderheit; die Mehrheit hat Donald Trump nie unterstützt. Das heißt, dass die Gesellschaft in den USA stark polarisiert ist. Und wir haben in Amerika eine sehr altmodische Verfassung aus dem 18. Jahrhundert. Wir brauchen also dringend Reformen der demokratischen Institutionen.
Wo genau?
Ein großes Problem ist: Man kann US-Präsident werden, ohne bei den Wahlen eine Mehrheit bekommen zu haben. Und wie man gesehen hat, kann es gefährlich sein, wenn eine Minderheit an die Macht kommt. Die amerikanische Demokratie ist an dieser Stelle sehr verwundbar.
Blicken wir zurück in eine lange Reihe von US-Präsidenten: Teddy Roosevelt, Franklin D. Roosevelt, Ronald Reagan, Barack Obama – am radikalsten verändert haben sich die USA immer dann, wenn ein charismatischer Präsident mit grandiosen rhetorischen Fähigkeiten gesegnet war und so neue Wählerschichten erschlossen hat. Beides trifft auf Joe Biden nicht zu. Sehen Sie einen solchen Anführer irgendwo am Horizont?
Im Fußball gibt es die Ersatzbank mit den Spielern, die eingewechselt werden können. Es gibt bei den Demokraten eine gute Auswechselbank, mit angesehenen Gouverneuren oder Senatorinnen aus verschiedenen Staaten. Aber ich sehe im Moment keine oder keinen, der oder dem ich eine Kandidatur schon 2024 zutrauen würde. So ist für mich Joe Biden trotz seines Alters der beste Kandidat im Angebot seiner Partei.
Wenn Sie schon Sorgen um die Demokratie in den USA oder Indien haben, wie groß ist die Gefahr, die von der gegenwärtigen Staatskrise in Israel für das Land selbst und die Region ausgeht?
Das besondere Problem in Israel ist, dass es dort keine geschriebene Verfassung gibt. Es ist eine Ein-Kammer-Demokratie ohne eine parlamentarische Gegenmehrheit in einer zweiten Kammer. Die einzige Institution, die das Parlament in Israel kontrollieren kann, ist die Justiz. Netanjahu versucht nun, diese Gegenmacht zu schwächen. Das ist eine Gefahr für die Demokratie. So ähnlich hat es Orban vor zehn Jahren in Ungarn gemacht. Was mir Hoffnung macht, ist die große Opposition in Israel, die sich auf den Straßen formiert. Allerdings verstärkt das wiederum die Polarisierung der Gesellschaft, was auch ein Risiko birgt.
Auch im krisengeplagten Großbritannien existiert keine geschriebene Verfassung. Ist es prinzipiell problematisch, keine schriftliche Verfassung zu haben?
Natürlich brauchen Demokratien auch nicht-schriftliche Normen und Regeln, das gilt für Deutschland ebenso wie für die USA oder das Vereinigte Königreich. Aber wo es keine schriftliche Verfassung gibt, sind die nicht-schriftlichen Normen noch verletzlicher, weil von ihnen abhängt, ob alle Akteure die Spielregeln achten oder nicht – Politiker wie Bürger. Das heißt nicht, dass Demokratien ohne schriftliche Verfassung nicht existieren können, aber sie sind noch prekärer als andere.
Der Krieg in der Ukraine stellt eine dramatische Herausforderung für den Westen dar. Francis Fukuyama sagt: „Die Welt ist näher an 1914 als an 1939.“ Heißt das, wir stehen womöglich vor einem dritten Weltkrieg?
Das hängt davon ab, wie unsere Staatenlenker mit dieser Herausforderung umgehen. Nichts ist gewiss. Es handelt sich um eine große Gefahr. Einerseits werden die Stärken von Demokratien immer klarer für jeden erkennbar, andererseits sehen wir, was passiert, wenn ein Präsident an keine Institution rückgebunden ist, sondern einfach machen kann, was er sich vorgenommen hat. Insofern hat Fukuyama recht, dass die Lage sehr gefährlich ist, aber wir haben auch gelernt aus der Geschichte seit 1914. Das ist in der aktuellen Situation unser einziger Vorteil.
Sind nicht auch die handelnden Personen auf westlicher Seite ein Vorteil?
Ja, es ist gut, dass Trump nicht mehr Präsident ist. Denn für ihn, so sagt er es selbst, ist nicht Putin das Problem, sondern die NATO. Hätten wir in Amerika keine Demokratie, wäre Trump noch an der Macht. Das zeigt: Demokratien haben die Fähigkeit der Selbstkorrektur, Autokratien nicht.
Autoritäre Staaten wie China sind schon sehr weit in der Totalüberwachung ihrer Bürger – auch durch die zunehmenden technischen Möglichkeiten. Diese gibt es allerdings auch in den westlichen Demokratien und auch die Menschen dort haben ihr Smartphone sehr häufig in der Hand und vertrauen ihm sehr viel an. Könnten gläserne Bürger nicht auch zu einer Gefahr für die Demokratie werden? Oder schützen uns unsere Bürger- und Grundrechte davor?
Es ist eine Gefahr – unabhängig davon, wo man lebt. Aber wir haben in unserer Verfassung Instrumente, um uns davor zu schützen. Diese sind allerdings kein Automatismus. Es muss Bürgerrechtsbewegungen geben, um unsere Grundrechte zu schützen. Wir müssen aufpassen. Nur weil wir in einer Demokratie leben, heißt das nicht, dass wir vor solchen Prozessen geschützt sind.
Sind Sie optimistisch, dass wir das schaffen?
Ich bin optimistischer gegenüber dem Staat. Pessimistischer bin ich, wenn wir über private Unternehmen reden. Das ist besonders in den USA schon merkwürdig. Es gibt große Nervosität, wenn der Staat Informationen über seine Bürger möchte, aber kaum, wenn es um Google oder Facebook geht.
Diese Plattformen tragen erheblich zur Polarisierung der Gesellschaft bei, die Sie als eines der Kernprobleme ausgemacht haben. Muss man sie stärker regulieren?
Ja. Ich bin kein Experte dafür, wie genau so eine Regulierung aussehen könnte, aber ich halte es für wichtig, dass der Staat ein Auge auf neue technische Entwicklungen hat. Allerdings gibt es da immer die Tendenz, dass zu wenig zu spät unternommen wird – auch wenn man auf Banken schaut. Aber wir müssen das jetzt machen. Um einen freien Markt zu haben, muss man in ihn eingreifen. Allerdings ist es schwierig, weil die Unternehmen viel Macht haben.
Welche Rolle spielen die Sozialen Medien denn bei der Toleranz und Akzeptanz vieler Wähler für offensichtliche Lügen und Verschwörungstheorien von Populisten wie Trump?
Eine wichtige. Aber man muss ehrlich sagen: es gab auch in den 1930er Jahren eine sehr große Polarisierung. Demokratien sind gestorben – ganz ohne Twitter. Diese Prozesse haben soziologische Wurzeln. Die Sozialen Medien lassen diese nur weiterwachsen. Vor allem durch die Echokammern. Deren starke Effekte sind mittlerweile auch sozialwissenschaftlich gut untersucht und nachweisbar.
Welche Rezepte gibt es denn gegen Polarisierung?
Zwei-Parteien-Systeme wie die USA sind besonders anfällig dafür, weil die Politiker die Arena als Nullsummenspiel begreifen – was der anderen Seite schadet, ist automatisch gut für mich. Aber es gibt auch in Mehrparteiensysteme diese Tendenz. Schauen Sie sich nur an, wie stark das neue Wahlrecht in Deutschland die Parteien polarisiert hat. Aber Sie haben ja gefragt, was man dagegen tun kann. Fast alle westlichen Demokratien werden diverser und multiethnisch. Das bedeutet auch, dass Menschen gewohnte Macht abgeben müssen – und manche unterstützen deswegen demagogische Parteien. Sie müssen überzeugt werden: Diese Änderungen sind nicht so gefährlich, wie es die Demagogen sagen. Diese Änderungen sind kein Nullsummenspiel, bei dem ihr verliert. Das muss allerdings auch untermauert werden, durch wirtschaftliches Wachstum und die Bekämpfung von Ungleichheit. Es geht auch um Toleranz, die ist sehr wichtig.
Professor Daniel Ziblatt lehrt in Harvard und ist zugleich Direktor der Abteilung „Transformationen der Demokratie“ am Wissenschaftszentrum Berlin.