Der Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat in den vergangenen Wochen zu ungezählten Toten, zu unvorstellbarer Zerstörung, zu unfassbarer Not und zu unendlichem Leid für Millionen Menschen geführt. Bis heute gibt es unterschiedliche Auffassungen und Erklärungen, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen der russische Präsident Wladimir Putin Krieg gegen sein Nachbarland führen lässt. Eines aber ist unbestreitbar: Kein Grund und kein Ziel können diesen Krieg rechtfertigen.
Deutschland hat als Teil der Europäischen Union gemeinsam mit den USA und anderen Staaten wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen gegenüber Russland verhängt, wie es sie in der Geschichte der modernen Staatenwelt noch nie gegeben hat. Die Sanktionen sollen Russland wirtschaftlich, politisch und militärisch schwächen, damit es gezwungen ist, sein Verhalten zu ändern. Welche konkreten Ziele in welcher Zeit mit den Sanktionen erreicht werden sollen, darüber gibt es innerhalb der EU und innerhalb der NATO unterschiedliche Auffassungen und Strategien, aber so gut wie keine öffentliche Debatte.
Die Ukraine hat das selbstverständliche Recht, sich gegen den russischen Angriff zu verteidigen. Von politisch Verantwortlichen und in den Medien hören und lesen wir aber seit dem 24. Februar 2022 immer wieder auch, der ukrainische Präsident Selensky, die ukrainische Armee und alle, die sie unterstützen, kämpften für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, sie verteidigten europäische Werte.
Stimmt das? Wie stand es vor dem 24. Februar 2022 um Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine? Wie sind die staatliche Ordnung, wie die politischen Verhältnisse gesehen und bewertet worden? Der Blick in ganz unterschiedliche Untersuchungen aus der jüngsten Vergangenheit, mit ganz unterschiedlichen Methoden und Verfahren erarbeitet, ergibt ein bemerkenswertes Bild.
Im Kampf gegen Korruption versagt
„Transparency International“ hat am 25. Januar 2022 seinen alle zwei Jahre erscheinenden „Korruptionswahrnehmungsindex“ veröffentlicht.
Dieser Index „aggregiert Daten aus 13 Einzelindizes von 12 unabhängigen Institutionen, die auf der Befragung von 12 unabhängigen Expertinnen und Experten, Umfragen sowie weiteren Untersuchungen zur Wahrnehmung des Korruptionsniveaus im öffentlichen Sektor beruhen.“
In diesem „Korruptionswahrnehmungsindex“ erreicht die Ukraine 32 von 100 möglichen Punkten. Sie liegt damit auf Platz 122 von 180 untersuchten Ländern. (Auf Platz 1 liegen mit jeweils 88 Punkten Dänemark, Finnland und Neuseeland und auf Platz 180 mit 11 Punkten der Südsudan.)
In einer Umfrage sagen 56 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer, Korruption sei eines der drei wichtigsten Probleme, mit denen ihr Land zu tun habe.
64 Prozent der befragten Ukrainerinnen und Ukrainer halten alle oder die meisten ihrer Abgeordneten für korrupt, und 86 Prozent sind der Meinung, dass ihre Regierung im Kampf gegen Korruption versagt.
Zusammenfassend heisst es in dem Bericht: „Armenien, Bosnien & Herzegowina, Litauen, Moldawien, Russland, Serbien und die Ukraine sind nach Auffassung ihrer eigenen Bürgerinnen und Bürger die Länder in Europa und Zentralasien mit den schlechtesten Ergebnissen.“
Weiter heisst es dort:
„Eine Analyse von Transparency International zeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Korruptionsbekämpfung sowie der Achtung der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten besteht.“
Dazu passt eine „Analyse“ zur Situation des Rechtsstaats in der Ukraine, die die „Bundeszentrale für politische Bildung“ mit Datum 16. September 2020 auf ihrer website veröffentlicht hat. Dort heisst es in der „Zusammenfassung“:
„Die Regierungen unter Petro Poroschenko und Wolodomyr Selensky brachten eine Vielzahl institutioneller und legislativer Änderungen im Justizwesen auf den Weg. Das Versprechen der Revolution der Würde, für Rechtsstaatlichkeit zu sorgen, ist jedoch weitgehend unerfüllt geblieben. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens ist das Bekenntnis der politischen Elite zum Rechtsstaat bestenfalls oberflächlich und schlimmstenfalls vorgetäuscht.“
Weiter heisst es dort:
„Die ambitionierte Umstrukturierung des Gerichtswesens hat in der Praxis nur wenige sichtbare Anzeichen eines Wandels gebracht. Sowohl in der Ukraine wie auch bei deren internationalen Partnern wächst die Besorgnis, dass die Gerichte genauso abhängig und korrupt sind wie früher.“
Defekte Demokratie
Am 22. Februar 2022 hat die Bertelsmann Stiftung ihren „Transformationsindex 2022“ zur „Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und Regierungsführung in 137 Entwicklungs- und Transformationsländern“ veröffentlicht. Zum Demokratieverständnis, das dem Index zugrunde liegt, heisst es:
Es gehe „über freie Wahlen und politische Betätigung hinaus. Es schliesst die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats und des Staats sowie die Akzeptanz, Repräsentativität und die politische Kultur des demokratischen Systems ein.“
Im Bereich „Politische Transformation“ liegt die Ukraine auf Platz 36 und gehört nach der Definition des „Transformationsindex“ der Bertelsmann Stiftung zur Gruppe der Länder, die als „defekte Demokratie“ bezeichnet werden. Das ist die zweitbeste von sechs Kategorien.
In der Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse für die Ukraine heisst es u.a.:
„In der Ukraine war die Amtszeit von Präsident Selensky nichts weiter als eine Verschwendung des öffentlichen Mandats zur Durchführung wichtiger Reformen.“
Weiter heisst es dort:
„Im Jahr 2019 verabschiedete Selensky viele Gesetze schnell und ohne angemessene parlamentarische Beratungen. Nach März 202 gelang es seiner Partei jedoch nicht, Gesetze zu verabschieden, was seine Fähigkeit, seine Reformagenda voranzubringen, weiter beeinträchtigte. Gescheiterte Bemühungen um eine Justizreform und verstärkte Angriffe auf Korruptionsbekämpfungseinrichtungen gipfelten Ende 2020 in einer Verfassungskrise.“
Regelmäßiger Wahlbetrug
Am 9. Februar 2022 veröffentlichte die Forschungsabteilung des britischen „Economist“ den „Democracy Index 2021“, der aus sechzig Indikatoren aus fünf Kategorien (Wahlen und Pluralismus, Bürgerrechte, Funktionsfähigkeit der Regierung, politische Teilhabe und politische Kultur) gebildet wird.
Die untersuchten 167 Länder werden in vier Gruppen unterteilt. Die Ukraine liegt mit einem „Score“ von 5,57 von 10 möglichen Punkten auf Platz 87 und gehört mit 34 anderen Ländern zur zweitletzten Gruppe der „Hybrid Regimes“, die so definiert sind:
„Nationen mit regelmässigem Wahlbetrug… Diese Nationen haben Regierungen, die Druck auf die politische Opposition ausüben, sie haben keine unabhängige Justiz, weitverbreitete Korruption, schikanieren und üben Druck aus auf die Medien, haben einen schwachen Rechtsstaat…“
Auf Platz 1 mit 9,09 des Index liegt Norwegen und auf Platz 167 mit 0,32 Afghanistan.
Freiheitsrechte beschränkt gewährleistet
„Brot für die Welt“ und CIVICUS, ein weltweites Netzwerk für bürgerschaftliches Engagement, haben am 6. April 2022 den „Atlas der Zivilgesellschaft“ veröffentlicht:
„CIVICUS unterteilt die Freiheitsgrade einer Gesellschaft in fünf Kategorien: offen, beeinträchtigt, beschränkt, unterdrückt, und geschlossen.“
Die Ukraine gehört mit 42 anderen Ländern zur dritten Gruppe, in der die Freiheitsrechte „beschränkt“ gewährleistet sind. Dieser Einordnung liegt folgende Definition zugrunde:
„Die Regierenden beschneiden eine freie Grundrechtsausübung durch eine Kombination aus rechtlichen und praktischen Einschränkungen. Zivilgesellschaftliche Organisationen existieren zwar, doch staatliche Stellen versuchen sie zu zersetzen, unter anderem, indem sie diese überwachen, bürokratisch schikanieren und öffentlich demütigen. Bürgerinnen und Bürger können sich friedlich versammeln, werden aber häufig von Polizeikräften unter Einsatz exzessiver Gewalt auseinandergetrieben, etwa mit Gummigeschossen, Tränengas und Schlagstöcken. Es gibt Raum für nicht-staatliche Medien und redaktionelle Unabhängigkeit, aber Journalistinnen und Journalisten erfahren körperliche Übergriffe und Verleumdungsklagen. Viele sehen sich deshalb zur Selbstzensur genötigt.“
Im Kapitel zur Ukraine heisst es u.a.:
„Seit Beginn des Konflikts in der Ostukraine sind Falschnachrichten ein zentraler Teil der russischen Kriegsführung. Eine lebendige Zivilgesellschaft hat Methoden entwickelt, um sich dagegen zu wehren. Sie füllt damit eine Leerstelle im ukrainischen Staat, der mitunter selbst autoritären Verlockungen erliegt.“
Weit entfernt von Rechtsstaatlichkeit
Diese Berichte und Analysen zur Ukraine stammen von Organisationen, die weder für ihre Ferne zur Ukraine von Präsident Selensky bekannt sind noch für ihre Nähe zum Russland von Präsident Putin. Die Berichte zeigen, dass die Ukraine vor dem 24. Februar 2022 weit entfernt war von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, wie die Europäische Union sie versteht. Deshalb ist es ein falsches Signal, ein Zeichen von Unehrlichkeit und nicht von Solidarität, wenn die Präsidentin der EU-Kommission und andere die Hoffnung wecken, die Ukraine könne in überschaubarer Zeit Mitglied der Europäischen Union werden.
Selbstverständlich gilt das Recht auf Leben für alle Menschen, ganz unabhängig davon, ob und inwieweit im eigenen Land Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gelebte Wirklichkeit sind oder nicht.
Selbstverständlich hat die Ukraine, ungeachtet ihrer staatlichen und politischen Ordnung, das Recht, sich gegen den Überfall durch die Russische Föderation und gegen jede Fremdbestimmung zu wehren.
In ihrem Kampf gegen die russische Invasion hat die Ukraine Anspruch auf die Unterstützung aller Länder, die nicht zulassen wollen, dass Krieg wieder zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln wird. Niemand wird der Ukraine verübeln können, wenn sie Unterstützung auch von Ländern annimmt, die zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen Krieg durchaus für die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln halten und auch im 21. Jahrhundert schon entsprechend gehandelt haben.
Auf welche Weise ein Land die Ukraine gegen den Überfall durch die Russische Föderation unterstützt, das müssen die Regierungen und die Parlamente jedes Landes nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Wenn ein Land neben humanitärer Hilfe und wirtschaftlicher Unterstützung auch Waffen liefert, dann ergibt sich daraus eine zusätzliche politische Verantwortung alles dafür zu tun, dass das Töten und das Leiden so schnell wie möglich beendet werden. Die Bemühungen um einen Waffenstillstand und danach Verhandlungen über eine dauerhafte friedliche Koexistenz, die die berechtigten Interessen aller Beteiligten berücksichtigt, müssen deshalb im Zentrum der politischen Anstrengungen stehen.
EU darf nicht Kriegspartei werden
Dass der ukrainische Staatspräsident und Vertreter seiner Regierung Forderungen stellen, die über das hinausgehen, was andere Länder tun können und tun wollen, ist angesichts der Lage, in der ihr Land sich befindet, mehr als verständlich. Die Verantwortlichen in der Ukraine haben aber nicht das Recht zu verlangen, dass alle ihre Sicht der Dinge, ihre strategischen Überlegungen und Ziele übernehmen und die daraus abgeleiteten Forderungen erfüllen.
Die Regierung jedes Landes muss selber abwägen, ihren Bürgerinnen und Bürger erklären und ihnen gegenüber verantworten, was sie zu tun bereit ist und wo sie aus Gründen der äusseren Sicherheit und im Interesse der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Stabilität des eigenen Landes Grenzen der Unterstützung sieht. Eine Regierung, die das nicht tut und stattdessen äusserem Druck nachgibt, wird ihrer Verantwortung nicht gerecht und gefährdet Vertrauen und Zustimmung, auf die jede Demokratie angewiesen ist.
Der Anspruch auf Unterstützung der Ukraine durch andere Länder findet spätestens da seine Grenze, wo die konkrete Gefahr besteht, dass ganz Europa und darüber hinaus in einen Krieg mit Russland gerät. Die Europäische Union, Deutschland und die NATO dürfen nicht Kriegspartei werden.
Die Ukraine kann auch nicht erwarten, dass ein Land seine eigene soziale, wirtschaftliche und politische Stabilität gefährdet, indem es auf Importe aus Russland verzichtet, die kurzfristig nicht zu ersetzen sind. Das gilt erst recht, wenn bei unvoreingenommener Betrachtung klar ist, dass ein solcher Verzicht nicht dazu beitrüge, das Töten und das Leiden in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden.
Ja, ist ja alles richtig. Aber warum dieses Draufhauen auf die Ukraine, in dieser Situation? Ich nahm wahr, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer einen starken Wunsch nach Veränderung zu einer funktionierenden Demokratie und zu Europa haben. Das war das Ergebnis der Wahl 2019. „Wir wissen, was schlecht ist bei uns, aber wir sind auf einem guten Weg“, heißt es dort. Das Gleiche gilt für Selensky: „Wir kennen seine Defizite, aber es ist unser Präsident, wir durften ihn wählen“. Inzwischen steigt die Zustimmung für ihn. Mit allem historischen Ballast im Rucksack sollten wir ihnen helfen, sie unterstützen bei ihrem Nation-Building. Verteufeln hilft nichts. Den Teufel mit Namen Kriegsverbrecher Putin haben sie jetzt an den Hacken, der nicht mit sich verhandeln lässt. Weil er diese demokratische Entwicklung in der Ukraine verabscheut. Für einen neuen „Willy“ scheint es zu früh.