Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ist dabei, sein Land von einer Autokratie in eine offene Diktatur zu verwandeln. Im ihrem verzweifelten Kampf für die Demokratie sind Millionen Türken dabei auf sich allein gestellt – der Westen lässt sie schmählich im Stich.
Erdoğan hat in einer Art Staatsstreich von oben den überaus populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu verhaften, in den Knast stecken und seines Amtes entheben lassen. Denn dass dieser Coup ein rein juristischer Vorgang ist, glauben selbst die Anhänger des Despoten vom Bosporus nicht. Die willfährige Justiz ist in den Jahrzehnten der Erdoğan-Herrschaft längst zu einem Instrument seiner Machterhaltung verkommen. Richter und Staatsanwälte folgen Erdoğans Anweisungen. Da unterscheidet er sich kaum mehr vom Kreml-Herrscher Wladimir Putin. Auch die unabhängige Presse, eigentlich die vierte Gewalt im Staate, ist seit langem auf Kurs. Die Zeitungen in der Türkei gehören fast ausschließlich reichen Oligarchen – etwa in der Bauindustrie. Und diese Unternehmer sind auf Gedeih und Verderb auf Staatsaufträge angewiesen – und damit in Erdoğans Hand. Da seine Partei auch noch den staatlichen Rundfunk und das öffentliche Fernsehen beherrscht, werden Millionen Türken rund um die Uhr mit Erdoğan-Propaganda überflutet. Vor allem bei den einfachen und ungebildeten Menschen hinterlässt das Wirkung, die urbane und akademische Schicht ist längst auf das Internet als Informationsquelle ausgewichen.
Und so geht seit Jahren ein tiefer Riss durch die türkische Gesellschaft – wie durch so viele westliche Länder: Hier die islamisch-konservativen Schichten, die ihrem Idol Erdoğan fast religiös huldigen, dort die aufgeklärten Bürger, die sich nach Freiheit und Demokratie sehnen. Viele dieser Menschen haben in den vergangenen Jahren das Land schon verlassen, sie haben die Enge und Unterdrückung im Erdoğan-Land nicht mehr länger ertragen. Die türkische Wirtschaft leidet sehr unter diesem „Brain-Drain“, doch das ist Erdogan offensichtlich völlig egal, solange es seine Macht zementiert.
Doch viele Millionen Türkinnen und Türken, die unter großem persönlichen Einsatz und unter großer Gefahr gegen das System Erdoğan und für Demokratie kämpfen, sind im Land geblieben. Das zeigten 2013 die legendären Gezi-Proteste, die vor allem von jungen Menschen getragen wurden, und die Erdoğan mit brutaler Gewalt niedergeschlagen ließ. Und das zeigen die Hunderttausenden, die in den vergangenen Tagen trotz Demonstrationsverbots auf die Straßen strömten, um gegen den Putsch von oben zu kämpfen. Die nicht zurückgewichen sind vor Wasserwerfern und Tränengas, vor Polizeiknüppeln und wüsten Drohungen. Die die Freilassung von Ekrem İmamoğlu forderten, des überaus populären Bürgermeisters von Istanbul, der bei der nächsten Präsidentschaftswahl in der Türkei alle Chancen hat, Erdoğan abzulösen. Der volksnahe 53-Jährige İmamoğlu von der sozialdemokratisch ausgerichteten Oppositionspartei CHP hatte es geschafft, Anhänger bis weit in konservative Schichten hinein für sich zu gewinnen. Mit seiner Inhaftierung hat Erdoğan seinen mächtigsten Kontrahenten zumindest vorerst ausgeschaltet – ein reiner Willkürakt, da braucht man nach anderen Gründen nicht lange zu suchen.
Und was tut der Westen, der doch sonst stets seine Werte wie Demokratie und Freiheit zumindest verbal vor sich herträgt? Er lässt diese Türkinnen und Türken, er lässt die Demokraten am Bosporus schändlich im Stich. Denn außer ein paar pflichtschuldigen und verharmlosenden Ermahnungen in Richtung Erdoğan hört man aus den europäischen Ländern wenig. Und diese lauen Worte hat der Herrscher in Ankara längst eingepreist, darüber kann er nur müde lächeln.
Erdoğan erpresst Europa und die NATO
Erdoğan nutzt mit seinem Coup gegen seinen aussichtsreichen Widersacher zynisch und eiskalt die Weltlage aus.
- Unter US-Präsidenten wie Barack Obama oder auch Joe Biden wäre es Erdoğan sehr viel schwerer gefallen, so dreist und brutal gegen seinen demokratischen Widersacher vorzugehen. Washington hätte darauf gedrungen, zumindest den Anschein von Demokratie zu wahren. Doch unter dem neuen Machthaber Donald Trump ist nun offenbar sogar das Gegenteil der Fall: Erdoğan, so scheint es, rechnet mit grünem Licht aus Übersee für sein militantes Vorgehen, wenn er es nicht schon erhalten hat. Man kann sich gut vorstellen, dass auch Trump eine mögliche Opposition gegen ihn eines Tages unter so fadenscheinigen Argumenten und mit ähnlicher Brutalität bekämpft wie nun der türkische Herrscher. Insofern könnte ihm Erdoğan dazu die Blaupause liefern.
- Bei der EU und bei der NATO hält man die Füße still, weil man den Despoten vom Bosporus trotz aller verbalen Abgrenzung braucht. Nach dem Rückzug der USA aus Europa benötigt man das große NATO-Land Türkei vor allem im Russland-Ukraine-Konflikt. Einmal als militärischen Rückhalt innerhalb der NATO, zum anderen aber ist Erdoğan – abgesehen von Trump – der einzige NATO-Verbündete, der noch Zugang zu Putin hat. Und die Gefahr ist groß, dass auch der türkische Machthaber ins Lager Putins wechselt. Also umgarnt man Erdoğan eher als ihn hart zu kritisieren.
- Auch in der Flüchtlingsfrage erpresst Erdoğan die Europäer weiter. In der Türkei leben Millionen Flüchtlinge – und Erdoğan lässt sich von der EU viele Milliarden Euro dafür bezahlen, dass er diese Menschen in seinem Land behält und nicht nach Europa weiterleitet. Und genau damit hat Erdoğan bei politischen Konflikten mit Brüssel immer wieder gedroht. Und jedes Mal hat die EU gekuscht.
- Vor allem das Flüchtlings-Argument schlägt voll auf Berlin durch. Der designierte CDU-Kanzler Friedrich Merz hatte im Wahlkampf breitbeinig damit geworben, seine Regierung werde die Migrationspolitik drastisch verschärfen und die Zahl der sogenannten illegalen Einwanderer deutlich senken. Er werde sich daran messen lassen, so hatte Merz getönt. Mit dieser großspurigen Ankündigung aber hat sich der CDU-Mann schon vor Amtsantritt in die Hände des Islamisten Erdoğan begeben. Denn würde dieser die türkischen Grenzen öffnen, wer wollte dann die Hunderttausenden Geflohenen auf ihrem Weg nach Zentraleuropa, nach Deutschland, noch aufhalten? Vom sonst so nassforschen Merz, der gerne gegen „kleine Paschas“ polemisiert, wird man in Richtung Erdoğan also nichts faktisch Greifbares hören.
- Zur Wahrheit gehört aber auch, dass zurzeit der Aufschrei der türkischen Community in Deutschland zwar deutlich hörbar ist, dass er aber angesichts von rund 2,8 Millionen Türkeistämmigen im Land bislang keinesfalls die Lautstärke entwickelt, die möglich wäre. Zu den ersten Demonstrationen gegen Erdoğan kamen in den Städten zwar einige Tausend Menschen zusammen, aber eben keine Zehntausende. Denn zur Wahrheit gehört, dass Erdoğan unter den Türken in Deutschland prozentual noch deutlich mehr Anhänger hat als in seinem Heimatland. Bei der Präsidentschaftswahl 2023 erhielt der Islamist in Deutschland mehr als 65 Prozent der Stimmen, in der Türkei selbst waren es „nur“ 52 Prozent.
Fazit. Die Menschen in der Türkei stehen in ihrem Kampf gegen Erdoğan und für die Demokratie also zurzeit ziemlich allein da. All das weiß Erdoğan natürlich – und er nutzt es aus. Doch er darf diese Menschen nicht unterschätzen: ihre Wut, ihre Sehnsucht nach Freiheit, nach Bürgerrechten, nach Gleichberechtigung. All das verleiht Kraft. Hunderttausende sind bereit, diesen Kampf für ein würdevolles Leben in politisch und wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen aufzunehmen. Das haben die vergangenen Tage gezeigt. Diese Menschen wissen, wie groß das Ziel ist, sie wissen aber auch, wie hoch ihr Einsatz ist: wer nun auf die Straße geht, riskiert, in den Knast zu kommen, von der Polizei verletzt oder gar getötet zu werden. All diese Menschen verdienen unsere höchste Achtung, unsere Solidarität, unsere Unterstützung. Sie kämpfen auch für uns gegen die weltweit grassierende und wachsende Macht der Autokraten, Diktatoren und Oligarchen. Ob in Moskau, Peking, Washington oder nun in Ankara und Istanbul. Sie müssen siegen! Wir müssen siegen!