Wolfgang Schäuble hat in seinem langen Leben- er ist 78 Jahre alt- vieles erlebt und erlitten. Seit ewigen Zeiten sitzt der Mann im Bundestag, er war Oppositionspolitiker, hat Willy Brandt und Helmut Schmidt erlebt, war Kanzleramtsminister unter Helmut Kohl, CDU-Fraktions- und Partei-Chef, Bundesinnenminister, Bundesfinanzminister und seit ein paar Jahren ist er Bundestagspräsident. Der CDU-Politiker aus Baden-Württemberg hätte alles werden können-oder wollen?- scheiterte aber einmal an Helmut Kohl, der ihm den Weg ins Kanzleramt nicht freimachte, dann an Angela Merkel, die ihn wegen der Spenden-Affäre, in die er verwickelt war, als CDU-Vorsitzenden ablöste, dann an der FDP, die ihn als Bundespräsidneten verhinderte und Horst Köhler ins Schloß Bellevue einziehen ließ. In seinen Jahren als Abgeordneter verstand es der Mann aus dem Badischen, eine scharf Klinge zu führen, wenn es um Debatten im Hohen Haus ging. Da musste der politische Gegner auf der Hut sein. Seit Jahrzehnten sitzt er im Rollstuhl, weil ihm ein Verrückter in den Rücken schoß, er überlebte nach vielen Operationen. Dieser Wolfgang Schäuble bekennt in seinem Buch „Grenzerfahrungen“, dass er so etwas in 50 Jahren Politik nicht erlebt habe. Die Corona-Pandemie, die immer noch nicht vorbei ist. In seinem Buch schreibt und erörtert Schäuble mit anderen Intellektuellen die Frage, was uns diese Krise lehrt. Es ist ein tolles Buch, gut zu lesen, anspruchsvoll. Eben wie man Schäuble kennt.
Grenzerfahrungen- heißt auch, wir leben mit Grenzen, unser Leben ist begrenzt, Grenzerfahrungen heißt, Rücksicht zu nehmen auf den Nachbarn, dessen mögliche Empfindungen in sein Denken und Handeln einzubauen. Die Pandemie, schreibt Schäuble, „zeigt gnadenlos dort die Grenzen auf, wo wir in den vergangenen Jahrzehnten deregulierend vieles übertrieben haben, wo das unglaubliche Schwungrad des Kapitalismus und der Finanzmärkte überdreht ist- auf Kosten der Resilienz, des Klimas und der Artenvielfalt sowie des sozialen Zusammenhalts.“ Das Corona-Virus hat uns unsere Grenzen aufgezeigt und wir erleben, „dass es uns daran erinnert, dass wir als soziale Wesen auf Beziehungen zu anderen angewiesen sind, auf menschliche Kontakte, auf Gemeinschaft“. Schreibt Schäuble genau das auf, worunter wir zur Zeit leiden, was uns müde macht und das Leben langweilig, weil wir uns nicht treffen können, nicht verabreden, nicht in Urlaub fahren können. Wir sind auf uns allein angewiesen, auf uns zurückgeworfen.
Das Virus hat uns gelehrt, dass „wir Verantwortung tragen, jeder für sich, aber eben auch für andere“. So haben wir ja auch den Unwilligen beigebracht, dass es sinnvoll, ja geboten ist für einen selbst wie für die Nachbarn, den Gegenüber, Masken zu tragen, damit das Virus nicht so leicht übertragen wird. Wie wir an der Krise wachsen können, das ist eine der Lehren, die der Leser immer wieder vor Augen geführt bekommt. In dem Buch wird der großen Bogen gespannt über die Themen der Zeit und die Herausforderungen. Über Demokratie und Freiheit, über Wachstum und Globalisierung, über Migration und vieles andere mehr. Alles hängt mit allem zusammen, wir müssen lernen aus der Krise, dass Krisen und alle wichtigen Fragen nicht national zu lösen sind, sondern nur weltweit, global. Das zeigt uns Corona sehr klar auf. Das gilt auch fürs Klima, für die Artenvielfalt. Wir brauchen dafür und zu ihrem Schutz technologiefreundliches, nachhaltig-innovatives Wirtschaften. Es bedarf einiger Grundregeln des verantwortungsvollen Umgangs auch mit begrenzten finanziellen Ressourcen.
Mehr Gelassenheit
Mehr Gelassenheit könnte uns helfen, empfiehlt uns der Autor, unsere politische Gestaltungskraft zurückzugewinnen. Er mahnt die Einsicht an, „dass gerade die Neigung, Regelungen bis ins Kleinste auszudifferenzieren, die Gefahr des Stillstands birgt.“ Wir erfahren das seit Wochen, weil zuviel Bürokratie uns lähmt und die Effizienz. Dabei geht es auch um die Einsicht in die Grenzen staatlicher Politik, weil Bürger Freiräume brauchen, um sich zu entfalten. Auch der Ruf nach dem Staat ist nicht der Heilsbringer, auch hier plädiert Schäuble für Maß und Mitte. Fehler bleiben nicht aus, sie sind menschlich. „Entscheidend für das demokratische System und das Vertrauen, das die Menschen in dieses System haben, bleibt jedoch, ob und wie wir aus diesen Fehlern lernen.“
Das Buch ist keine Abrechnung mit der Politik von Angela Merkel. An der einen oder anderen Stelle stößt der Leser aber auf Kritik an der Kanzlerschaft der CDU-Politikerin und er benennt deren Fehler, zum Beispiel den Ausstieg aus der Kernenergie als Konsequenz von Fukushima. „Wenn alle in der anderen Richtung fahren, muss man sich schon überlegen, ob man selbst richtig unterwegs ist.“ Er plädiert für AKWs , für den „Bau einer neuen effizienteren Generation von Kraftwerken mit höchsten Sicherheitsstandards.“
Sein Herzensthema ist offensichtlich Europa, die EU. Er fordert ein Kerneuropa, das er vor vielenJahren schon mal mit dem CDU-Außenpolitiker Karl Lamers, einem klugen Zeitgenossen, vorgestellt hatte. Einzelne Staaten sollten hier vorwegmarschieren und die anderen mitziehen. Am Ende sieht Schäuble dann so etwas wie Vereinigte Staaten von Europa, ein „föderatives Europa“, in dem er für eine Verschmelzung der Ämter des EU-Kommissionspräsidenten mit dem des Ratspräsidenten eintritt, direkt gewählt durch eine EU-Wahl und dieser neue Präsident könnte sich dann seine Regierungsmannschaft selbst zusammensuchen.
Krisen haben also- wenn das nicht falsch verstanden wird, weil es immerhin schon über 80000 Tote im Zusammenhang mit Corona gibt- ihren Sinn. Weil sie Druck ausüben. Europa ist ja auch erst gewachsen auf den Trümmern des 2. Weltkrieges, weil Millionen Tote anklagten. Nicht von ungefähr zitiert Schäuble Winston Churchill, der das ja alles miterlebt hatte, den Bombenkrieg, dann den Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland. „Verschwende niemals eine gute Krise.“