Nein, im früheren Westen war nicht alles besser, es war auch längst nicht alles gut im alten Adenauer-Staat, der auch von Menschenhand gemacht war. Manches glänzte, aber war doch vordergründig, oberflächlich, wenn man hinter die Kulissen schaute, sah man die andere Seite der Medaille. Und doch hatten wir im Westen das Glück, nach dem 2.Weltkrieg zufällig auf der richtigen Seite geboren zu sein, wo es sich besser lebte, freier, wo man nicht bespitzelt wurde. Die DDR, daran erinnerte gerade der ostdeutsche Historiker und Schriftsteller, Ilko-Sascha Kowalczuk in einem t-online-Interview, sollte das bessere Deutschland werden, sozial gerecht, anti-faschistisch. So wollte es Walter Ulbricht, der Gründer. Und wie war das Ergebnis? „Die DDR war eine Diktatur. Punkt. Und zwar die Diktatur einer Partei, die den Kommunismus durchsetzen wollte- mit allen Mitteln, zu jedem Preis.“ Sagt Kowalczuk. Der Mann hat Recht. Wer anderes behauptet, will uns im Nachhinein die DDR schönreden, will sie uns verklären. Sie war eine „kommunistische Diktatur, deren sinnfältigstes Bauwerk die Berliner Mauer wurde: Ein Freiluftgefängnis, in dem selbst der Besitz und die Verbreitung unerwünschter Bücher verfolgt werden konnte, in dem der Schulunterricht hochgradig ideologisiert war, in dem es außerhalb von Kirchen keinen Platz gab, der von der Diktatur nicht ausgeleuchtet worden wäre.“ So das Urteil des Historikers Kowalczuk. Und ich könnte ergänzen, dass Kinder in den Kindergärten des sozialistischen Paradieses eine Hymne auf den Massenmörder Josef Stalin singen mussten. „Stalin ist ein guter Mann, der uns allen helfen kann.“ Kindheitserinnerungen, die man nicht vergisst.
Und Kowalczuk räumt auch mit dem „puren Blödsinn“ auf, dass „die SED mit ihrer DDR weit vom Kommunismus entfernt gewesen sei…Wenn das von 1917 bis 1989/91 kein richtiger Kommunismus mit Millionen Toten gewesen ist, dann will ich lieber nicht wissen, was ein richtiger Kommunismus zu leisten imstande ich. Persönlich erleben möchte ich das nicht.“ Die sogenannte Deutsche Demokratische Republik- schon der Begriff ist die reinste Heuchelei- war „ein unfreier Staat, kein Ostdeutscher möchte heute auf Reisen an die schönen Orte weltweit verzichten.“ Doch woher kommt die Kritik an dem neuen Deutschland? „Weil die Gegenwart von ihnen als Zumutung wahrgenommen wird, weil jeder- ganz anders als in der DDR- dazu aufgerufen ist, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen.“(Kowalczuk) Mit Risiko, aber auch mit der Chance zum Gewinn.
Jubel folgte Freiheitsschock
Letzteres könnte eine Erklärung sein für so manches. Dem Jubel und den Freudentränen über den Fall der Mauer, die Zusammenführung von seit vielen Jahren getrennten Familien, den Zugang zum Wohlstand im Westen, zur D-Mark, zu Reisen in alle Welt folgte bald der „Freiheitsschock“, weil man den Job verlieren konnte im Reform-Umbau des sozialistischen Staates, weil man erleben konnte, wie aus den vielfach heruntergekommenen Wohnungen und Häusern unter großem finanziellem Aufwand-die Käufer und Investoren kamen aus dem Westen- schicke Eigentumswohnungen wurden, die man nicht bezahlen konnte. Und alles ging so rasend schnell voran, dass der eine oder andere nicht mitkam, sondern abgehängt wurde und sich überfordert fühlte.
Mehrfach hörte ich bei Gesprächen mit befreundeten Familien im einstigen Ostberlin Klagen, dass wir deren Leben und Leistungen nicht anerkennen würden. Mag sein, dass das passierte, ich für meinen Teil habe dem widersprochen. Auch wenn es mir damals Anfang der 2000er Jahre im neuen Berlin besser ging mit meinen West-Einkünften als vielen Alt-Berlinern, die nicht selten ihre alten Wohnungen in Prenzlauer Berg räumen mussten, weil die neuen Besitzer Mieten verlangten, wie sie im Westen häufig waren und auch bezahlt wurden. Für Leute mit DDR-Vergangenheit unvorstellbar. So hatten sie sich die deutsche Einheit nicht vorgestellt. Dass man sich mit der D-Mark im Grunde alles kaufen konnte, was früher nicht mal im Schaufenster von Ostberliner Geschäften zu bewundern gewesen wäre, das war ein Traum, aus dem man gerissen wurde, wenn einen die Realität einholte. Dafür reichte ein Blick auf das eigene Konto und der Kaufpreis hinter der Windschutzscheibe des glänzenden Autos.
Ich habe die DDR damals kennengelernt, als ich mein Studium an der Freien Universität in den 60er Jahren begann. Die Mauer trennte schon den Osten vom Westen, als Student aus dem Ruhrgebiet war es kein Problem, mal eben in den Ostteil Berlins zu gehen oder zu fahren. Man wurde kontrolliert, West-Zeitungen musste man abgeben. Schikanen zum Beispiel am Bahnhof Friedrichstraße waren der Normalfall. Drüben ein Bier zu trinken, war spottbillig, vor allem, wenn man D-Mark hatte. Per Anhalter fuhr ich gelegentlich nach Hause, was einfach war, weil man in Westberlin an der Grenze zur DDR leicht einen Fahrer erwischte, der einen gern mindestens bis Hannover oder hin und wieder bis Dortmund mitnahm. Fuhr man in einem VW, dann war die Kontrolle eher beiläufig, wurde man in einem Mercedes mitgenommen, wurde gefilzt, das Gepäck musste aus dem Kofferraum genommen werden, die Sitze im Wagen wurden geprüft, ob da nicht jemand als Flüchtling unterwegs war, den man ja gemeinhin als Staatsfeind betrachtete, weil sie ihr Glück nicht mehr im Arbeiter- und Bauernstaat sahen, sondern es im Westen suchen wollten.
Das andere Deutschland? Mit Mauer Stacheldraht, Todesstreifen, Schießbefehl, der Stasi, die in meinen Augen eine kriminelle Vereinigung im Auftrag des SED-Staates war, die alles bespitzelte, was ihr fremd oder mehrwürdig vorkam, ein Staat, der um des Erfolgs willen junge Sportler dopen ließ, ein Staat ohne freie Wahlen und ohne Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, mit Frauengefängnis Hoheneck und einem anderen Gefängnis namens Hohenschönhausen-alles das soll kein Unrechtsstaat gewesen sein? Das ist keine Kritik an den Bewohnern der DDR, sondern am SED-Staat. An manchen Schönschreibungen waren wir beteiligt, weil wir sie mitmachten. Als es einst, Jahrzehnte ist es her, die erste Boutique in Berlin-Hauptstadt der DDR gab, wurde sie bestaunt wie ein Weltwunder. Die Menschen, auch wir aus dem Westen, drückten uns die Nase platt am Schaufenster. Ehrlich gesagt hatte diese Boutique das Niveau eines Second-Hand-Ladens. Die DDR-Medien, Neues Deutschland u.a., kritisierten vielfach die Neonazis in der BRD, deren faschistisches Treiben. Falsch war das nicht, nur dass es auch in der DDR Neonazis gab, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, das verschwieg man offiziell, später, nach dem Fall der Mauer, wurde das Bild gerade gerückt. Die Stasi hatte die Neonazis auf dem Schirm und meldete sie Mielke, ein Thema für die Öffentlichkeit war es nicht. Ach ja, Schwamm drüber? Ehemalige SS-Leute in der DDR durften, Mauer hin oder her, mit Genehmigung zu Treffen von Altnazis in den Westen reisen. Das gehörte wohl zur Faschismus-Bekämpfung dazu.
Die friedliche Revolution war ein Werk weniger, mutiger Zeitgenossen aus Leipzig, Ostberlin oder woher aus immer, die meisten DDR-Bürger standen lieber hinter den Gardinen ihrer Wohnzimmer und beobachteten die Szene. Es war keine Revolte der Masse. Und wer heute fragt, wie denn die 30-Prozent bei den letzten Wahlen für die in weiten Teilen rechtsextreme AfD zustande gekommen seien, erfährt oft, dass dies auch Ergebnis des Frustes sei über die Einheit, von der viele nichts gehabt hätten. Das wage ich nicht zu beurteilen, ob das nicht auch Klagen sind auf hohem Niveau. Kürzlich bezifferte jemand die Kosten des Vereinigungsprozesses auf eine Billion Euro. Das Ruhrgebiet wäre froh, wenn der Staat mal eine Billion in die Infrastruktur der Städte Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund stecken würde, um nur die zu nennen. Aber da wird das Revier enttäuscht zurückbleiben, denn der Staat hat ja nicht den Plan umgesetzt, die Städte des Reviers von den Altschulden zu entlasten, Schulden, die sie unendlich drücken und ein Ergebnis des Endes des Kohle-Zeitalters sind. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat dies vor Jahr und Tag verhindert. Man muss sich das mal vorstellen, dass Städte wie Oberhausen, die buchstäblich auf dem letzten Loch pfeifen, gezwungen waren , Kredite aufzunehmen, um sich an den Kosten der deutschen Einheit zu beteiligen. Ungleiche Welt, oder? Ich weiß von führenden Politikern aller Parteien, die sich darüber beschwerten, dass ihre Ost-Kollegen forderten und forderten. Wer da Bedenken anmeldete, galt sofort Als Gegner der Einheit. Die Politiker schluckten es runter, die Faust blieb in der Tasche.
In der „Süddeutschen Zeitung“ las ich vor kurzem ein langes Interview mit Christa Nickels, Gründungsmitglied der Grünen, und Gabriele Stötzer, deren Leben bis zur Wende 1989 in den Stasi-Akten festgehalten wurde. Sie wurde überwacht mit dem Ziel, sie als „feindlich-negative Kraft“, als Mensch und Künstlerin zu zerstören. Ein Jahr war sie im Gefängnis Hoheneck, verurteilt, weil sie den Aufruf gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnet hatte. Ein Arbeiter-Kind, eine Künstlerin aus Emleben bei Gotha, die das Abitur nachholte, um Deutsch und Kunsterziehung zu studieren und die aus politischen Gründen exmatrikuliert wurde. Ein Rechtsstaat? Und die auf die Frage, was von der DDR-Vergangenheit noch unterm Teppich liege, antwortete: „Ihr müsst wissen, dass von der ganzen Riege dieser Stasi-Angestellten, egal ob offizielle oder inoffizielle Mitarbeiter, keiner jemals zur Verantwortung gezogen worden ist. Die wenigsten sind hinterfragt worden. Die wurden Sicherheitskräfte, Taxifahrer, Immobilienmakler. Ich kenne keinen, wo mal eine Anklage durchkam, weil sie ja nach DDR-Gesetzen gehandelt hatten. Stellt euch diese Masse an Verbrechern vor! Zigtausende, die die Leute ins traumatisierte Schweigen trieben, ins Gefängnis brachten, auch mich. Mielke ist als einziger verurteilt worden, weil er 1931 zwei Polizisten erschossen hat- nicht etwa für seine Verbrechen in der DDR. Das ist dieses Weicheiförmige. Dieses Ungrade. Dieses Mutlose: Man hat sich dieser Diktatur nie wirklich gestellt.“
Opposition-das waren wenige
Klare Worte einer Frau, die das DDR-System in all seinen Facetten erlebt und erlitten hat. Und Frau Stötzer antwortet auf die Frage, ob sich das, 35 Jahre nach dem Fall der Mauer, jetzt räche:? „Mir kommt es so vor, als wenn sich diese AfD–Leute, egal ob aus dem Westen oder aus dem Osten, als wenn die sich wie die Revoluzzer fühlen, die Widerständler, die Deutschland retten und alles verändern wollen, die gegen alles sind. Im Osten kommen jetzt die nach oben, die damals in der DDR die Fresse gehalten haben, die nie etwas gesagt, aber nett profitiert haben. Die Mitläufer, das war die Masse. Die Mut aufbrachten, die Opposition, das waren wenige“.
„Mal überspitzt“, lese ich in der SZ die nächste Frage, „Zigtausende unbestrafte Stasi-Leute und deren Nachkommen, unzählige Mitläufer wollen heute die Demokratie zum Einsturz bringen und autokratische Strukturen zurück?.“ Stötzer: „Wenn ein Unrecht nicht gesühnt wird, bleibt es da. Und das formiert sich wieder. Dieses Reaktionäre. Die Verbrecher gibt es heute noch, die leben ja- wie ihre Opfer. Und dann gibt es wieder welche, die merken, dass man so etwas immer wieder machen kann. Und die gehen bis an die Grenze, und die lügen einfach, und die unterstellen den anderen was Böses, obwohl sie selber böse sind.“ Und Frau Stötzer betont am Ende eines lesenswerten Interviews: „Das Unrecht muss benannt und gesühnt werden. Das steht noch aus.“
Der 3.Oktober ist ein Feiertag. Tag der deutschen Einheit. Man wollte den 9. November nicht als Feiertag nehmen, weil mit diesem Tag auch andere historische Ereignisse verbunden werden, darunter die Reichspogromnacht der Nazis 1938, als SS- und SA-Horden auf Geheiß von Goebbels fast alle Synagogen in Deutschland anzündeten, die Läden plündern ließen, die Inhaber wurden verprügelt, angespuckt, verhöhnt, in die Konzentrationslager verschleppt, viele jüdische Geschäftsinhaber ermordet. Also der 3. Oktober. Die zentrale Kundgebung ist in diesem Jahr in der Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin. Feierlich wird es zugehen, wie immer. Trotz der Risse, die durch Deutschland gehen, der vielen Unterschiede zwischen Ost und West. Auch 35 Jahre nach dem Fall der Mauer können wir nicht einstimmen in den Spruch: Deutschland einig Vaterland. Was ja auch nicht verwunderlich ist. Die DDR und die BRD waren über Jahrzehnte gegeneinander gerichtete Staatsmodelle, die ihre Identität eben daraus bezogen, dass jeder der beiden Staaten eben ein anderer ist. Anders eben und auch die DDR legte größten Wert darauf und betonte das bei jeder Gelegenheit, auch wenn manches Gelöbnis und Bekenntnis geheuchelt war.
Der Westen ist nicht die Norm
Nun ist Anderssein kein Merkmal nur zwischen den beiden ehemaligen Staaten, also zwischen Ost und West. Wer die Bundesländer bereist, wird feststellen, dass der Ostfriese anders ist als der Berliner, der Hamburger unterscheidet sich vom Ruhri, der Rheinländer vom Württemberger, der Schwabe vom Hessen, nicht zu vergessen die Bayern, die sich von allen unterscheiden. Das meine ich nicht negativ. Aber die Bayern- ich meine alle Bayern, Ober- und Niederbayern, Ober-, Mittel und Unterfranken, Schwaben, Allgäuer- treiben das Exklusive so weit, dass sie sogar eine eigene Partei haben, die CSU, die den Freistaat seit Menschengedenken regiert, eine regionale Partei, die es nur in Bayern gibt, die aber bundes-, um nicht zu sagen weltpolitische Ansprüche stellt. Das Anderssein drückt sich in den Dialekten aus, in den Landschaften, in der Art zu leben und zu wohnen. Hin und wieder sogar in den Gehältern. Das alles ist es nicht, was mit Ost und West und dem Anderssein gemeint ist.
Wir müssen begreifen, dass weder der Westen die Norm ist, nach der wir leben wollen, und natürlich auch der Osten nicht das sein kann, was man als Maßstab des Ganzen nennen würde. Gerade die Abweichungen sind doch das, was die Länder und ihre Bewohner aus- und kennzeichnet, das Besondere eben. Die eigene Identität ist nicht das Vorbild für den Nachbarn und nicht der Maßstab. Auch wenn hin und wieder ein solcher Anschein entsteht. Zuhören können, was der andere sagt und tut, könnte helfen, einander besser zu verstehen und nicht aneinander vorbeizureden. Einander achten und aufeinander achten, wäre ein Zeichen von gegenseitigem Respekt. Toleranz ist der Begriff, der in den letzten Monaten immer wieder bemüht wurde in den Debatten über den Umgang mit der AfD. Wobei klar sein muss: Keine Toleranz der Intoleranz, wurde Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, zitiert. Will sagen, keine Toleranz den Feinden der Verfassung.
Darüber sollten sich die Demokraten aller Parteien einig sein. Gerade am Tag der deutschen Einheit.