Wie Konflikte in einen gewaltsamen Austausch umschlagen, wissen wir. Mittel sind Zweierlei: Tunnelblick; und draufsatteln. Akademisch formuliert:
- Nur auf den Gegner fokussieren, die Mitbeobachtung des eigenen Verhaltens ausschalten;
- Eskalieren, bloss nicht einhalten noch gar „nachgeben“.
Der höchst bedrohliche Truppenaufmarsch Russlands im Westen des Landes, nicht weit von der Ukraine entfernt, ist ein Element einer solchen Eskalationsspirale. Der von einer US-Maschine provozierte Beinahe-Zusammenstoß mit einem russischen Zivilflugzeug, der an den skandalösen und skandalisierten umgekehrten Vorgang im Dezember 2014 erinnert, ist es ebenso – in beiden Fällen meinten die Militärmaschinen ihren Transponder ausschalten zu müssen. Die asymmetrische Skandalisierung beider Vorfälle in Russland und im Westen zeigt den medial poduzierten Tunnelblick. Dass einer mit der Faust zuschlägt, kann jederzeit geschehen – Anlässe werden sich genügend bieten. Auch der Schwächere kann dies provozieren, in der Erwartung, dass sein „Großer Bruder“ ihm dann hilft.
Das Laufen-Lassen dieser Situation ist offizielle Politik des Westens – das jüngste Treffen der G7-Außenminister sandte die Botschaft „Wir stehen zusammen und verteidigen uns“. Dagegen, gegen Tunnelblick sowie in-der-Spirale-Verbleiben, wendet sich ein Aufruf, der von rund 30 Personen unterzeichnet ist. Dominant unter ihnen sind Ex-Diplomaten und Ex-Militärs, die in ihrer aktiven Zeit intensiv mit dem Verhältnis zu Russland und dem Ukraine-Konflikt befasst waren. Gernot Erler, ehemaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt mit Russland-Portefeuille, hat sich dem konstruktiven Vorschlag der Gruppe angeschlossen.
Die Erfahrung aus der Auflösung des Kalten Kriegs ist, dass Rüstungskontrollverhandlungen dazu als Vehikel genommen wurden – und das war erfolgreich. Dazu mag beigetragen haben, dass die „Erbsenzähler“, die man dann verhandeln lassen muss, nicht so leicht ideologiesierbar sind wie die Generalisten, die üblicherweise den Ton angeben. In diesem Sinne, mit Schwerpunkt bei den rüstungskontrollpolitischen Aufgaben, die sich die Koalition ins Stammbuch geschrieben hat, hat sich am 1. Dezember 2021 der Vorstand des Willy-Brandt-Kreises der SPD zum außen- und sicherheitspolitischen Teil des Koalitionsvertrages geäußert.
Apropos „Generalisten“. Die Ideologisierung der Außen- und Sicherheitspolitk Deutschlands wurde repräsentativ betrieben, erkennbar gegen die Intention der lame duck Bundeskanzlerin, von zwei Personen in der Regierung der Großen Koalition: Dem Außenminister von der SPD und der Verteidigungsministerin von der CDU. Außenminister Maaß hat sich verabschiedet mit einer Rede, in der er zum Konflikt mit Russland kein Wort gesagt, seinem Pressechef aber mit den Worten gedankt hat „Für den positiven Teil meines Bildes in der Öffentlichkeit bist Du verantwortlich. Für den Rest ich.“ Frau Kramp-Karrenbauer hat den Abschied ganz anders gestaltet als sämtliche andere Ressortchefs – ohne öffentliche Sichtbarkeit. Sie ist auf dem Absprung einer Bewerbung um die Nachfolge als NATO-Generalsekretär(in), dessen Amtszeit mit September 2022 ausläuft. Was mag das Motiv hinter den Entscheidungen beider gewesen sein, sich so offensichtlich vom außenpolitischen Kurs der Bundeskanzlerin abzuwenden?
Das einzige, was mir zur Erklärung einfiel, ist das allianzpolitische Optionen-Dilemma, welches nun einmal besteht. Offenkundig ist, dass die USA entschieden sind, gegen China und Russland anzutreten. Das ist überparteilicher Konsens, das wird sich auch mit einem Machtwechsel im Weißen Haus und/oder im Kongress nicht ändern. Die lame duck im Bundeskanzleramt mochte sich noch dagegen stemmen, für die jüngeren Kabinettsmitglieder war das ohne Aussicht. Sie entschieden sich realistisch, aber eher kleinmütig, an die Seite der USA zu gehen – deswegen verpulvert das größte deutsche Marineschiff gegenwärtig viel Geld und Treibstoff mit der Teilnahme an Manövern im Pazifik.
Es scheint, dass die SPD-Seite in der neuen Regierung an diese defaitistische Tradition ihres Außenministers nicht anknüpfen will, eher an Willy Brandts Politik des Versöhnens und Integrierens. Das ist nicht irreal hoffnungsvoll. 2024 nämlich weil in den USA mit hoher Wahrscheinlichkeit ein „Trump-artiger“ nächster Präsident werden wird – das US-Wahlsystem mit seinen Manipulationsmöglichkeiten ist bestens modellierbar, dieses Ergebnis ist deshalb recht präzise abzuschätzen, vergleichbar mit der Modellierung des kommenden Klimawandels. Mit der „westlichen Wertegemeinschaft“, die gegen die „autokratsichen Regime“ eine Front bildet, ist es dann vorüber.
Bildquelle: Rawife via Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0