Minsk. Maja und Frieda sind ziemlich beste Freundinnen. Sie teilen das gleiche Schicksal: Beide erlebten in ihrer Kindheit das Grauen des Minsker Ghettos. Doch an der zentralen Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, die erst jetzt, sieben Jahrzehnte danach, in Weißrussland entstehen wird, scheiden sich ihre Geister.
Das Thema bringt sie richtig in Rage. Die betagten Frauen, beide 78 Jahre alt, als wir ihnen in der Geschichtswerkstatt in Minsk zum Gespräch begegnen, geraten in einen heftigen Disput. „Alles nur Symbole“, wettert Frieda, die das von Staatschef Alexander Lukaschenko soeben auf den Weg gebrachte Vorhaben für vollkommen überflüssig hält. „Symbole sind nicht lebendig“, bekräftigt sie ihren Standpunkt.
Die insgesamt elf Millionen Euro, die als Kosten für mehrere Bauabschnitte veranschlagt sind, sähe Frieda lieber in das Leben investiert, in Unterstützung für die Überlebenden, die Angehörigen der Opfer, die Zeitzeugenarbeit in der Geschichtswerkstatt. Doch Maja widerspricht energisch. „Die Gedenkstätte hätte längst gebaut werden müssen“, sagt sie, „nicht erst nach 70 Jahren.“
Eine Stätte, wie sie nun in Trostenez und Blagowschtschina nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk in Planung ist, „verewigt das Andenken der Opfer“, sagt Maja. Zugleich mahne ein solcher Ort die kommenden Generationen.. „Die müssen doch über den Holocaust Bescheid wissen“, redet sie auf ihre Freundin ein.
„Nie wieder“, darauf reichen sich Maja und Frieda versöhnlich die Hand, „nie wieder darf so etwas geschehen.“ Dieser Wunsch eint auch all die Mitstreiter in Deutschland, die eine Gedenkstätte für die im Vernichtungslager Trostenez ermordeten Juden, Zwangsarbeiter und Widerstandskämpfer zu ihrem Anliegen gemacht haben. Auf Initiative des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) Dortmund haben sie Spenden gesammelt, Gespräche geführt, Pläne entworfen und Unterstützer gewonnen.
Bundespräsident Joachim Gauck stellte sich ebenso hinter das Vorhaben wie Kirchengemeinden und Vertreter jener sechs deutschen Städte, aus denen die Deportationszüge Anfang der 1940er Jahre mit Ziel Trostenez losfuhren: Köln, Düsseldorf, Berlin, Frankfurt, Hamburg und Bremen. Auch aus Österreich und Tschechien kam Rückenwind. Nirgendwo sind so viele österreichische Juden von den Nazis ermordet worden, wie in Trostenez; Tausende schickten sie aus dem KZ Theresienstadt im heutigen Tschechien nach dort in den sicheren Tod.
Planvolle, massenhafte Vernichtung menschlichen Lebens. Erschossen, vergast, bei lebendigem Leib verscharrt. Die Opferzahlen schwanken zwischen 60 000 und 250 000. „Wir kennen die Namen nicht“, sagt Maja während des Gesprächs in der Minsker Geschichtswerkstatt. Auf Initiative des IBB begegnen sich dort; in dem kleinen Gebäude am Rande des ehemaligen Ghettos, Überlebende sowie ehemalige Zwangsarbeiter und Partisanen. Sie sprechen über ihre Erlebnisse, berichten in Schulklassen, gestalten Ausstellungen und unterstützen Historiker bei ihren Forschungsarbeiten.
Tausende Namen sind heute bekannt. Vertreter aus den sechs deutschen Städten haben sie nach Minsk gebracht. Die neue Gedenkstätte soll den Opfern ihre Namen zurückgeben, eingemeißelt in Stein. „Bücher können verbrannt werden“, sagt der Ghetto-Überlebende Wladimir Trachtenberg, „Steine nicht.“
Der 76-Jährige kommt regelmäßig in die Geschichtswerkstatt. Dort ist ein Ort, an dem das bleierne Schweigen endlich gebrochen wird. Jahrzehntelang haben die Minsker Juden ihre Trauer stumm ertragen. Ihr Schicksal kam in der offiziellen Gedenkkultur der Sowjetunion nicht vor. Die Würdigung der ruhmreichen Taten der Roten Armee ließ einer Aufarbeitung der Schicksale von Juden und Zwangsarbeitern keinen Raum. „Ich habe all die Jahre nicht über die schrecklichen Erlebnisse im Ghetto sprechen können“, sagt Frieda, die nun von ihren Eltern und Brüdern, von den großen Pogromen und einzelnen Erschießungen berichtet, die sie als Kind mit ansah. „Ich wusste einfach nicht, ob ich das wirklich erlebt hatte. Niemand sprach darüber.“ Erst in der Geschichtswerkstatt hat sie das Vertrauen auf die eigene Erinnerung und ihre Stimme wiedergefunden.
Auf dem Fußweg zur Jama, einer Grube, in der die Deutschen Ghettobewohner zusammentrieben, um sie zu erschießen, spricht eine angehende Historikerin aus der Geschichtswerkstatt über das grausame Tabu. Nur wenige Monate nach der Befreiung wurde an dem blutgetränkten Ort ein Denkmal für die Opfer errichtet, doch wenn in den folgenden Jahren die Juden dort ihrer Angehörigen gedenken wollten, störten die Behörden ihre Zeremonie lautstark, trieben die Versammelten auseinander und verhinderten fortan weitere Zusammenkünfte.
Inzwischen, nach dem Zerfall der Sowjetunion, ist die Jama ein respektierter Gedenkort. Der Anfang 2014 verstorbene Architekt Leonid Lewin entwarf ein Denkmal, das den Weg der Elenden hinab in die Grube symbolisiert. Von ihm stammt auch der Entwurf für die Gedenkstätte Blagowschtschina im Wald bei Trostenez. Dieses Teilstück liegt den zivilgesellschaftlichen Mitstreitern aus allen beteiligten Ländern besonders am Herzen. Sie wollen das Projekt gemeinsam voranbringen und so eine europäische Gedenkkultur stiften, die sowohl die Klassifizierung der Opfergruppen als auch die Nationengrenzen überwindet.