Morgen soll das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ (GVWG) im Deutschen Bundestag verabschiedet werden. Es ist ein Paragraphen- „Container“ mit unterschiedlichen neuen Regelungen und Vorschriften. Es ist in manchen Teilen das wohl schlechteste Gesetz, welches die „Legislativ- Fabrik“ der großen Koalition verlässt. In der Hauptstadt pfeifen es daher die Spatzen daher von den Dächern: Die nächste Bundesregierung wird das Thema Gesundheitsversorgung und darunter vor allem Lage sowie Perspektive von gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung erneut aufrufen; aufrufen müssen.
Erstaunlich. Nach Ulla Schmidt (SPD) war mit Jens Spahn ein Gesundheitspolitiker an die Spitze des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) gelangt, der wie die Sozialdemokratin 2000 von Beginn der Amtszeit an ein hohes Arbeitstempo vorlegte. 20 Gesetze binnen anderthalb Jahren. Beitrags- und Steueraufkommen schienen für Spahn so ergiebig zu sein, dass sich auftürmende Folgekosten keine große Rolle spielten. Jens mit dem Goldesel.
Zwischen Schmidt und Spahn amtierten Rösler und Bahr (beide FDP) sowie Hermann Gröhe (CDU). Die lebten gesundheitspolitisch im Wesentlichen von den Strukturreformen der Jahre 2000 bis 2009 und den mühsam erzwungenen positiven Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung. Gröhe setzte in der Pflege um, was bereits 2009 im Kabinett erörtert worden war.
Spahns wirkte zunehmend anders, als äußere Umstände, darunter auch die Pandemie seine Grenzen als Macher an der Spitze des BMG offen legten. Die beginnende Pandemie erforderte operative Fähigkeiten und Umsicht, das gekonnte managen neuartiger Aufgaben, ein Können, das Spahn fehlt. BKK-Vorstand Franz Knieps zusammenfassend über Spahns Politik: „Wer am lautesten schreit und geschickt lobbyiert, bekommt den größten Batzen. Wie anders ist die Maskenverteilung über die Apotheken zu einer überzogenen Vergütung von sechs Euro pro Stück zu erklären, während der Discounter nebenan das gleiche Produkt für ein Euro anbietet. Der zeitweilige Finanzpolitiker hat die öffentlichen Kassen geleert. Ab 2022, wenn der Big Spender zu neuen Ufern aufgebrochen ist, wird die Rechnung präsentiert.“
Soziale Sicherungssysteme wie die gesetzliche Krankenversicherung haben einen eigenen Rhythmus. Sie sind dynamisch angelegt
- wegen des voranschreitenden medizinischen Fortschritts,
- wegen der Innovationen und neuartiger Medikamente mit verbesserten Wirkungsweisen,
- wegen der demographischen Entwicklung,
- also wegen ständiger Anpassungen an sich ändernde Verhältnisse.
- Die sozialen Systeme für Gesundheit und Pflege erfordern heute teils neue Finanzierungsgrundlagen.
- Ambulante und stationäre Versorgung müssten auf der Grundlage digitaler Informationsverarbeitung stärker vernetzt werden.
- Die Spezialisierung von Krankenhäusern müsste voran gebracht werden.
- In vielen Betätigungsfeldern ändern sich fachliche Kompetenzen.
- Die Kommunen müssen auf neue Rollen der Zusammenarbeit mit Leistungserbringern vorbereitet und trainiert werden.
- Das analoge und mit Papier verbundene Arbeiten verschwindet langsam.
- In vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung herrscht permanente Personalnot.
Und Minister Spahn ließ sich in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode viel Zeit. Er legte Ideen vor, produzierte Eckwerte, beauftragte Professoren, magerte Entwürfe wieder ab, um am Ende ein kleinteiliges Gesetz vorzulegen, das wesentliche Probleme einfach missachtet.
Insbesondere im Bereich der Pflegeversicherung hinterlässt Spahn extrem schwierige Verhältnisse: Sein Gesetz setzt die von der großen Koalition zwischen 2005 und 2009 beschlossene Dynamisierung des Leistungsbeitrags einfach aus. 2021 hätte dynamisieret werden müssen. Spahns Gesetz enthält keine neue Regelung zur Finanzierung von Renten- Anwartschaftszeiten für pflegende Angehörige. Die Pflegenden bezahlen die Alterssicherung während der Pflege selber. Die notwendige, vollständige Finanzierung von Tarifentgelten im Bereich der Altenpflege bleibt aus. Die Tagespflege rutscht langsam in eine offenkundige Unterfinanzierung. Die Entlastung der Pflegebedürftigen in den Heimen von horrenden und steigenden Eigenanteilen ist eine Art Nullnummer: aus der linken Tasche wird die Entlastung bezahlt, die rechte Tasche bezahlt die Entlastung. Es ist offenkundig: Das Gesetz ist dem Zwang unterlegen, ein angekündigtes Vorhaben in der laufenden Legislaturperiode zu einem Ende zu bringen. Es gibt einzelne neue Regelungen, wie die nun auf den letzten Drücker gegen Spahns Absicht durchgesetzte Finanzierung der Begleitung von Behinderten im Krankenhaus. Endlich. Aber Antwort auf die aktuellen, brennenden Probleme gibt das Gesetz nicht.
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