„Nichts wird so fest geglaubt wie das, was man am wenigsten weiß“ – der Aphorismus von Michel de Montaigne beschreibt treffend, wie unser Land letztes Jahr der Corona-Pandemie begegnete… und leider oft nach wie vor begegnet. Politik und Medien bleiben weit hinter dem zurück, was man auf Basis der vorhandenen Daten lernen kann über die Wirksamkeit der verschiedenen Lockdown-Maßnahmen. Deutschland hat sich im Blindflug eingerichtet.
Jetzt zeigt eine neue Studie des Datenanalyse-Startups HASE & IGEL zur Wirksamkeit der Lockdown-Maßnahmen im Gesamtjahr 2020 deutlich, dass das Mantra „…aber wir wissen es leider nicht“ in dieser Form unhaltbar ist und die vorhandenen Daten bei allen Schwächen doch handlungsrelevante Schlüsse für eine zielgerichtete Corona-Politik zulassen.
Die Bereitschaft, sich an den Ergebnissen messen zu lassen, ist jedoch bisher insbesondere in der Bundesregierung gering ausgeprägt. Es ist höchste Zeit, nicht nur auf Virologen, sondern auch auf Statistiker und Sozialwissenschaftler zu hören. Denn deren Erkenntnisse können ebenfalls Leben retten.
Das Corona-Experiment: Augen zu und durch
Seit über 100 Jahren war Deutschland mit keiner Krankheitswelle ähnlichen Ausmaßes konfrontiert gewesen, zumal es sich hier um eine noch weitgehend unbekannte Krankheit handelte. Dementsprechend existierte hierzulande kaum eine Erfahrungs- oder Datenbasis für ein evidenzbasiertes Vorgehen, keine Einsicht in die effektivsten und effizientesten Maßnahmen.
Ein Blick ins Pandemie-erprobte Ostasien hätte diesen Mangel an Erfahrung kompensieren können, zumal auch etliche westliche Risiko- und Krisenexperten bereits früh präzise Szenarien u.A. zur Bedeutung von Kontaktnachverfolgung, der dafür nötigen Zahl an Tests und den Potenzialen von FFP-Masken veröffentlichten. Doch die Bundesregierung – ja, der Großteil der westlichen Welt – schlug entsprechende Beratungsangebote, z.B. aus Taiwan und Korea, weitgehend aus und beschloss, quasi von null aus die eigenen Erfahrungen zu machen.
Dass das Prinzip „Versuch und Irrtum“ gerade zu Beginn der Lernkurve oft schmerzt, war Allen früh bewusst. Leitgrößen wurden im Wochenrhythmus gewechselt, Kosten jenseits derer der Wiedervereinigung hingenommen, unkalkulierbare soziale und psychologische Nebenwirkungen akzeptiert. Immer im kollektiven Bewusstsein: Es ist für uns Alle das erste Mal und im Nachhinein ist man immer schlauer. Gesundheitsminister Spahn prägte dazu das treffende Diktum, man werde einander in naher Zukunft viel zu verzeihen haben.
Trotz aller Bruchlinien in der Gesellschaft wurde diese Haltung weitgehend parteiübergreifend geteilt – der Vertrauensvorschuss war ebenso groß wie die Leidensbereitschaft. Widerworte und Widerwille begannen erst hervorzutreten, als nach der ersten Welle scheinbar nicht die nötigen Schlüsse gezogen wurden und als die zweite Welle sich auftürmte das bestimmende Narrativ immer noch lautete: „Wir wissen es nicht besser.“
Mit ebenso viel Nachdruck, wie noch im Frühherbst fast jeder Minister betonte, einen pauschalen Lockdown wie im Frühjahr dürfe es nicht wieder geben, wurde im Spätherbst ein solcher verhängt – und seitdem zum Dauerzustand, von punktuellen Lockerungen durchsetzt. Dabei kippt die Stimmung in Politik und Gesellschaft zunehmend im Lichte der immer offenkundigeren wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Schäden – und der Fassungslosigkeit über einen Kapitän, der sich darauf beruft, leider kein Radargerät zu besitzen.
Der blinde Fleck: Warum Statistiker die Monokultur der Virologen durchbrechen müssen
Niemand geht freiwillig in einen politischen „Shitstorm“, der seine Chancen bei der Bundestagswahl dramatisch reduziert. Man muss also davon ausgehen, dass die Beteuerungen ernst gemeint sind: dass sich die Exekutive in der Tat außer Standes sieht, die Corona-Bekämpfung mit mehr Augenmaß zu steuern, weil sie nicht weiß, welche Maßnahmen welchen Beitrag dazu leisten.
Unter Datenanalysten kann man hierüber jedoch nur fassungslos den Kopf schütteln. Denn so verworren die Situation auch sein mag – so groß ist inzwischen auch der angehäufte Daten- und Erfahrungsschatz. Gerade die Vielfalt, der Zickzack-Kurs und das föderale Durcheinander der verhängten Maßnahmen hat aus Deutschland ein Reallabor gemacht, mit hinreichend hoher Varianz (einfach ausgedrückt: Schwankungen in den Daten) um fundiert zu untersuchen, wie sich eine Maßnahme auf die Infektions- und Todesfallzahlen auswirkt.
Während die Studie von HASE & IGEL die erste dieser Art für Deutschland ist, hat bereits im Februar eine Untersuchung der University of Oxford auf höherer Flughöge – oberflächlicher und nur für die 1. Welle, dafür länderübergreifend – gezeigt, dass diese Art von Schlüssen möglich ist. Doch während beispielsweise Karl Lauterbach solche Ergebnisse aufgreift, werden sie in Regierungskreisen nach wie vor ignoriert.
Es wäre kurzsichtig, hier bösen Willen zu unterstellen – eher handelt es sich um ein Phänomen, das in der Psychologie als „Groupthink“ bekannt ist: eine Gruppe, die unter hohem Druck in der immer gleichen Konstellation zusammenarbeitet, neigt dazu, sich in einmal eingeschlagene Denkwege einzugraben und Alternativen ungeprüft vom Tisch zu wischen.
Ich spreche von der absoluten Fixierung auf die Virologie. Die Regierung – und letztlich die gesamte Gesellschaft – hat gelernt: Virologen können binnen kürzester Zeit einen neuen Virus so gut beschreiben, dass wir seine Verbreitung vorhersagen und erfolgreiche Impfstoffe entwickeln können. Diese Meisterleistung führt zu einer schon fast religiösen Heilserwartung: Man geht nun davon aus, dass Virologen alle weiteren Fragen zur Pandemie und ihrer Eindämmung ebenso bravourös beantworten.
Ein tragischer Fehlschluss, denn Virologen sind unverzichtbar, um die Eigenschaften neuer Mutanten zu bewerten – doch weder von ihren Erfahrungen noch von ihren Methoden her ausgestattet dafür, die politisch wohl dringlichste Frage zu beantworten: welche der verhängten politischen Maßnahmen außerhalb des Labors wie gut wirken.
Hier geht es um Verhaltensänderungen vieler Menschen und deren Auswirkungen auf eine „Kriteriumsvariable“, in diesem Fall die Infektions- und Todesfallzahlen. Solche Zusammenhänge zu berechnen und bewerten ist die Domäne von Sozialwissenschaftlern, Statistikern und Modellierern. Dass bereits die Bezeichnung „Sozialwissenschaftler“ in der Pandemie etwas Abwertendes bekommen hat, das bestenfalls zum Platz am Katzentisch berechtigt, ist daher ein kardinaler Fehler.
Bereits die erste Pionier-Studie schafft ein hohes Maß an Aufklärung
Wie wichtig und wie überfällig es ist, endlich die zahllosen Daten aus dem Feld für mehr zu nutzen als lediglich bunte Visualisierungen in Onlinemedien, zeigt die HASE & IGEL Studie: Bewusst wurde ausschließlich auf offizielle und öffentlich verfügbare Daten deutscher Behörden (RKI, Landesregierungen, Bundesregierung) zugegriffen, ohne komplizierte Indizes und Modellannahmen mit eben diesen Daten gearbeitet und verhältnismäßig einfache Statistik getrieben, die sich für jeden versierten Bachelor-Studenten nachprüfen lässt.
Dennoch konnte diese – explizit als „explorativ“, also als erste Sondierung bezeichnete – Untersuchung bereits knapp 40 Prozent der Schwankungen in den Corona-Todesfällen 2020 aus den Lockdown-Maßnahmen erklären, auf höchstem Signifikanzniveau (also mit extrem geringer Fehlerwahrscheinlichkeit). Angesichts dessen, dass bekannter Weise Wetter und Temperatur ebenfalls einen starken Einfluss haben und dass die bisherigen Maßnahmen einen Elefanten im Raum – den Arbeitsplatz – weitgehend ausklammern, ist das ein überraschend hohes Maß ans Aufklärung. Und es markiert nur den Anfang – HASE & IGEL selbst weist in der Studie auf weitere sinnvolle Untersuchungen hin, mit denen noch mehr Klarheit geschaffen werden könnte.
Zwar hat die HASE & IGEL Studie derzeit noch keinen formellen peer-review Prozess durchlaufen, doch die internationale Oxford-Studie konnte mit der weitgehend gleichen Methodik bereits das renommierte Wissenschaftsmagazin Science überzeugen. Im Gegensatz zu dem, was noch letzte Woche bei Lanz erneut allseits vorgebracht wurde – „aber wir wissen es doch Alle nicht“ – ist also erwiesen, dass man es wissen kann… wenn man will. Und wenn man bereit ist, über den Tellerrand der Virologie hinauszublicken.
Es wird transparent, welche Lockdown-Maßnahme wie viel Erfolg zeigt. Manches davon birgt großen Sprengstoff.
Dabei lassen die Ergebnisse nicht nur pauschale Aussagen darüber zu, ob „der Lockdown wirkt“. Insbesondere die HASE & IGEL Studie ermöglicht für viele Maßnahmen klare Schlüsse, ob und wie stark diese Maßnahme dazu beigetragen hat, Infektions- und Todesfälle zu vermeiden.
Die Ergebnisse dürften in Berlin für ebenso viel Genugtuung wie Aufruhr sorgen. Denn während die in der Regel am Schnellsten und Längsten verhängten Maßnahmen – die Schließung von Gastronomie, nicht-lebensnotwendigem Einzelhandel sowie private Kontaktbeschränkungen – starke, positive Hebelwirkung entfalteten, verpufften manch andere Maßnahme, während einige sogar das Gegenteil bewirkten.
Der Befund, der mit Sicherheit politisch am Explosivsten ist, betrifft die – ohnehin hoch emotional diskutierten – Einschränkungen an Schulen und Kitas. Nicht nur konnte die Studie von HASE & IGEL zeigen, dass Schließungen kaum bis gar nicht dazu beitrugen, Infektionszahlen signifikant zu senken. Die Analysten entdeckten sogar etwas, das sie „Babysitter-Effekt“ tauften: werden die Betreuungskapazitäten an Schulen und Kitas eingeschränkt, steigen mit 4 Wochen Zeitversatz (die typische Spanne zwischen Ansteckung und Tod) die Todesfälle insbesondere unter Senioren – und zwar am Stärksten bei Kita-Schließungen. In der Studie wurde dieser Effekt mit verschiedenen Verfahren überprüft, erscheint aber fürs Erste als ebenso robust wie plausibel. Ergo: Nicht nur lassen die massiven Einschränkungen im Bildungs- und Betreuungsbereich größere Positiveffekte auf die Eindämmung der Pandemie vermissen. Sind unbetreute Kinder bei Oma und Opa, während die Eltern arbeiten, scheint dies zu mehr Gefärdung der Ältesten zu führen. Sollten sich diese Ergebnisse weiter untermauern lassen, könnte bereits der erste Teil des Befundes – Schulschließungen bringen bestenfalls schwache Effekte – ein politisches Erdbeben auslösen.
In kleinerem Umfang zeigen Hotelschließungen ähnliche Negativeffekte: es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen geschlossenen Hotels und Todesfällen 4 Wochen später. Auch hier waren Senioren überproportional betroffen. Es drängt sich die Hypothese auf, dass Übernachtungen in Hotels und Ferienwohnungen bei Schließungen durch private Übernachtungen ersetzt werden – mit mehr Kontakten und geringeren Hygienestandards. Auch diese Maßnahme leistete dieweil keinen erkennbaren Beitrag zur Senkung der Infektions-Dynamik und dürfte es damit schwer haben, ihre Verhältnismäßigkeit zu begründen, da sie zugleich eine ganze Branche zur Untätigkeit verurteilt.
Das Pendel überraschender Befunde schlägt dabei aber nicht nur gegen Berlin aus: Während es inzwischen selbst in den Regierungsparteien zum guten Ton gehört, Ausgangssperren als eher symbolische Maßnahme einzuordnen, entfalteten sie laut der Berechnungen von HASE & IGEL im Jahr 2020 eine fast ebenso große Wirkung wie private Kontaktbeschränkungen.
Statistische Analysen trennen Wirksames von reinem Aktionismus
Doch auch dort, wo keine spektakulären Widersprüche zum Kurs der Regierung offenkundig werden, zeigt die HASE & IGEL Studie, wie dringend eine statistische Sicht auf die Daten nötig ist, um in einer Diskussion, die sich zunehmend in einer Echokammer aus Politik und Medien verfangenen hat, Heilmittel von Aktionismus zu unterscheiden.
So wird beispielsweise deutlich, dass Kontaktbeschränkungen eine recht starke Wirkung zur Senkung von Infektions- und Todesfällen zeigen – dies jedoch weitgehend unabhängig davon, auf welche Kontaktzahl dabei beschränkt wird. Kurzum: Nicht beliebig viele Menschen treffen zu dürfen ist ein wichtiges Instrument der Pandemie-Bekämpfung. Dies jedoch von 10 auf 5 oder von 5 auf 1 zu beschränken ist weitgehend Symbolpolitik.
Ähnliches bringt die Studie zutage, was die Maskenpflicht betrifft: Im gesamten letzten Jahr waren die Effekte der Maskenpflicht überraschend gering. Zur Senkung von Todesfällen unter Senioren konnte sie gar überhaupt nicht beitragen. Dies dürfte sich 2021 mit der Verschärfung hin zu FFP-Masken deutlich verändert haben, zeigt aber, dass es trotz allem guten politischen Willen am Ende nicht egal ist, was man sich vors Gesicht hält.
Die Politik muss solche Befunde endlich ernst nehmen – und mehr Rechenschaft walten lassen
Minister Spahn hatte Recht: Bereits nach einem Jahr Pandemie gibt es viel, das die Bürger ihrer Regierung verzeihen müssen. Und das ist zu einem gewissen Grad normal: In einer neuen, unbekannten Situation produziert eine „Versuch-und-Irrtum“-Strategie eben auch zahlreiche Irrtümer.
Unverzeihlich hingegen ist es, wider besseres Wissen zu handeln – oder im Blindflug zu handeln, wenn man sehen könnte. Fehler zu wiederholen, weil man sie nicht als solche anerkennt. An diesem Stand sind wir inzwischen angelangt – dies beweisen die HASE & IGEL Studie, die Oxford-Studie und zahlreiche anderen Untersuchungen, die derzeit an Universitäten und in Unternehmen durchgeführt werden.
Umso lauter schallt die Stille von Seiten der Regierung und ihrer Behörden: kein Minsiterium und weder das RKI noch das Helmholtz-Institut äußert sich zu entsprechenden Berechnungen oder veröffentlicht eigene Ergebnisse zur Wirksamkeit der Maßnahmen. Berlin hängt nach wie vor gebannt an den Lippen der Virologen, die sich hierzu indes schlichtweg nicht (qualifiziert) äußern können.
Die Kanzlerin, der Gesundheitsminister, der Wirtschaftsminister, die Forschungsministerin und die Ministerpräsidenten – es ist nicht zu viel erwartet, dass sie bei solchen Befunden aus den Sozialwissenschaften und der Statistik genau hinsehen, sich eine fundierte, öffentlich begründete Meinung bilden und Rechenschaft darüber ablegen, wo bisherige Maßnahmen nicht weit genug gingen, wo sie zu weit gingen und wo sie in die falsche Richtung liefen.
Es ist höchste Zeit, auf Basis solcher Erkenntnisse Verantwortung zu übernehmen und zügig nachzusteuern, statt sich auf bequemes Nichtwissen zurückzuziehen. Denn eine Politik, die auf Glauben pocht, statt Wissen zu demonstrieren – verliert ihre Glaubwürdigkeit.
Über den Gastautor: Jan Schoenmakers ist Gründer und Geschäftsführer des Big Data Startups HASE & IGEL, das 2020 einige Aufmerksamkeit erregte mit dem Beweis, dass Google Trends Daten, auf die sich die Wirtschaftsweisen beriefen, nicht valide waren. HASE & IGEL ist Schoenmakers‘ vierte Gründung. Der Sozialwissenschaftler, der lange in der Energiewirtschaft arbeitete, publiziert regelmäßig Beiträge in Zeitschriften, Journals und wissenschaftlichen Sammelbänden.
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