Der Skandal um den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Katholischen Kirche beherrscht seit Monaten die Schlagzeilen. Jetzt wurde bekannt, dass die Zahl der Missbrauchsfälle mindestens um das Doppelte so hoch liegt, wie bisher bekannt. Auch mehren sich Berichte über den Missbrauch von Kindern in Familien, die im Internet massenhafte Verbreitung finden. Und soeben erschien ein Buch der Soziologin Anja Röhl, in dem sie Erfahrungsberichte sog. Verschickungskinder auswertet, denen in Kindererholungsheimen Gewalt angetan wurde. Sie selbst war eines davon. Das Buch von Anja Röhl hat mir viele Erinnerungen wieder ins Gedächtnis gerufen, da auch ich als 9Jähriger in ein solches Heim verschickt wurde.
Vor allem in den fünfziger Jahren gab es einen regelrechten Verschickungsboom. Für Eltern aus den ärmeren Schichten stellte die Verschickung eines ihrer Kinder eine Entlastung dar. Zwischen 8 bis 10 Millionen Kinder wurden in die zahlreichen Kindererholungsheime oder Heilstätten verschickt, wo viele von ihnen seelischen und körperlichen Missbrauch erlebten, so die Studie. Statt Erholung gab es Zucht- und Ordnungsmaßnahmen; ausgeführt von Klinikleitern, Medizinern und Pflegerinnen, die lange Zeit ungestört in der NS-Tradition weiteragieren konnten. Die Autorin schreibt: Die Verantwortlichen waren durch eine frühkindliche NS-Sozialisation, durch Gewalterziehung und ihre Berufe gänzlich vom NS-System geprägt. Erwiesene NS-Täter, die an der Euthanasie beteiligt waren, glänzten nach dem Krieg bis in die 70er Jahre als Leiter von Kinderheilstätten, gefeiert als Erziehungspäpste. Und dieselben „Schwestern“, die in den Euthanasieanstalten die tödlichen Spritzen setzten, betreuten als Erzieherinnen die ihnen anvertrauten Kinder, als wären diese Feinde, deren Autonomiebestreben es zu zerstören galt.
Hinter blumigen Namen wie Bergfreude, Haus Glückauf oder Kinderparadies verbargen sich oft sadistische Verwahrungsanstalten. Es gab unrechtmäßige Medikamentenabgaben; medizinische Versuche; Sedierungen durch Contergan und sogar unaufgeklärte Todesfälle in diesen Heimen. In den Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder ist auch von alltäglichen Diskriminierungen die Rede. Da heißt es z.B.: Wer sich nicht beugte, hatte es besonders schwer. Und wer vor Heimweh und lauter Angst weinte, wurde geschlagen, festgebunden, in die Ecke gestellt oder weggesperrt. Die Kinder sind bestraft worden dafür, dass sie ins Bett oder auf den Boden gemacht haben, obgleich man ihnen den Toilettengang verboten hatte, sie sind dafür bestraft worden, dass sie aus Kummer oder Ekel nicht essen konnten. Einige der Berichte gehen an die Schmerzgrenze: wenn ehemalige Heimkinder beispielsweise berichten, sie hätten das oft schwere, fette Essen nicht vertragen, sich erbrochen und seien dann genötigt worden, das Erbrochene aufzuwischen und noch einmal essen zu müssen.
Die Kinder wurden zum Schweigen verurteilt; die Kontakte zu den Eltern weitgehend untersagt; die Post wurde zensiert usw. Drang trotzdem etwas durch, wurde dies als kindliche Phantasie abgetan; die wenigen Beschwerden wurden von zuständigen Verwaltungsstellen blockiert oder ignoriert.
Ich habe sechs Wochen in einem solchen Kindererholungsheim zugebracht; dem Solekurheim Waldhaus in Bad Salzdetfurth. Das Waldhaus lag abgelegen vom Ort. Wir durften das Heimgelände ohne Begleitung Erwachsener nicht verlassen, was unseren Bewegungsspielraum erheblich einengte.
Derart drastische Erlebnisse, wie sie in einigen Berichten der Studie geschildert werden, sind mir erspart geblieben. Wohl aber erinnere ich mich an zahlreiche Disziplinierungsmaßnahmen; z.B. daran, dass es auch bei geringfügigen Anlässen eine Ohrfeige gab oder man zu Küchendiensten oder Strafarbeiten verdonnert wurde. Wir schliefen mit ca. 25 Jungen in einem Schlafraum. Obwohl wir Sommerferien hatten, mussten wir um 19 Uhr ins Bett. Schlafen konnte um diese Zeit keines der Kinder. Austreten war dann nicht mehr erlaubt. Vor dem Schlafsaal saß eine der Schwestern und bewachte uns. Kinder, die in ihrer Not ins Bett machten, wurden aufs Übelste gemaßregelt, als Bettnässer bloßgestellt und ihr Betttuch mit den Urinflecken zur Abschreckung für alle sichtbar im Aufenthaltsraum aufgespannt.
Täglich gab es einen 1 ½ bis 2stündigen Mittagsschlaf. In dem Schlafraum war es in der Hochsommerzeit unerträglich schwül. Es war eine Qual, still im Bett liegen zu müssen. Wir wollten raus an die frische Luft, ins Schwimmbad oder Fußball spielen. All das war nicht erlaubt. Schon nach kurzer Zeit überkam mich Heimweh. Meine Eltern haben jahrzehntelang eine Ansichtskarte von mir aufbewahrt, auf der ich davon berichtet habe. Mir fehlten meine Spielkameraden; ich fühlte mich sozial entwurzelt.
Und noch etwas kam hinzu: Ich war begeisterter Fußballer und spielte damals bereits in einem Verein. Und jeder Fußballinteressierte weiß: 1954 fand die Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz statt. Im Heim war ich von allen Informationen abgeschnitten und litt Qualen. Mein Vater schickte mir zwar regelmäßig Spielberichte der deutschen Mannschaft; aber diese kamen immer erst 2 oder 3 Tage nach einem Spiel an. Gott sei dank war ich zum Endspiel wieder zu Hause. Zu diesem denkwürdigen Spiel, in dem Deutschland zum ersten Mal Weltmeister wurde.
Wahrscheinlich hat dieses Ereignis dazu beigetragen, meine Erlebnisse in dem Kindererholungsheim in den Hintergrund zu drängen. Durch das Buch von Anja Röhl sind sie mir wieder bewusst geworden.