„Da gab es Doktor Mengele, den Engel des Todes. Seine Aufgabe bestand darin, eine außerordentliche menschliche Spezies zu erschaffen, mit der die Nazis Europa nach der Eroberung zu besiedeln gedachten.“ Die 80jährige Lidia Maksymowicz, die von ihrer Mutter nur Luda gerufen wurde, hat das Leiden nach Jahrzehnten des Schweigens aufgeschrieben, das Leiden, das sie als dreijähriges Kind im Konzentrationslager Auschwitz bis nahe an den Tod heranführte. Mengele „wollte Menschen mit blauer Iris erschaffen, in der Vorstellung der Nazis die Farbe arischer Augen.“ Also verabreichte er den Kindern schmerzhafte Spritzen, „träufelte ihnen Tropfen in die Augen.“ Wenn die Kinder von einer Behandlung zurück in die Kinderbaracke kamen, waren sie oft bewusstlos, sahen sie aus wie Skelette. Viele kamen gar nicht zurück, weil sie gestorben waren an den Experimenten dieses Doktors Mengele, im Grunde ermordet. Der Mann, eiskalt, „testete im Auftrag deutscher Pharmaunternehmen Impfstoffe an uns“, schildert die erwachsene Autorin ihr schreckliches Erleben. „Wir dienten als Versuchskaninchen, wurden nur zu diesem Zweck in der Baracke am Leben gehalten. Für Mengele waren wir nichts weiter als sein Arbeitsmaterial.“ Einem Leser dieses Buches stockt immer wieder der Atem ob der Grausamkeiten, die man sich nicht vorstellen kann. Aber sie gab es, täglich, von Mengele und den anderen, begangen an Menschen, die ihnen nichts getan hatten. Ihre Schuld bestand darin, dass sie Juden waren, Polen, Russen, Sinti und Roma, Nicht-Deutsche, Schwule.
Das KZ Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Vor 79 Jahren.
Man darf das nicht vergessen, dass russische Soldaten an der Befreiung Deutschland mitgewirkt haben, der Befreiung von der Hitler-Diktatur. Putins Überfall auf die Ukraine darf nicht schmälern, was die Rote Armee unter großen Opfern geleistet hat. Die Leiden der deutschen Vertriebenen, auch sie ein Verbrechen, sind ein anderes Kapitel.
Wozu Menschen fähig sind
„Ich war zu jung, um zu hassen“, so der Titel des Buches, das den Leser umwühlt, mitnimmt, erschaudern lässt ob all der Verbrechen, die die Nazis begangen, an Kindern, Babies, schwangeren Frauen, an allen Häftlingen, die Unmenschliches erleiden mussten. Man schaut während der Lektüre des schmalen Büchleins unentwegt in die Tiefe, dort, wo man die Hölle vermutet, wenn es sie geben sollte. Wozu der Mensch fähig ist, wenn man ihn lässt, wenn er die Macht hat. Furchtbar, schrecklich, haben die denn gar keine Gefühle?! Nein, sie töten aus Lust, weil sie ein Gewehr haben, weil sie den Auftrag haben, die Uniform, das Sagen, die Macht, um Menschen jeden Alters in die Gaskammer zu schicken, zu töten. Sie einfach abzuknallen. Oder wie Mengele, der Doktor, der doch während seines Studiums auch mal gelernt hatte, das es seine Aufgabe ist, seine verdammte Pflicht, anderen Menschen zu helfen, wenn sie krank sind. Mengele hat sie gequält, behandelt wie ein Tier. Die Tierschützer mögen mir verzeihen.
Luda stammt aus Belarus, sie ist drei Jahre alt, als sie in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert wird. Dreizehn Monate überlebt sie die Hölle, getrennt von der Mutter, die zunächst in einer anderen Baracke untergebracht wird. Luda sieht um sich herum den Tod, Leichen über Leichen, weil die Experimente des Doktor Mengele sie töteten, andere starben an Hunger, verdursteten oder kamen einfach in dem Dreck um, in dem sie leben mussten. Leben ist übertrieben, sie überlebten, ja, aber die Bedingungen sind kaum zu beschreiben. Wer ins KZ Auschwitz eingeliefert wurde, hatte zwar den Transport in Viehwaggons überlebt, ohne Wasser, ohne Essen, Lüftung, ohne Toilette, Stunde um Stunde in nicht geheizten Waggons. Und wenn sie schließlich im Lager waren, wurden sie aufgeteilt, nach links oder nach rechts. Die eine Seite bedeutete Zwangsarbeit, die andere den Weg ins Gas. Und wer stolperte oder nicht schnell genug weiterging, weil er am Ende seiner Kräfte war, den legten sie einfach um.
„Sie haben so viele vergast“. Schreibt sie. „Wenn die Duschen aufgedreht wurden, hatte das meiste Glück, wer genau darunter stand. Hier starb es sich schneller, litt man weniger. Die Qualen der anderen dauerten länger, sie standen im Stehen, die Körper aufrecht gehalten zwischen all den anderen“.
Gold für eine Apotheke
Auschwitz, im Südosten von Polen, unweit von Krakau gelegen. Arbeit macht frei. Steht über dem Eingang eines jeden KZ, auch in Auschwitz-Birkenau. Welcher Hohn! Ich war mehrfach in der Gedenkstätte, die kilometerlang ist, bin allein durch das Gelände gelaufen, habe die Bilder gesehen, die man nicht vergisst, die Kinderschuhe, die Koffer, die Brillen, die Haare, all die Überbleibsel, die man den Opfern abgenommen hatte. Wertsachen, Uhren, Ringe mussten sie ablegen und den Tätern geben, es wurde alles versilbert, die Goldzähne hat man ihnen aus dem Mund gerissen, irgendwo las ich, dass ein Apotheker später aus dem Gewinn sich eine Apotheke aufgebaut haben soll.
Ungefähr 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet, rund eine Million waren Juden, Tausende waren polnische politische Häftlinge, über 20000 Sinti und Roma, 10000 sowjetische Kriegsgefangene, dazu Zeugen Jehovas und Homosexuelle. Alle ermordet.
70072. Das ist Lidias Nummer, die die Nazis ihr mit Nadeln in den Arm stachen. Nur noch Nummern waren sie, ohne Namen, das war das Ziel von Hitler und Co. Sie sollten einfach verschwinden von dieser Welt und niemand sollte später davon Kenntnis erhalten. Aber die Nazis waren auch gründliche Leute, die alles aufschrieben, notierten, Register anlegten mit Namen und den dazu gehörenden Zahlen. Diese Tätowierungen waren das Zeugnis, dass das Grauen stattgefunden hatte, schwarze Tinte auf weißem Papier. „Ohne es zu merken“, schreibt die 80jährige Luda/Lidia, „sind sie ihre ersten Zeugen. Sie mit ihren Todeslisten“.
Nach furchtbaren 13 Monaten im schlimmsten Lager der Welt ist der Krieg vorbei. Die Rote Armee sieht, was sie noch nie gesehen hatte. Berge von Leichen, Menschen, die nur noch 40 Kilo wiegen, mit Augen, die nach hinten gerutscht scheinen, so tief liegen sie, halbtot sind sie. Soldaten müssen sich übergeben. Sowas hält kaum jemand aus. Luda sucht ihre Mutter, man sagt ihr, sie sei tot, was sie nicht glaubt. Sie wird irgendwie von einer polnischen Mutter mitgenommen, die sie aufzieht wie ihre eigene Tochter. Jahre vergehen und eines Tages erfährt sie, dass die leibliche Mutter, die sie so liebt, lebt, irgendwo in der Sowjetunion. Luda hat ihre Mutter wieder.
Botschaft von Papst Franziskus
Das Vernichten eines Menschen, wie es die Nazis machten, ihnen die Kleidung zu nehmen, die Schuhe und selbst die Haare, sie immer wieder nackt sich aufstellen zu lassen, all das Unmenschliche ihnen anzutun, um sie zu erniedrigen, wie es Primo Levi einst aufschrieb, um deutlich zu machen, was es heißt, der Identität beraubt zu sein; dagegen hilft nur, dass die wenigen Überlebenden ihre Erinnerungen aufschreiben. So wie es Lidia, genannt Luda, nach all den Jahren des Schweigens gemacht hat. In ihrem Buch findet sich eine Grußbotschaft von Papst Franziskus. „Ihre Worte sollen erinnern helfen, was geschehen ist. Denn Erinnern ist ein Ausdruck von Menschlichkeit, Erinnern ist ein Zeichen von Zivilisation, Erinnern ist die Voraussetzung für eine bessere Zukunft in Frieden und Geschwisterlichkeit.“
Lidia, oder Luda, wie Sie wollen, hat aufgeschrieben, „was mir widerfahren ist.“ Vor allem jungen Menschen wolle sie davon erzählen, „damit sie nie wieder zulassen, dass so etwas passiert.“ Nie wieder. Oder wie es Sami Modiano, ein weiterer Überlebender des KZ Auschwitz-Birkenau, auf italienisch formulierte: „Mai piu.“ Man mag hinzufügen für Deutschland, gerade hier ist es wichtig, jetzt, diese Erinnerungen wachzuhalten, damit Menschen nicht glauben, was AfD-Leute wie Gauland ihnen vorgaukeln, dass die Nazi-Zeit nur ein „Vogelschiss“ gewesen sei in der ach so ruhmreichen deutschen Geschichte. Das war schon mehr, Herr Gauland, sechs Millionen Juden wurden von den Nazis ermordet, den Leuten, die sich für die Herrenrasse hielten, für die ihre Willkür das Gesetz war. Millionen wurden deportiert, weil sie keine Arier waren, keine Deutschen. Deshalb waren sie rechtlos in den Augen der Nazis.
Deshalb klingt das, was die AfD oder einige von ihnen verbreiten, was vor kurzem bei einer Tagung in Potsdam diskutiert und später von AfD-Leuten bestätigt wurde: Remigration umschreibt man, was früher Deportation hieß, es ist nichts anderes als „Ausländer raus“. Deutschland den Deutschen, das klingt so furchtbar, dieses Völkische ist so menschenverachtend und nicht in Einklang zu bringen mit dem, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach dem letzten Krieg in Artikel 1 des Grundgesetzes festlegten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Des Menschen steht da, nicht des Deutschen. Bewusst haben sie das nach dem Schrecken und dem Völkermord der Nazis so formuliert. Millionen wären betroffen von dem, was die Höckes der AfD ein „Versprechen“ nennen: dass sie die Ausländer aus dem Land jagen wollen. Millionen leben hier mit Migrationshintergrund, sie sind in der Politik, in der Kirche, in allen Parteien, sie sind in der Schule, lehren an den Hochschulen, sie sind bei der Müllabfuhr und bekleiden Vorstandsämter bei Dax-Unternehmen, sie sind Ärztinnen und Ärzte, Sanitäter, Polizisten, sie spielen Fußball beim FC Bayern München, beim BVB, bei den Schalkern, in der deutschen Nationalmannschaft. Eigentlich überall, sie werden gebraucht, sind unsere Nachbarn. Ohne sie würde die Republik nicht funktionieren. Das ist die Wahrheit, die Realität. Sie gehören zu uns, brauchen unsere Solidarität. Und deshalb gehen Hunderttausende auf die Straße und demonstrieren gegen diese braune Partei, die sich AfD nennt und die NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst als „Nazi-Partei“ bezeichnet. Der Bundespräsident fordert seit langem Demokraten dazu auf, die Demokratie zu verteidigen gegen ihre Feinde. Frank-Walter Steinmeier hat die Demonstrationen, die ja zum Glück nicht aufhören, einen Weckruf an die Politik genannt, an Regierung und Opposition, an die CDU, CSU, die SPD, die FDP, die Grünen, die Linke, an alle Demokraten.
Antisemitismus wächst weiter
Es ist schlimm, wenn man im Jahre 2024, am Tag vor dem Gedenken an die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945, in den Medien liest: Antisemitismus wächst stark. So die Überschrift in der SZ. Seit dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat das Bundeskriminalamt 2249 antisemitische Straftaten erfasst. Die Besuche von Gottesdiensten in Synagogen und jüdischen Veranstaltungen seien weniger geworden, erklärte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Und er fügte hinzu: „Jüdisches Leben ist weniger sichtbar geworden.“ Da wird man ganz still, gerade an so einem Tag, der uns als Mahnung dienen sollte, wohin das Völkische, wohin nationalistischer Wahn führen kann. Auf Deutschland bezogen endete die nationalistische Überhebung der Nazis zum Höllensturz, wie es Ian Kershaw geschrieben hat. Europa glich am 8. Mai einem riesengroßen Friedhof.
Und trotz aller Qualen und Demütigungen schreibt Luda/Lidia: „Ich war zu jung, um zu hassen“. Hass, liest man gegen Ende des Buches, Hass zerstört. „Dagegen ist es an mir, zu lieben und Zeugnis abzulegen von einem Licht, das uns im Dunkel umfängt und niemals allein lässt.“ Was für eine Botschaft!
Bildquelle: Bernhard Walther or Ernst Hofmann or Karl-Friedrich Höcker – USHMM, Gemeinfrei
Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Ein Thema, mit dem ich mich mein Leben lang befasst habe. Begonnen hat es mit den Auseinandersetzungen mit der Elterngeneration. In diesem Jahr werde ich 70 Jahre alt. Die aktuellen Demonstrationen gegen Rechts tun gut. Ich hoffe, dass die Politik, insbesondere auch die CDU sich darin bestärkt und gefordert sieht, mit der Brandmauer nach rechts ernst zu machen.
Von der „Befreiung“ des KZ Auschwitz habe auch ich mir lange Zeit falsche Vorstellungen gemacht bis ich jüngst das alte Buch von Primo Levi las, der dabei war (If this is a man). Ernüchternd.
„Befreiung, ha!“ (Tadeusz Sobolewicz)
J.Seitz