Es war „organisierte Kriminalität“, wie da über Jahre unter dem Stichwort „Cum Ex“ Geschäfte mit Aktien in Milliarden-Höhe gemacht wurden. Fragt man Zeitgenossen, ob sie wüssten, um was es da ging, antworten sie in der Regel: Hab schon mal davon gehört, ist aber zu kompliziert. Darüber kann der Autor des Buches „Abkassiert- Die Tödliche Gier der Cum-Ex-Zocker“, Hartmut Palmer, nur lachen. „Das ist überhaupt nicht kompliziert. Es handelt sich um einen dreisten Milliarden-Diebstahl. Banker und Millionäre haben uns bestohlen, indem sie sich jahrelang Steuern erstatten ließen, die sie nie gezahlt hatten. Hinterher versuchten sie mithilfe spitzfindiger Gutachter den Beweis zu führen, der Staat trage die Hauptschuld an dem Diebstahl, weil er die Tür zum Tresor nicht abgeschlossen hatte. Auf diesen Trick sind viele reingefallen.“ So Palmer gegenüber dem Blog-der-Republik, in dem in einem Interview mit dem Autor das Buch vorgestellt wurde.(19. September 2023)
Gestern las der Autor des Buches in der Bonner Buchhandlung Thalia aus seinem Krimi, es mögen 50 bis 60 Zuhörer gewesen sein, die seinen Ausführungen folgten. Dies vorweg. Es war ein spannender Abend. Mancher wird seinen Ohren nicht getraut haben, als er Erklärungen Palmers über den größten Betrugs-Skandal der Bundesrepublik folgte. Da gab es eine Bankenaufsicht, die schlampig zu nennen war, eine Bafin, die versagt hat, eine Berliner Ministerialbürokratie, die den Betrug jahrelang hatte laufen lassen, die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD, die jede Verantwortung leugneten, als Cum-Ex endlich auf Druck der Grünen im Jahre 2016 Gegenstand eines Untersuchungsausschusses wurde.
Man reibt sich die Augen angesichts der Größenordnung des Betrugs. Zehn Milliarden oder gar 20, vielleicht noch mehr. Palmer im Frage-und-Antwort-Spiel nach der Lesung: „Was hätte man damit alles bauen und sanieren können? Schulen, Kindergärten, die marode Infrastruktur des Landes auf Vordermann bringen können“. Weiß Gott. Wer kann sich schon unter Begriffen wie Leerverkäufe, Scheingeschäfte etwas vorstellen, wer soll verstehen, dass Aktien verkauft und zurückgekauft wurden, die dem Verkäufer gar nicht gehörten, Geschäfte, so der Vizepräsident einer Behörde ,“deren einziger Zweck darin besteht, in großem Stil Bescheinigungen für Steuern zu produzieren, die nie oder höchstens einmal abgeführt wurden“. Ein höchstrichterliches Urteil des Münchner Bundesfinanzhofs aus dem Jahre 1999-ja so lange ist das schon her-, ohne den, so Palmer, “ der ganze Cum-Ex-Schlamassel nicht möglich gewesen wäre.“ Dazu kamen noch schwer erklärbare Blockaden seitens der Politik. In NRW wollte gar der Grünen-Justizminister Limbach die mit dem Fall betraute Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker entmachten, wodurch die Ermittlungsarbeit mindestens erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht worden wäre. Erst nach scharfen Protesten ließ er diesen Plan fallen. Die Dame, die offensichtlich gefürchtet wird von den Steuer-Tricksern, wird ihre Arbeit fortsetzen. Zum Glück, die Täter können noch lange nicht aufatmen.
Immer wieder wird an diesem Abend im Thalia-Kuppelsaal darüber gerätselt, wie es möglich war, dass Aktien unter bestimmten Umständen gleichzeitig mehrere Eigentümer haben konnten und diese Eigentümer sich eben die Kapitalertragssteuer erstatten ließen, die sie gar nicht bezahlt hatten. Und das soll rechtens sein, fragt der gesunde Menschenverstand? Erst ein Urteil des Landgerichts Bonn aus dem Jahre 2019 stellte klar, dass es sich um eine Straftat handelt. Ja, was denn sonst?! Die Gesetzeslücke gab es nicht, sondern die Gier der Cum-Ex-Zocker, wie der Titel des lesenswerten Buches heißt. Der Vorsitzende Richter Zickler entlarvte damals die Argumente der Cum-Ex-Betrüger als faule Ausrede. „Wenn ich morgens das Haus verlasse und vergesse, meine Tür abzuschließen, dann ist das zwar leichtsinnig, aber noch lange kein Freibrief, dass jemand bei mir einbrechen und mich bestehlen darf.“
Eine irrsinnige Geschichte, nicht zum Lachen. Ein teurer Spaß? Teuer ja. Irgendwie verwickelt ist auch der Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich ohne Not in eine Gedächtnislücke geflüchtet hat, aus der kaum herausfinden wird. Hätte er gleich zugegeben, dass er 2016 mit dem Chef der Hamburger Warburg Bank gesprochen hat, wäre er aus dem Schneider. Es ist völlig normal, dass sich der Erste Bürgermeister der Hansestadt Hamburg kümmern muss, wenn eine Traditionsbank seiner Stadt ihm vorträgt, ihr drohe die Schließung, wenn sie eine so hohe Summe- die Rede war von 50 Millionen Euro- bezahlen müsse. Schließlich stehen dann Arbeitsplätze auf dem Spiel. Scholz hat damals dem Bankchef geraten, dem damaligen Finanzsenator Tschentscher, dem heutigen Bürgermeister, seine Lage vorzutragen. Alles nachvollziehbar, überhaupt nicht zu kritisieren. Aber schwer verständlich, warum Scholz, dem Kenner ein ausgezeichnetes Gedächtnis bescheinigen, sich heute nicht mehr daran erinnern will. Und das nehmen ihm viele nicht ab. Was seiner Glaubwürdigkeit schadet. Palmer erinnerte im Thalia-Kuppelsaal an einen ähnlichen Fall um den damaligen Kanzler Helmut Kohl, der in der Flick-Affäre die Unwahrheit gesagt hatte und der dann von seinem CDU-Generalsekretär Heiner Geißler vor dem Kadi oder gar dem Rücktritt bewahrt wurde, weil Geißler dem CDU-Kanzler einen „Blackout“-einen Gedächtnisverlust- unterstellte.
Cum-Ex ist der größte Steuerskandal der Nachkriegsgeschichte, die Liste der Beschuldigten umfasst 1022 Namen in 87 Verfahren. SZ-Kolumnist Heribert Prantl nennt die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker „die Speerspitze der Aufklärung“, sie hat sich als eine mutige Juristin erwiesen, ohne Angst vor Namen. Das Palmer-Buch beschreibt Prantl als „Roman über die Bankenmafia“, als „Finanzporno über tödliche Gier und über eine irre Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in München“. Der Autor, früher Journalist u.a. beim Kölner Stadtanzeiger, beim Spiegel und der Süddeutschen Zeitung, wird seine Lesereihe aus dem Buch “ Abkassiert“ bald fortsetzen. Am 29. Februar um 18.30 Uhr im Willy-Brandt-Forum in Unkel. Es lohnt sich.