Die Politik kapituliert vor sich selbst. Ein Jahr Corona-Pandemie, ein Jahr fast durchweg falsche Entscheidungen, und jetzt mündet die allgemeine Rat- und Konzeptionslosigkeit in schieres Chaos. Das könnte man einfach so konstatieren, wenn es nicht so lebensgefährlich für uns alle wäre – ausgenommen die kleine privilegierte Schar der Geimpften.
Die Zahl der Corona-Infizierten stagniert auf viel zu hohem Niveau oder sie steigt sogar. Der Anteil der viel ansteckenderen und gefährlicheren Mutante nimmt besorgniserregend zu. Damit drohen immer mehr schwere Krankheitsverläufe auch bei Jüngeren. Bundeskanzlerin Angela Merkel höchstselbst beschrieb in der jüngsten Konferenz mit den Ministerpräsident*innen „die Gefahr einer dramatischen dritten Welle“. Und trotzdem beschloss diese Konferenz in einer turbulenten Sitzung voller Streit und Durcheinander: Jetzt fangen wir einfach mal an aufzumachen. Verabschiedet wurde ein Bündel unübersichtlicher, unlogischer und hochriskanter Lockerungspläne. Wie passt das zusammen ? Gar nicht !!!
Dass Angela Merkel nach dem Treffen auf ihrer nächtlichen Pressekonferenz sechs- oder acht Mal das Wort „Hoffnung“ gebrauchte, sagt viel oder gar alles. Nicht Wissen oder abgesicherte und durchgeplante Strategie bestimmen in der Corona-Krise das Handeln unserer Politiker; es regiert nur noch das Prinzip Hoffnung.
Weil man nicht mehr weiter wusste und auch nach einem Jahr nicht weitergekommen war, wurden die Inzidenz-Werte für mögliche Lockerungen – bisher 35 oder 50 Infizierte auf 100.000 Einwohner – einfach über Bord geworden. Jetzt darf bis 100 gelockert werden. Dieses „Inzidenz-Hopping“ ein Ausdruck schierer Hilflosigkeit. Wissenschaftler befürchten neue Explosionen bei den Infektionszahlen. Geschenkt ! Tests und Impfungen sollen es richten. Nur bei beidem hapert es gewaltig. Im Gegensatz zu anderen Ländern lässt bei uns eine ausgefeilte Teststrategie noch immer auf sich warten. Und auch beim Impfen hinkt Deutschland hinter ungezählten anderen Ländern hinterher. Angela Merkel hätte noch viel öfter von „Hoffnung“ reden müssen.
Versagt haben viele: Der kakophone Chor der Ministerpräsident*innen, Parteipolitiker, die mit populistischen Parolen den Lockerungsdruck erhöhten, die Bundesregierung und auch die Spitze der EU. Da braucht man nicht mehr zu differenzieren. DIE POLITIK insgesamt hat sich in Misskredit gebracht. Das Wort vom „Staatsversagen“ ist nicht zu hoch gegriffen.
Als im vorigen Jahr die Corona-Gesamtsituation verglichen mit heute ungleich günstiger war, wurden die Chancen auf nachhaltige Besserungen reihenweise vertan. Seriöse Wissenschaftler wie die ausgewiesenen Virologen Melanie Brinkmann, Christian Drosten oder auch der vielfach verspottete und angefeindete Epidemiologe Karl Lauterbach predigten verzweifelt und vergeblich, dass Einschränkungen länger durchgehalten werden müssten. Nur so sei die Macht des Virus zu brechen. Asisatische Länder hatten es vorgemacht. Umfragen von damals belegten, dass auch in Deutschland ein Großteil der Bevölkerung bereit gewesen wäre, einen restriktiven Kurs mitzugehen. Aber trotzdem wurde jeweils zu früh gelockert, um dann wegen wieder steigender Infektionszahlen in den nächsten LockDown zu taumeln. Melanie Brinkmann im Rückblick mit einer vernichtenden Bewertung der verantwortungslosen Verantwortungsträger: „Es gibt Teilnehmer in diesen Runden, die sind nicht richtig im Thema. Unser größtes Problem ist, dass einige aus der Politik zuerst mal sehen wollen, ob es wirklich so schlimm kommt wie vorhergesagt.“ Mit kluger und wissenschaftsbasierter Strategie könnten wir heute ganz anders dastehen, hätten unser normales Leben großenteils zurück. Experten rechneten es den ignoranten Politikern immer und immer wieder vor.
Die Corona-Krise hat schonungslos die Schwachstellen des deutschen Systems offengelegt, eines Systems, das doch so viel auf sich hält. Ein Beispiel: Die Digitalisierung. Die Präsidentin des kleinen Estland, Kersti Kajulaid, wunderte sich schon 2019 öffentlich über die viel größere Bundesrepublik: „Wir haben nicht damit gerechnet, dass große Volkswirtschaften es sich erlauben würden, bei der Digitalisierung so weit zurückzufallen.“ Wegen mangelnder Digitalisierung klappt es hierzulande eben nicht mit Distanzunterricht und homeschooling, klappt es nicht mit effektiver Nachverfolgung von Infektionen durch die Gesundheitsämter. Mangelnde Digitalisierung ist auch zumindest teilweise für das derzeitige Impfchaos verantwortlich. Verantwortlich dafür, dass alte Menschen hilflos und verzweifelt ihre Kinder anbetteln müssen, für sie einen Impftermin zu organisieren. Und wie bei den Digitalisierungs-Defiziten eine effektive Teststrategie aufgebaut werden und dann funktionieren soll, bleibt das große Rätsel. Im High-Tech-Land Südkorea beispielsweise konnte mit einer umfassenden und ausgefeilten Teststrategie seit März 2020 ein harter LockDown vermieden werden. Uns aber bleibt eben nach wie vor nur das Prinzip Hoffnung. Ein ganzes Jahr seit Ausbruch der Pandemie blieb ungenutzt, wurde verschlafen.
Auch das europäische Versagen bei der Impfstoff-Beschaffung fällt zu einem großen Teil auf Deutschland zurück. Immerhin ist die Kommissionspräsidentin eine Deutsche: Ursula von der Leyen, vor ihrem Weggang aus Berlin recht erfolglose Verteidigungsministerin. Und Deutschland hatte im entscheidenden Jahr 2020 die Ratspräsidentschaft inne. Dieses Europa unter deutscher Führung hat den rechtzeitigen Start in eine große Impfkampagne blamabel verstolpert. Jetzt kann Großbritannien nach seinem Brexit triumphieren. Befreit von eurokratischer Langsamkeit wurden dort bereits 30 Prozent der Bevölkerung geimpft. Bei uns sind es gerade mal fünf Prozent. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird es Januar oder Februar nächsten Jahres, bis alle, die wollen, die begehrte Spritze bekommen haben. Bis dahin müssen noch ungezählte Menschen sterben. Bezeichnend, dass die EU-Länder Österreich und Dänemark ausscheren und sich beim Impfen jetzt mit dem viel schnelleren Israel zusammentun. Was mit Phantasie, Engagement und Regierunsdruck möglich ist, zeigen auch die USA. Bis vor wenigen Monaten vom Corona-Ignoranten Trump im Kampf gegen die Pandemie blockiert, soll die Bevölkerung bis Mai dieses Jahres komplett durchgeimpft sein.
Fazit: Vielfaches Versagen bei der Digitalisierung, bei Entwicklung einer Teststrategie, bei Impfen, Warn-App, Schul- und Kinderbetreuung und der Pflege von Alten und Kranken, dazu das Verwirrspiel mit Maßnahmen, Lockerungen, Verboten, faulen und unverantwortlichen Kompromissen – das alles kostete und kostet in Deutschland tausende Menschenleben, ungezählte Arbeitsplätze und – wie Volkswirtschaftler errechneten – Woche für Woche vier Milliarden Euro. Dieses schwere und fortgesetzte Staatsversagen kann am Ende auch das Vertrauen in unsere Demokratie kosten.
Bildquelle: Pixabay, Bild von Steve Buissinne, Pixabay License
Unsere regierenden Politiker sind nur noch ein einziges Trauerspiel! Ich denke das haben sie mittlerweile auch selber begriffen.
Damit ein ganzes Volk darüber aber nicht verzweifelt,muss man es einfach auch mal zum Lachen bringen: Spahn und Scheuer als Testlogistiker….das wird viele zu einem brüllenden Gelächter veranlassen und zeigt doch nur ein weiteres Mal, wie unfähig unsere Politiker sind.
Der Kommentar bezeichnet die Mängel deutscher Politik deutlich. Es sind vor allem strukturelle Probleme, weil man seit über 10 Jahren die Infrastruktur vergammeln, die Digitalisierung verschlafen und die Verwaltung (auch Polizei und Justiz. Doch das nur „nebenbei“.) kaputt gespart hat. Dafür haben sich die Damen und Herren wegen der „schwarzen Null“ als verantwortungsvolle PolitikerInnen feiern lassen. Dabei haben sie dieses Land in einigen Teilen auf Entwicklungslandniveau abgewirtschaftet. Und trotzdem haben die dafür verantwortlichen Parteien und PolitikerInnen noch die überwiegende Zustimmung des wählenden Volkes. Das begreif ich einfach nicht.