Samstag traf ich in Bad Godesberg einen Bekannten, der sich mit seinem Geschäft zurzeit mühsam über die laufende Runde quält. Wir sprachen über das Krisen- und Konjunkturpaket der Koalition und auch darüber, dass dessen Wirkung angezweifelt werde. Ich sagte, es werde bezweifelt, ob die Mehrwertsteuer- Senkung an die Endnachfrager weiter gegeben werde. Im Hinterkopf hatte ich eine Aussage von Professor Butterwegge, wonach „fast jeder Unternehmer …die geringere Abführung ans Finanzamt als eigenen Gewinn verbuchen“ werde.
Der Bekannte hielt mir wortlos einen Kassenbon unter die Nase. Dann sagte er ein wenig gereizt: „Kannst Du ja wohl lesen.“ Da stand: Tee Gschwendner, Marokkanische Minze Bio, 100g, Total 6.10. Eine Zeile darunter war zu lesen: MWST 7.00 % und 0.40. „Ausgewiesener Mehrwertsteuersatz“ fuhr er fort „sieben Prozent und vierzig Cent als Betrag.“
Als ich ihn erstaunt anguckte, sagte er: „Wie soll ich da bescheißen? Soll ich mein Buchungsprogramm auf 16 Prozent umstellen und den Preis verlangen als lägen ihm 19 Prozent zugrunde? Soll ich künftig Bons ausdrucken mit 19 Prozent drauf? Der Kassenbon ist eine Art Vertragsdokument“, wurde ich belehrt. „Damit kannst du nicht machen, was du willst. Und doof sind die Leute auch nicht. Also red´ nicht solchen Blödsinn.“
Die Behauptung, dass „fast jeder Unternehmer“ mit der Mehrwertsteuer- Abführung betrügen würde, die ist demnach mehr als riskant. Ich habe ein wenig gegoogelt, um zu finden, dass eine Mehrwertsteuersenkung in Großbritannien zu fast 80 Prozent an die Verbraucher weitergegeben worden ist. Klar wurde mir auch, dass während der jetzigen Phase der herrschenden, durch hochinfektiöse Viren hervorgerufenen Krise keine verteilungsmäßige Ausgewogenheit geben kann.
Das hat folgende Ursachen: Krankheitserreger haben sowohl der Produktion als auch der Dienstleistung, Verteilung und Transport millionenfach die wichtigste „Ressource“ entzogen – nämlich die Arbeitenden. Sofern die nicht in der Lage sind, daheim am PC oder Laptop Aufträge auszuführen, sind sie während der Krise monatelang weg vom Fenster.
Die Türen zu Verkaufsräumen, Läden, Supermärkten, Suppenküchen, Burger-Brätern und Austernlutscher- Restaurants blieben zu. Daher fielen in Hunderttausenden Betrieben Umsätze und Gewinne und Verdienste gleichzeitig ins Bodenlose, während fixe Kosten wie Mieten, Kosten für Energie – teils – Zinsen sowie Tilgung und anderes weiterliefen, sodass diese Betriebe wie Schiffe bei Ebbe auf dem Trockenen saßen.
Millionen abhängig Beschäftigte büßten Lohn oder Gehalt ein, wurden auf Arbeitslosengeld und Kurzarbeitsgeld verwiesen. Für Bezieher und Bezieherinnen von Renten, Pensionen, Lohnersatzleistungen und anderes änderte sich im Vergleich dazu nichts. Für die steckt übrigens im Krisen-Paket der Koalition ein wichtiger Hinweis, der wohl geflissentlich übersehen wird: Die Koalition rechnet mit steigenden Ausgaben der Sozialversicherungen, denn sie legt sich fest: Steigen die im laufenden Jahr und 2021 über die 40 Prozent – von jetzt 38,6 Prozent gemessen an Lohn und Gehalt, sollen Steuerzuschüsse in die Versicherungen fließen.
Betriebe: Es gibt in Deutschland 3,4 Millionen Betriebe ohne Angestellte- das sind Solounternehmer und – innen. 3,1 Millionen beschäftigen bis zu neun Mitarbeiter und – innen, etwa 300 000 haben bis zu 50 Beschäftigten und so weiter – rund 65 000 beschäftigen zwischen 50 und 249 Arbeiter und/oder Angestellte. Man nennt sie das Rückgrat der deutschen Wirtschaft – ich schätze: Zu recht. Es gibt schließlich noch um die 100 Unternehmen mit mehr als 10 000 Beschäftigten. Die interessieren mich hier weniger.
Ich habe für mich später ein Beispiel entwickelt.
Da gibt es ein Paar, das ein Unternehmen aufgezogen hat. Vor einigen Jahren. Es hat in Ausrüstung und Lieferanten und Ausbildung und Marketing investiert. Teils mit eigenen Mitteln, teils mit Kredit. Es kauft ein und vertreibt seine Waren im Wettbewerb mit anderen Anbietern am Ort. Die beiden mussten sich ihre Kundschaft durch Preis und Leistung, Beratung, Qualität und Spezialisierung erwerben. Mitte April hatten die beiden die Beschäftigten weit überwiegend zur Kurzarbeit 100 angemeldet, ihre Rücklagen waren Ende April aufgebraucht. Sie haben für die Monate April und Mai und Juni einen Zuschuss vom Landesfinanzminister erhalten, um damit Betriebsausgaben und weitere Verbindlichkeiten zu zahlen – in der Hoffnung, im Sommer wieder öffnen beziehungsweise produzieren zu können.
Omas und Opas sitzen in ihren Häuschen, bekommen im Juli gut drei Prozent auf ihre Renten, sie haben angeboten, finanziell zu helfen. Das ist der letzte Haltegriff vor einer Pleite. Die beiden telefonieren mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ab und an kommt ein Beschäftigter auf Kurzarbeit vorbei, fragt, was ist. Der Mensch, der für den Laden Plakate entworfen hat, erhält nun soziale Grundsicherung plus Krankenversicherung und den größten Teil der Miete. Der findet das alles nicht gut; würde lieber von seinen Aufträgen leben.
Was hilft unserem Paar in diesen Wochen?
Da sie gut rechnen können – können müssen -, wissen sie, dass ein zusätzlicher Kredit sie in die 100-prozentige Fremdfinanzierung treiben würde. Sie müssten auf die laufenden Verpflichtungen weitere türmen, Zinsen und Tilgung. Davor schrecken sie zurück. Ob das jedem deutschen Professor verständlich zu machen ist, dessen Kohle jeden Monat mit der Regelmäßigkeit des Vollmondes vom Staat kommt, weiß ich nicht. Läsen die beiden, was im Blog der Republik stand: „Überproportional profitieren dürften bei den angekündigten Ausgaben in Höhe von 130 Milliarden Euro die Wirtschaft, Unternehmen und Besserverdienende“, würden sie sich verwundert die Augen reiben: Überproportional? Wie profitiere ich von etwas, würden sie sich fragen, wenn ich nicht weiß, ob ich nächste Woche Insolvenz anmelden muss?
Es wäre keine Insolvenz wegen Veränderungen der Marktbedingungen, stärkerer Konkurrenz oder wegen schlechten, eigenen Wirtschaftens, sondern wegen etwas, das wie eine Naturkatastrophe über sie hereingebrochen ist. Die beiden haben viele Monate Unsicherheit durchgestanden, weil sie nie sicher wussten, ob sie es schaffen würden. Sie fanden freilich immer einen Weg, mit Unsicherheit und Risiken umzugehen. Viel Arbeit und Zusammenarbeit mit ihren Beschäftigten und Stolz auf die eigene Leistung sowie Anerkennung haben geholfen. Sie haben sich selber „motiviert“; so nennt man das heute.
Die beiden haben aufmerksam gelesen, was in Berlin vereinbart worden ist: Sie setzen darauf, für die Monate Juli und August einen weiteres Mal unverzinsliches Geld vom Staat zu bekommen – 15 000 € für Betriebsausgaben. Ihr Steuerberater könnte ihnen zudem raten, die noch ausstehenden Steuern auf Gewinn aus dem Jahr 2019 durch Verrechnung mit den akuten Verlusten abzubauen; also den Verlustrücktrag in Anspruch zu nehmen. Mit ihrem Finanzamt haben sie sich schon arrangieren können, sodass die Umsatzsteuer zum großen Teil gestundet werden kann, bis sie wieder gut genug dastehen. Sie überlegen aber, ob sie nicht doch rasch ihre Insolvenz anmelden und nach einem verkürzten Entschuldungsverfahren neu starten sollen. Aber das würde sie für Jahre aus dem Wirtschaften bringen. Sie wollen es daher anders schaffen.
Für sie kommt es darauf an, dass sie schnell wieder ihre Leute zusammen holen können, dass sie Umsatz machen und dass sie aus der Krise raus kommen. Vielleicht zünden ja die gesenkten Verbrauchssteuer-Sätze, hoffen sie. Sie wissen, dass sie nicht wissen, mit welchem Tempo ihr Unternehmen aus der Krise kommen wird.
Wann werden wir wieder 100 Prozent erreichen, wie wir sie noch Anfang des Jahres hatten, fragen sie sich. Wie stehen unsere Lieferanten wirtschaftlich da? Haben die teils aufgegeben oder kämpfen die so wie wir um ihre Existenz? Was wird aus dem Hotelier um die Ecke, der von seinen Schwierigkeiten erzählt hat. Wie und was soll ich kalkulieren? Einkaufen für fünf oder zehn oder fünfundzwanzig Frühstücke, so als ob das Haus voll wäre?
Es ist eine umfassende Krise. Das hat auch mein Bekannter gesagt. Der will sein Geschäft verkaufen. Sagte er jedenfalls. Irgendwo würd´s doch eine Stelle geben, meinte er, auf die er hupfen könne. Jeden Monat Gehalt, Krankenversicherung zu 50 Prozent vom Arbeitgeber, Urlaubsanspruch, eventuell sogar Betriebsrente. Ich habe ihn gefragt, was ich tun könne. Kaufen, entgegnete er.
Also werde ich Anfang der Woche außer der Reihe einkaufen. Tee und Bücher und einiges andere. Und neue Platten vor der Haustür legen lassen. Ich hoffe, dass viele, viele ganz „un-ideologisch“ ähnliches tun.
Bildquelle: Pixabay, Bild von Karsten Paulick, Pixabay License