„Schau heimwärts Engel“ von Thomas Wolfe war für manche von uns Heranwachsende während der sechziger Jahre eine emotionale, expressionistische Schrift-“Bombe“. Wolfe mischte uns in unserer inneren Debatten über „die Welt und ich“ mit seinem Wälzer richtig auf. Ich nehme an: vor allem die Jungen.
Besonders einprägsam die Trauer und die Verzweiflung Eugenes über Leid und Sterben seines Bruders Ben. Eugene eilt zurück nach Altamont (Asheville North Carolina), um da zu sein, wenn Bens Leben verlöscht. Der stirbt an der Spanischen Grippe.
An dieser Grippe starben Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Sie wurde verschwiegen während des ersten Weltkrieges, obgleich sie grassierte, so dass der Name mit dem Land verbunden wurde, in welchem die Grippe in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielte: mit dem neutralen Spanien. Welches Leid und welche Ängste dieser unsichtbare Feind auslöste, ist heute weitestgehend vergessen. Thomas Wolfe hat das Leid literarisch aufgearbeitet. Der frühere DFG- Präsident Ernst-Ludwig hat 1999 ein detailreiches und immer noch lesenswertes Buch über Grippe und Viren vorgelegt: Die heimlichen Herrscher. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main.
Für uns heutige beginnt eine blasse Erinnerung an die Virengeschichte 1957: Es gab eben in diesem Jahr nicht nur den Sputnik, der sich durch die Medien piepte und Bilder aus Little Rock, weil dort neun afroamerikanischen Jugendlichen der Schulbesuch einer bislang nur Weißen geöffneten Schule verwehrt wurde . Im Herbst des Jahres brach die „asiatische“ Grippe aus, nachdem sie über Fernost und Nahost und Afrika den Weg nach Europa gefunden hatte. In eckigen Klammern: das Virenthema ist übrigens ein nicht gehobener „Schatz“ für die Aktivisten/innen der politischen Korrektheit, denn der „asiatischen“ Grippe 1957 folgte 1968 die sogenannte „Hongkong“- Grippe. Dazu passt, dass die Grippe-Pandemie der Jahre 1889 bis 1895 die „russische Grippe“ genannt wurde, deren Opfer Churchill so umriss: „The rich, the poor, the high, the low…“
Die „asiatische“ Grippe traf vor allem Schulkinder, die vielfach in den Genuss von schulfreien Tagen kamen, wenn eine Klasse zu 50 Prozent erkrankt war. Ich hatte kein schulfrei. Ältere Menschen erkrankten im Vergleich zu den Jüngeren weniger häufig, weil man bei denen eine Rest- Immunität entdeckte. 30 000 Menschen starben in Westdeutschland an dieser Pandemie, an der „Hongkong“- Pandemie von 1968 starben, wie im Nachhinein errechnet wurde, etwa 40 000 Menschen in der Bundesrepublik. Was stattfindet, lässt sich unter dem Stichwort „Enteignung der Sinne“ des Soziologen Ulrich Beck fassen; obgleich Beck keine Pandemie im Sinn hatte, sondern er dachte an die nicht zu beseitigenden Risiken der nach- industriellen Gesellschaft: „Mit dem Atomzeitalter entsteht eine Verdopplung der Welt. Die Welt hinter der Welt, die uns unvorstellbar bedroht, bleibt unseren Sinnen ein für allemal unzugänglich.“ Freilich nannte Beck das eine „Verseuchung“. Hier wie dort gehen wir der Kraft und der Wirkung unserer Sinne verlustig.
Keine der erwähnten Grippe- Ausbrüche wurde so sehr von der veröffentlichten Meinung beeinflusst wie die Pandemie, die derzeit grassiert. Nichts wird derzeit ausgelassen, was in irgendeiner Art mit dem neuen Virus zu tun hat, nichts ist so verdreht, dass es nicht in irgendein Format passen würde. Es sei nur „gerecht“, dass die Alten über 65 stürben, verbreitete ein sogenannter „Comedian“, dessen Künstlername man sich nicht merken muss, in der ARD unter dem Siegel der „Satire“, denn die hätten ja die Welt auch gegen die Wand gefahren. Eingesetzt hat auch die öffentliche Suche nach einem „Corona- Gate“. Ein Beispiel hierfür lieferte am vergangenen Sonntag Anne Wills Show.
Kronzeuge hierfür ist der studierte Biochemiker Alexander S. Kekulé. „Wir haben bis jetzt wahnsinnig viel Zeit verschlafen“, behauptete Institutsleiter Kekulé aus Halle, was ntv zum Satz veranlasste: „Virologe warnt, Politiker wiegeln ab.“ Aus Kekulés Darlegungen „filterte ntv- Redakteurin Friederike Zörner, im Wortlaut: „Allein ein Kind, das nach den Winterferien aus dem Urlaub in einem heutigen Risikogebiet, wie zum Beispiel Italien, in die Schule zurückgekehrt ist und dessen Corona-virus-Infizierung nicht erkannt wurde, hat acht Wochen später 3000 Menschen angesteckt. Gehe man davon aus, dass an der Lungenkrankheit Covid-19 0,5 Prozent der Betroffenen sterben, wären dadurch 15 Tote zu beklagen. 200 bis 300 Menschen müssten auf der Intensivstation behandelt werden. Sein Appell, schon viel früher Bildungseinrichtungen zu schließen, sei verhallt, beklagt Kekulé.“ Das ist einfach verantwortungslos.
Ich war fassungslos, als ich das hörte. Daher habe ich ein wenig gegoogelt, um folgendes zu finden: Am 25. Februar 2020 erklärte derselbe Kekulé im Deutschlandfunk auf die Frage „Herr Kekulé, was ist eigentlich mit Massenveranstaltungen? Hätte man Karneval dieses Jahr zum Beispiel besser ausfallen lassen?“
„Nein, in Deutschland gab es dafür, zumindest von den Daten, die da waren, noch keinen Hinweis. Das wird man wegen der Inkubationszeit ehrlich gesagt erst in zwei Wochen wissen.“ Das wäre dann, so ist hinzu zu fügen ein Zeitpunkt um den 10. März herum gewesen. Am 11. und 12. März haben Bund und Länder die Richtung festgelegt, in der es gehen soll. Wahnsinnig viel Zeit vertändelt? Einfach Unsinn.
Land und Leute stehen vor Situationen, die nicht erlebt und trainiert sind, die außerordentliche Anforderungen an Verstand und Selbstdisziplin und soziales Engagement stellen. Im Zentrum stehen die staatlichen Ebenen mit ihren Funktionen und Beschäftigten. Aus dem Stand heraus müssen gleichzeitig viele neue Dinge möglichst fehlerfrei getan werden, denn es geht – so sagen Leute wie der zweite hinter der Bundeskanzlerin, Bundesfinanzminister Scholz und NRW-Ministerpräsident Laschet, um Leben und Tod. Jetzt kommt es außerordentlich darauf an, dass die Institutionen des Staates und die Personen, die führen, Vertrauen genießen. Wenn Frau Will auf die Jagd nach einem Corona-Gate gehen möchte, dass kann sie das tun; aber bitte dann, wenn unser Zusammenleben wieder ohne Angst verläuft. Als in Wills „Sprechstunde“ am vergangenen Sonntag die Lampen ausgegangen waren, habe ich immer noch konsterniert Musik gehört – Laura Branigan: „You take my self, you take my self control…“ Das hat´s getroffen.
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