Conte, Präsident der Fünftsterne Bewegung (M5S) und die bei Partei verbliebenen Abgeordneten und Senatoren werden von politischen Gegnern, dem überwiegenden Teil der Journalisten in Printmedien – einhellig auch in FAZ, Welt, Spiegel – und vermutlich der Mehrheit der Bevölkerung Italiens für die aktuelle schwere Regierungskrise verantwortlich gemacht. Es gab und gibt einen breiten Konsens, einschließlich vermutlich der Mehrheit der M5S-Wähler, dass die auf „breiter Verständigung“ konkurrierender Parteien basierende Regierung Dragi bis zur turnusmäßigen Neuwahl 2023 weitermachen sollte, um die drängenden immensen Herausforderungen zu bewältigen. Ein vorzeitiges Ende der Regierung Draghi wird als sehr negativ für die Wirtschaft und die Staatsfinanzen eingeschätzt.
Der Jura-Professor Giuseppe Conte wurde 2018 von Führungsfiguren der M5S aus dem „politischen Niemandsland“ als Ministerpräsident gefunden und hat bis Februar 2021 mit wechselnden Mehrheiten regiert. Er hat sich bei den Italienern in seinen zwei kurzen Amtsperioden eine Reputation als ehrlicher Politiker erworben. Er kontrastiert allerdings mit seinem immer korrekten auch modischen Auftreten und seinen abgewogenen sachlichen Statements mit der bunten Mitgliedschaft der M5S. Allein das ist ein Paradox und vielleicht nur dadurch zu erklären, dass er in der Lage ist, die verschiedenen partikulären Herzensthemen der Bewegung auszutarieren und wichtige Schwerpunkte zu bündeln. Er ist weder Abgeordneter noch Senator – was all die anderen Parteiführer sind – und auch nicht Kabinettsmitglied – was auch die anderen Parteichefs nicht sind.
Conte ist aber auch der Antagonist der in Medien allgegenwärtigen Politikerriege, die ihre Parteien erst kürzlich gegründet haben oder aber ihren Parteien derart den Stempel aufgedrückt haben, dass ihr Name im Partei-Logo erscheint. Einige sind Teil der Koalition wie „Salvini Presidente – Lega“, „Forza Italia – Berlusconi Presidente“, Renzi (Italia Viva), jetzt auch Di Maio (Insieme per il Futuro), teils in der Opposition wie „Giorgia Meloni – Fratelli d’Italia“ und Carlo Calenda (Azione). Ex-Regierungschef Matteo Renzi brüstet sich zutreffend damit, Conte mit monatelangen Forderungsmanövern seiner Minister gestürzt zu haben, aber zu Unrecht damit, die Regierung Draghi geschaffen zu haben. Conte hat am Ende seiner 1. Regierung Salvini öffentlich hart kritisiert. Europafreund Calenda hat M5S seit seinem erfolglosen Bürgermeister-Wahlkampf in Rom immer wieder als nicht-akzeptablen Partner erklärt. Di Maio behauptet, dass Conte aus M5S die Conte-Partei gemacht hat, ein klassisches „haltet den Dieb“- Manöver, womit er die Renzi- und Salvini-Methoden übernimmt.
Von der breiten Koalitions-Regierung Draghi, einer auch international hochangesehenen Persönlichkeit, wird erwartet, dass Italien eine Reihe von Reformen schafft und „zukunftsfähig“ gemacht wird auch mithilfe des EU-finanzierten Nationalen Plan zur Neubelebung und Resilienz (PNRR), den er übrigens zu großen Teilen von der 2. Regierung Conte übernommen hat. Die Regierung legt auch immer wieder per Gesetz Maßnahmen und Reformen vor, die meist per Vertrauensfrage im Parlament durchgedrückt worden. So wurden die Koalitionäre diszipliniert.
Conte und M5S muss in den letzten Monaten gesehen haben, dass die Regierungspolitik immer wieder an Punkten knabberte, die M5S wichtig sind, vor allem bei dem „Bürgergeld “ (Reddito di Cittadinanza), das unter ihm eingeführt wurde, aber auch bei einigen „kleineren“ Themen wie z.B. einer Müllverbrennungsanlage (MVA) für Rom, die Teilen der M5S nicht akzeptabel erscheinen. So wuchs die Befürchtung, mit jeder Zustimmung mehr Identität zu verlieren.
Hinzu kam, dass es anderen Koalitionären anscheinend gelang, einzelne Themen in Gesetzesvorlagen in ihrem Sinne zu verwässern oder die Einführung hinauszuzögern, wie z.B. die Neu-Ausschreibung der Strandbewirtschaftungen. Gesetzesinitiativen von Bürgerinitiativen und Parteien, wie z.B. die zur Strafverschärfung bei Diskriminierung gegen Homosexuelle, Transsexuelle, Frauen und Menschen mit Behinderungen, schafften es hingegen fast nie mit Erfolg durch beide Häuser. Erstaunlich staatstragend verhält sich die Sozialdemokratische Partei PD unter Enrico Letta, die auch erduldet, dass von ihnen unterstützte Gesetzes-Initiativen wie die letztgenannten nicht durchkommen.
Einem Teil der M5S, der sich mehr mit Draghi identifiziert, angeführt durch den Außenminister Di Maio, wurde die kritische Haltung Contes zu Draghi in Bezug auf die Waffenlieferungen in die Ukraine wohl unerträglich. Conte verlangte eine Rechtfertigung durch internationales Recht. M5S-Führungsmitglied Di Maio, das schon früher gegen Conte gestichelt hatte, hat sodann eine eigene Partei gegründet, in die ihm eine substantielle Anzahl von Abgeordneten und SenatorInnen gefolgt ist. Damit verlor M5S den Status als stärkste Partei in beiden Häusern. Die derzeitige Regierung ist bei Abstimmungen für die Mehrheit nicht mehr auf sie angewiesen. Bewegungsgründer Grillo, weiterhin eine Art Pate der M5S hält Conte die Stange. Er befürwortet auch die Beibehaltung der 2-Mandate Regel, nach der Mandatstragende nach zwei Legislaturperioden nicht wieder zur Wahl antreten dürfen. Wie in den ersten Jahren die Bündnisgrünen in Deutschland hat sich die Fünfsterne-Bewegung eine Reihe von Regeln gegeben, die im sonstigen Politikbetrieb nicht üblich sind und von denen Mandatstragende nun betroffen sind.
Draghi hat erklärt, nicht ohne die M5S regieren zu wollen, soll jedoch nach Informationen von Grillo selbst unvorsichtigerweise gegen Conte als Parteipräsidenten, also in einer parteiinternen Angelegenheit, bei Grillo interveniert haben. Öffentlich hat er seine Nähe zu vielen Punkten der Forderungen der M5S bekundet und sein Büro hat die Intervention gegen Conte geleugnet.
Die verbliebenen Abgeordneten und SenatorInnen der M5S, haben nach parteiinterner Konsultation letzte Woche den Schritt gemacht, vor einer Abstimmung über ein Sozialgesetz – das ihnen nicht ausreichend erschien und die sachfremde Entscheidung pro MVA Rom enthielt – das Abgeordnetenhaus und den Senat kurzzeitig zu verlassen und nicht mit abzustimmen. Da die Abstimmung wieder mit der Vertrauensfrage gekoppelt war, haben sie so ein ausdrückliches Nein zu diesem Gesetz vermieden.
Draghi hat das von ihm vorgelegte Gesetz bekommen. Er muss aber jetzt befürchten, bei allen künftigen Vorhaben von der einen oder anderen seiner vier größeren und sechs kleineren Koalitions-„Parteien“ (sprich Salvini, Berlusconi, Renzi, Di Maio etc.) unter Druck zu geraten und sich die Regierungsarbeit ständig mit Zugeständnissen freikaufen zu müssen. Vermutlich hat er deshalb unmittelbar nach der Abstimmung seinen Rücktritt angeboten, den Staatspräsident Sergio Mattarella aber nicht angenommen hat.
Am Mittwoch, den 20. Juli 2022, wird Draghi im Parlament sprechen und seine Position darlegen. Danach soll es eine Abstimmung geben.
Was kann geschehen:
1. Die Koalition macht in bisheriger Besetzung weiter; nach einer Vertrauensfrage im Parlament, bei der M5S konstruktiv mitstimmt, und die Regierung Draghi schleppt sich bis ins reguläre Wahljahr 2023. Das setzt voraus, dass Draghi verstanden hat, dass er Kompromisse schließen muss und nicht alles per Vertrauensfrage erzwingen kann. PD, M5S, Di Maio würden das eventuell mittragen. Bei der Lega ist das unklar, da ihr Anführer Salvini wegen seiner stark gesunkenen Popularität parteiintern in Frage gestellt wird. Teile der Lega würden lieber zur alten „Lega Nord“ zurückkehren, also zur Partei der Interessen des Po-Einzugsgebiets „Padania“, anstatt wie jetzt Frau Melonis Fratelli d`Italia mit blankem Nationalismus Konkurrenz zu machen.
2. Die M5S Minister danken ab. Es kommt zur Regierungsumbildung ohne M5S weiter unter Draghi im Auftrag des Staatspräsidenten. Das würden eventuell PD, Berlusconi, Salvini mitmachen, auch die Kleinparteien, Calenda zusammen mit der Ex-EU-Kommissarin Emma Bonnini, Renzi und andere wie Di Maio, die sich gerade um die Erbschaft Berlusconis in der engen „Mitte“ auf die Füße treten. Für die neuen Kleinparteien kämen Neuwahlen im Herbst zu früh, um sich für eine Wahl ausreichend zu positionieren.
3. Die M5S-Minister danken ab – wie in Möglichkeit 2. – aber Draghi ist nicht gewillt, Ministerpräsident einer Koalition mit kleinerer Mehrheit zu sein. Die Präsidenten beider Kammern suchen eine willige Person, die vom Staatspräsidenten beauftragt werden könnte, eine Regierung zu bilden. Das würde sich aber wohl kein Politiker mit längerfristigen Ambitionen antun, weil er befürchten müsste, kurz vor der regulären Wahl im Frühjahr 2023 daran zu verbrennen. Möglicherweise würde ein alternder Politiker noch einmal Ruhm erlangen wollen oder es müsste wieder eine „technische“ Persönlichkeit wie z.B. der Präsident der Zentralbank überredet werden.
4. Neuwahlen schon im Herbst 2022, wenn die anderen Optionen sich nicht realisieren ließen. Das wird etwa von Giorgia Meloni von den Fratelli d`Italia vehement gefordert, deren Partei derzeit in Umfragen vorn liegt, knapp vor PD. Lega und M5S haben in Umfragen seit den letzten Parlaments- bzw. Europawahlen deutlich an Zustimmung verloren.
Im Übrigen steht mit den nächsten Wahlen – wann sie auch immer stattfinden – eine drastische Verkleinerung beider Kammern an, die nach dem u.a. von M5S betriebenen erfolgreichen Referendum 2019 und der Wahlrechtsänderung 2020 umgesetzt werden muss. Sehr viele derzeitige Deputierte und Senatoren werden in der nächsten Legislaturperiode den nationalen Parlamenten nicht mehr angehören.
Bildquelle: Wikipedia, Flanker, CC BY-SA 3.0