Der Roman ist 1976 im Aufbau-Verlag in der DDR erschienen und wurde 2007 auch in der Bundesrepublik bei Suhrkamp verlegt.
Kindheitsmuster ist der autobiografisch grundierte Faschismus-Roman von Christa Wolf, in welchem sie individuelle und kollektiv Erfahrungen der Nazizeit verarbeitet: ein Erinnerungswerk an eine Kindheit in den 1930/40er Jahren, die in Landsberg an der Warthe (Provinz Brandenburg, Regierungsbezirk Frankfurt) spielt, um dann die Erlebnisse einer Jugendlichen namens Nelly und ihrer Familie während des Krieges und auf der Flucht gen Westen zu schildern. Auf einer zweiten Zeitebene reist Nelly rund vierzig Jahre später mit ihrem Mann, ihrem Bruder und ihrer Tochter Lenka (nicht zufällig im gleichen Alter wie Nelly damals) mit dem PKW nach Polen, um die Stätten ihrer Kindheit aufzusuchen.
Ein Buch voller Reflexionen über die Zeit in Form wie im ständigen Wechsel von Vergangenheit und Gegenwärtigkeit; Gedächtnis und Erinnerung; Nationalsozialismus als konkrete Erfahrung in der unmittelbaren Nähe von Familie und Nachbarschaft, von Schule und Lehrpersonal; von Prägungen, Denkmustern, Erziehungsprinzipien, Vorbildern und abschreckenden Beispielen menschlichen Verhaltens. Es geht um nichts weniger als die Frage nach Schuld und Mitschuld der deutschen Bevölkerung an den Verbrechen des Nazi-Regimes, auch und vor allem in Form des stillen Einverständnisses, der Zustimmung, des Mitmachens und der Langzeitwirkung von Prägungen im Spiegel kritischer Selbstbetrachtung einer Autorin, die sich und andere ständig danach fragt: Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?
Eine weitere Intention Wolfs ist es, das kollektive Vergessen und (Ver-)Schweigen von (bzw. über) Mittäterschaft aufzubrechen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt – immer wieder gibt es aktuelle Einsprengsel von Szenen aus dem Vietnamkrieg und über den Militärputsch in Chile als Beleg für die Wiederkehr des Schreckens und Grauens.
Mit dem Roman hat die Autorin an bestimmten Tabus der offiziellen Geschichtsdeutung der DDR gerüttelt; zum einen, indem sie aus Erfahrung nachweist, dass das Naziregime auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung gestoßen ist, während sie offiziell als Opfer einer Ideologie angesehen wurde; zum anderen, dass man die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im eigenen Land für abgeschlossen ansah und Wolfs erneute Beschäftigung damit mindestens für unzeitgemäß, wenn nicht für illegitim hielt; des weiteren widerspricht die Darstellung der Massenflucht gen Westen im Roman als einer Flucht vor der Sowjetarmee und den Russen der offizieller Darstellung, nach der diese als Retter und Befreier galten. Bedenkt man zudem, dass der Roman in der Zeit der Ausweisung Wolf Biermanns aus der DDR erschien, gegen die sich auch Christa Wolf öffentlich kritisch bekannte, so „erklärt“ sich, dass das Werk seitens der Kritik in der DDR fast vollständig ignoriert, wenn nicht totgeschwiegen wurde – mit wenigen Ausnahmen wie beispielsweise der Würdigung des Romans durch Stefan Hermlin.
Im Westen soll der Roman teils euphorisch gefeiert worden sein, teils niedergemacht. Dem Spiegel beispielsweise galt er als literarisches Dokument für den Mut zur Unaufrichtigkeit (so der Titel einer Rezension Hans Mayers von 1977), da sich hinter den scheinbar bloß literarischen Reflexionen die politischen Argumente … hervordrängen, die auf ein Verschweigen der Wahrheit hinausliefen. Man fragt sich, warum Hans Mayer zum Erscheinungszeitraum des Romans dieses negative Urteil fällt, während er später in seiner literaturgeschichtlichen Abhandlung Deutsche Literatur 1945-1985, erschienen 1988/89, anerkennend und würdigend davon spricht: Sie hat als Schriftstellerin kein Geheimnis gemacht aus diesem braunen Milieu, in dem sie in Landsberg an der Warthe aufwuchs. Ihr Roman ‚Kindheitsmuster‘ von 1976 ist ihr bisher umfangreichstes Erzählwerk geblieben. Mutig zweifellos in der für damalige DDR-Literatur beispiellosen Entschlossenheit, das Leben in einer Welt von Mitläufern und Gefolgsleuten des Dritten Reiches klar, geschärft durch Kindheitserfahrungen, als breites und allgemeines Kindheitsmuster zu schildern. Sie habe damit dem offiziellen Bild von der Kraft der Schwachen (Anna Seghers) des deutschen Volkes zu Recht widersprochen. Nichts davon war historisch belegt. Christa Wolf hatte als Kind das Gegenteil erfahren, um es nie wieder zu vergessen.
Hans Mayer hat auch den Vorgänger-Roman Nachdenken über Christa T. in seiner Literaturgeschichte ausführlich behandelt und literarisch gewürdigt, während er in der besagten Rezension von 1977 auch diesen politisch anzweifelt, indem er ihn in eine Linie zum Kindheitsmuster stellt. Um diesen Widerspruch zu erklären, geben die Tagebücher von Fritz J. Raddatz, der Mayer gut gekannt hatte, Hinweise; dort heißt es u.a., dass Mayers ästhetische Urteile … vollkommen nach Laune austauschbar gewesen seien; ein und derselbe Autor, wie etwa Peter Handke, fiel mal in Gnade, mal in Ungnade; im Fall von DDR-Autor:innen liege das auch daran, dass er mit der DDR beleidigt gewesen sei, worunter dann die von ihm Besprochenen zu leiden gehabt hatten (F. J. Raddatz, Tagebücher 1982-2001, 54, 865).
Hier nun einige zentrale Aspekte, die zum Verständnis des Romans Kindheitsmuster beitragen wie zum (Wieder-)Lesen motivieren mögen:
Ein großes Thema ist die Suche nach Erklärungen für das Massenphänomen der Übereinstimmung. Die Autorin fragt sich, wie, aufgrund welcher Prägungen, es entstehen konnte und welche Konsequenzen es gezeitigt hatte. Nelly erfährt wie Millionen anderer als Kind die Erziehung zu Gehorsam und Unterordnung. Etwa in Form der Aufforderung, Vernunft anzunehmen. Wenn das Kind dem gehorchend nachkommt, gelingt meist eine Übereinstimmung über Jahrzehnte hinweg. Vernunft als Dämpfer: ein Regelungssystem, das einmal eingebaut, hartnäckig darauf besteht, das Signal für ‚Glück‘ nur im Zustand vernünftiger Übereinstimmung aufleuchten zu lassen.
Die Zeiten, in denen Nelly heranwächst, sind von einem spezifisch autoritären Geist des NS-Regimes geprägt, der auf der individuellen Erfahrungsebene die Unterwerfung zu einem Akt freiwilliger Zustimmung macht. Das Mädchen tritt – gegen den Rat ihrer Mutter – freiwillig und überzeugt dem Bund deutscher Mädel bei, wo sie ihren Dienst so ordentlich versieht, dass sie später zur Führerin befördert wird. Christa Wolf reflektiert diese Bereitschaft damit, dass drei Motive im Spiel waren: neben Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis ging es um Kompensation, eine Art Tauschgeschäft: Anerkennung und verhältnismäßige Sicherheit vor Angst und übermächtigem Schuldbewußtsein werden ihr garantiert, dafür liefert sie Unterwerfung und strenge Pflichterfüllung. Sie hat erlebt, daß sie den Zweifeln nicht gewachsen ist. Sie nimmt sich jede Möglichkeit zu zweifeln, vor allem an sich selbst.
Das hier angesprochene Schuldbewusstsein hat zunächst nichts mit der kollektiven Mitschuld an den Nazi-Verbrechen zu tun, sondern ist ein Wesensmerkmal des Mädchens, das sich für alles Mögliche stets und ständig schuldig gefühlt. Durch die Zugehörigkeit zur Organisation BDM löst sich dieser Mangel an Selbstbewusstsein, aber auch der kritische Impetus des Zweifel(n)s in der Hierarchie des Kollektivs scheinbar auf und amalgamiert im Gefühl der Stärke und Überlegenheit.
Dem Mechanismus vom Ich zum Wir widmet die Autorin viel Aufmerksamkeit, da es um nichts weniger als eine Identitätsproblematik geht. Die Ausbildung eines Ichs wurde zugunsten des Kollektivs verhindert – oder das Ich wurde, wenn es bereits in Ansätzen ausgebildet war, ausgetrieben, was fatale Konsequenzen in Form verbreiteter Ich-Schwäche hatte. Man sieht hieran, dass Christa Wolf im Bemühen, solche Phänomene wie Unterwerfung zu erklären und die Mechanismen, die dazu führen, aufzudecken, auf sozialpsychologische Ansätze, wie etwa psychoanalytische, zurückgreift, womit sie auch eine gewisse Objektivität und Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer subjektiven Beobachtungen erreicht.
Das zeigt sich auch an der Rolle von Vorbildern. Nellys Idol in der Schulzeit ist eine ihrer Lehrerinnen namens Julia, die ihr zur Identifikationsfigur gereicht. Diese war nicht nur Parteimitglied und überzeugte NS-Verfechterin, sondern verfügte auch über eine gediegene kulturelle Bildung und große persönliche Ausstrahlung. Wolf macht an der engen Beziehung Nellys zu Julia über die vorbehaltlose Zustimmung hinaus noch fest, dass es sich nicht nur um Unterwerfung gehandelt hat, sondern um ein Bündnis, ein Einverständnis von Grund her, dabei allerdings doch auch … eine Art von Gefangenschaft? Nelly lernte die Liebe zuerst als Gefangenschaft kennen.
Wie ist dieser Ausdruck zu verstehen? Gefangenschaft bedeutet Unfreiheit, Fesselung, Eingesperrtsein, Bestrafung für eine Missetat. Deutet sich hier eine Entwicklungsperspektive des Mädchens im Sinne einer Emanzipation an? Oder geht es wieder um einen Tausch? Das bleibt offen.
Zur Identitätsproblematik gehört über den Mechanismus vom Ich zum Wir hinaus für die Schriftstellerin Wolf noch einiges mehr. Interessanterweise fasst sie ihre Hauptfigur Nelly aus der Kinder- und Jugendzeit in der 3. Person ab: sie; als erwachsene Frau wird sie zum Du, zur 2. Person, mit der die Erzählerin sie anspricht; die 1. Person kommt nicht vor. Wir wissen aus dem Vorgänger-Roman über Christa T., welche Entwicklungs- und Lernprozesse diese Figur zu durchlaufen hatte, bis es ihr gelang, endlich Ich sagen zu können. Dasselbe findet sich nun im Kindheitsmuster.
Unter Aspekten der Erinnerung heißt es hier:
Es ist der Mensch, der sich erinnert – nicht das Gedächtnis.
Der Mensch, der es gelernt hat, sich selbst nicht als Ich, sondern als Du zu nehmen. Ein Stilelement wie dieses kann nicht Willkür oder Zufall sein. Der Sprung von der dritten Person in die zweite (die nur scheinbar der ersten nähersteht) am Morgen nach einem lebhaften Traum. Neben dem Identitätsproblem leuchtet an diesem Zitat eine 3. Ebene der Konstruktion des Romans auf, nämlich die der Reflexion der Autorin über ihr Schreiben, über Sprache und Stilformen aus jener Zeit, während sie den Roman schrieb. An verschiedenen Stellen hadert sie mit Phänomenen der Selbstzensur, Selbstbewachung, ja Selbstbespitzelung, die sie anscheinend internalisiert hatte und von denen sie sich über Bewusstmachung befreien wollte, um der Anforderung an sich selbst Genüge zu tun: ganz anders zu schreiben, damit der Riß zwischen dem, was zu sein man sich zwingt, und dem, was man ist, sich schließt.
Ich halte – auch vor dem Hintergrund der Kritik von Hans Mayer – Christa Wolfs tiefgreifende, kritische (Selbst-) Reflexionen über Erinnerung, Vergessen, Filterungsmechanismen des Bewusstseins etc. für so relevant, dass ich mit einem längeren Zitat zu dieser Problematik aufwarten möchte:
Darauf warst du nicht vorbereitet. Die Schule, die Straße, der Spielplatz liefern Gestalten und Gesichter, die du heute noch malen könntest. Wo Nelly am tiefsten beteiligt war. Hingabe einsetzte, Selbstaufgabe, sind die Einzelheiten, auf die es ankäme, gelöscht. Allmählich, muß man annehmen, und es ist auch nicht schwer zu erraten, wodurch; der Schwund muß einem tief verunsicherten Bewußtsein gelegen gekommen sein, das, wie man weiß, hinter seinem eigenen Rücken, dem Gedächtnis wirksame Weisungen erteilen kann, zum Beispiel die: Nicht mehr daran denken. Weisungen, die über Jahre treulich befolgt werden. Bestimmte Erinnerungen meiden. Nicht davon reden. Wörter, Wortreihen, ganze Gedankenketten, die sie auslösen konnte, nicht aufkommen lassen. Bestimmte Fragen unter Altersgenossen, nicht stellen. Weil es nämlich unerträglich ist, bei dem Wort ‚Auschwitz‘ das kleine Wort ‚ich‘ mitdenken zu müssen. ‚Ich im Konjunktiv Imperfekt: Ich hätte. Ich könnte. Ich würde. Getan haben. Gehorcht haben.
Dann schon lieber: Keine Gesichter. Aufgabe von Teilen des Erinnerungsvermögens durch Nichtbenutzung. Und an Stelle von Beunruhigung darüber noch heute: Erleichterung. Und die Einsicht, daß die Sprache, indem sie Benennungen erzwingt, auch aussondert, filtert: im Sinne des Erwünschten. Im Sinne des Sagbaren. Im Sinne des Verfestigten. Wie zwingt man festgelegtes Verhalten zu spontanem Ausdruck?
Da spricht eine Schriftstellerin, die sich ihrer Verantwortung über alles, was sie sich mit diesem Roman (und darüber hinaus) auferlegt und vorgenommen hat, bewusst ist: über das Thema in seiner Vielschichtigkeit; ihre mögliche Selbstverstrickung und –beteiligung qua Erlebt- und Mitgemacht-Habens; die Fallstricke des Gedächtnisses, der Erinnerung und des Verdrängens von Erleben und Erfahrung; gewünschtes normiertes Verhalten versus Anforderungen an sich selbst, zumal als Schreibende usw. Solche Passagen lesen sich fast quälend angesichts des Ausmaßes an Skrupeln, Selbstvorwürfen, sich selbst-infrage-Stellens – was man bei Christa Wolf auch aus anderen ihrer Werke kennt – , dann aber auch staunend genau darüber: Vor der Klammer steht bei ihr die kritische Selbstbefragung, dann erst kommen Themen wie die Mittäterschaft breiter Bevölkerungsschichten und das Verleugnen von (Mit-)Schuld an den NS-Verbrechen zur Sprache.
Mittäterschaft als Massenphänomen gab es in der Herkunftsregion Nellys und ihrer Familie genauso wie überall in Deutschland und im deutschsprachigen Raum wie etwa in Österreich. In Erscheinung trat sie bekanntlich in verschiedenen Abstufungen und Formen: als Wegschauen bei der Festnahme und Deportation von jüdischen Menschen; als Zustimmung aufgrund latenter wie offener Abneigung gegen alles Jüdische; als Einräumen von Unrecht im Allgemeinen bei gleichzeitigem Sich-Freisprechen von persönlicher Schuld etc. Unter den Topoi Wir haben nichts gewusst sowie Ja, aber ich/wir doch nicht verwandelte sich die Mitschuld in eine massenhaft getragene weiße Weste.
Die Freisprechung von Schuld kam auch in Form der Behauptung auf, man sei belogen worden. Belogen? Das wäre wohl zu einfach gedacht … Über die wichtigsten Dinge sei ja niemand belogen worden. Habe Hitler nicht von Anfang an mehr Lebensraum für das deutsche Volk gefordert? Das sei für jeden denkenden Menschen der Krieg gewesen. Habe er nicht oft und oft gesagt, er wolle die Juden ausrotten? Er hat es, soweit er konnte, getan. Er hat die Russen zu Untermenschen erklärt. Als solche wurden sie dann behandelt, von Leuten, die glauben wollten, daß es Untermenschen waren…
Christa Wolf sieht in solchen Schutzbehauptungen wie in solchem Verhalten insgesamt das schleichende Gift der Zersetzung, das auch in der Nachkriegszeit weiterwirkt, nicht nur in Redewendungen wie bis zur Vergasung.
So gibt sie auch dem Ausdruck der Massenverbrechen eine doppelte Bedeutung, wonach er sowohl das Verbrechen an den Massen als auch das massenhafte Auftreten von Tätern und Mittätern bezeichnet. In der Person des Emil Dunst, der Nelly als einer aus der Nachbarschaft bekannt ist, sieht die Autorin den prototypischen Mitmacher: überall einsetzbar, für alles zu verwenden, immer tüchtig und pflichtbewusst zu tun bereit, was von einem verlangt wird. Unterwerfung eben. Und, wie ein überlebender Auschwitz-Häftling über den Charakter der SS-Bewacher sagt: Austauschbar.
Zum Schluss sei die Aufmerksamkeit noch auf Phänomene wie Sprach-Unmächtigkeit, Erinnerungs- und Gewissensverlust in Christa Wolfs Roman gelenkt, die mit Fragen der Aufarbeitung und Bewältigung der NS-Vergangenheit als Bürde der deutschen Geschichte zu tun haben.
Unter einer in der Bevölkerung verbreiteten Sprach-Unmächtigkeit versteht die Autorin eine gewisse Sprachlosigkeit, also die Unfähigkeit des Sprechens über Ereignisse oder Erfahrungen oder Erlebnisse, die als unpassend, also nicht ins Bild, nicht in die gewohnten Ordnungsschemata passend, wahrgenommen oder als peinlich empfunden und deshalb verschwiegen oder verdrängt worden sind. Diese Sprach-Unmächtigkeit. Gut beleuchtete Familienbilder ohne Worte. Sprachloses Gebärdenspiel auf ordentlich aufgeräumter und abgestaubter Bühne. Da sie diese befleckte Form der Wohlanständigkeit nicht billigen kann, zieht sie daraus eine radikale Konsequenz: Wovon man nicht sprechen kann, muß man allmählich zu schweigen aufhören. Es handelt sich um die Umdeutung einer Aussage von L. Wittgenstein (Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen), deren Sinn hier ins Gegenteil verkehrt wird.
Zum Verschweigen gehört das Verdrängen, zum Verdrängen wiederum der Erinnerungsverlust, und dieser geht bei Christa Wolf mit dem Gewissensverlust einher. Chronische Blindheit … Daß die Frage nicht heißen kann: Wie werden sie mit ihrem Gewissen fertig?, sondern: wie müssen die Verhältnisse beschaffen sein, die massenhaft Gewissensverlust zur Folge haben? Wenn an dieser Stelle von den Verhältnissen die Rede ist, dann wird im Roman nicht etwa das Subjekt (individuell wie kollektiv) von Schuld freigesprochen oder zum Opfer derselben erklärt – es ist vielmehr der Versuch einer materialistischen Erklärung von Massenphänomenen wie dem Verlust des moralischen Kompasses in Form von Gewissensverlust.
Wie wichtig der Autorin gerade diese Frage auch als eine auf der subjektiv-individuellen Ebene ist, zeigt sich an folgender Szene: Nelly Mutter spricht mit einem überlebt habenden KZ-Insassen über die Gründe, warum er ins KZ gekommen sei; dieser antwortet: ‚Ich bin Kommunist.‘ ‚Ach so, sagte die Mutter. Aber deshalb alleine kam man doch nicht ins KZ.‘
Nelly mußte sich wundern, daß sich im Gesicht des Mannes doch noch etwas verändern konnte. Zwar konnte er keinen Zorn mehr zeigen, oder Verblüffung, oder auch nur Erstaunen. Ihm blieben nur die tieferen Schattierungen der Müdigkeit. Wie zu sich selbst sagte er, ohne Vorwurf, ohne besondere Betonung: Wo habt ihr bloß alle gelebt.
Natürlich vergaß Nelly den Satz nicht, aber erst später – Jahre später – wurde er ihr zu einer Art Motto.
Das Zitat spricht für sich. Mit ihrem Roman Kindheitsmuster – im Singular verstanden, also nicht diverse Muster als Prägungen, sondern dieses eine, das eine ganze Generation, nämlich ihre, durch das Naziregime geprägt hat – hat Christa Wolf viel für die Aufarbeitung des Faschismus in Ost und West geleistet. Dabei ist unerheblich, wann sie diesen schrieb, denn hier gilt kein Zeitpunkt für richtig oder falsch, sondern das Gelingen eines solchen Projekts: die tiefe Durchdringung von Bewusstseinsphänomenen (inklusive solchen des Unbewussten), die zur Erklärung des Mitmachens, des Daran-Glaubens, der Unterwerfung etc. beigetragen haben. Dazu musste auch erst einmal die Fähigkeit als Schriftstellerin herangereift sein, sich dieser Aufgaben gewachsen zu fühlen. Auch Peter Weiss hat die Ästhetik des Widerstands als seinem Roman zur Verarbeitung des Faschismus „erst“ in den 1970er Jahren geschrieben. Oder Dieter Wellershoff, der sein Buch Der Ernstfall – Ansichten des Krieges ebenfalls relativ spät vorlegte. Kurzum: Nicht auf das Wann kommt es an, sondern dass überhaupt diese aufklärende Literatur geschrieben wurde und wie, mit welchem Impetus, dies geschah, ist von Bedeutung.