Es ist schon länger her, dass ich die „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ von Uwe Johnson las und darüber einen Text verfasste, in dem ich meine Leseeindrücke festhielt (Petra Frerichs, Momentaufnahmen. Notizen über Literatur, Malerei und Film, BoD 2010). Es war ein hartes Stück Arbeit, diesen großen Roman, der als Johnsons Hauptwerk gilt, zu verstehen und die literarische Bedeutung zu erfassen. Ich habe darauf geachtet, wie der Autor sein Werk aufbaut, welche Handlungsebenen und Zeiträume darin vorkommen und wie er seine Figuren konstruiert. Nun hat der von mir hochgeschätzte Schauspieler und Hörbuch-Einleser Charly Hübner ein Buch über diesen Autor und sein Werk geschrieben, in dem er ganz anders vorgeht, als ich es damals tat. Und dieses sein Herangehen hat mich so beeindruckt, dass ich hier eine charakterisierende Besprechung versuchen möchte, damit das relativ schmale Buch noch mehr Verbreitung und Bekanntheit erfährt.
Hübner macht aus seiner großen Verehrung von Uwe Johnson kein Hehl. Er hat sich immer wieder und über lange Zeit hinweg mit diesem nicht gerade einfach zu lesenden Autor auseinandergesetzt. An den Jahrestagen hat er sich bildlich gesprochen die Zähne ausgebissen und immer wieder Anläufe genommen, um diesen Roman zu begreifen. Damit man seinen Lernprozess nachvollziehen kann, hat er dies in insgesamt neun sogenannten Versuchen vollzogen; diese neun Kapitel weisen jeweils verschiedene Herangehensweisen und thematische Schwerpunkte auf, so dass eine Art Mosaik entstanden ist, woraus man sich beim Lesen eine Art Gesamtkunstwerk zurechtlegen kann. Bescheiden, wie Hübner ist, nennt er diese Abschnitte eben Versuche – ein Understatement, das er mit Johnson gemeinsam hat. Der Reiz dieser Form liegt darin, dass man die verschiedenen Facetten seines Zugang zum Autor Johnson und seinem literarischem Werk unterscheiden kann; darüber erfährt man einiges über Affinitäten, Vorlieben und biografische Grundierungen, welche den Prozeß der Annäherung nachvollziehbar machen.
Die ersten Kapitel handeln davon, wie Hübner vom Fan zum lesenden Bewunderer Johnsons geworden ist. Dies geschah anlässlich seines Hörbuch-Einlesens der Romane Das dritte Buch über Achim und Jahrestage. Über diese intensive Beschäftigung mit Autor und Werk nimmt er auch brennende Themen wie die deutsche Teilung und die Entstehung zweier deutscher Welten auf, die mit seinen eigenen politischen Erfahrungen übereinstimmen. Was bleibt, ist trotz der schwer zugänglichen Sprache Johnsons eine Übereinstimmung im Denken. Doch auch mit den Mutmaßungen über Jakob, dem dritten Buch von Johnson, die Hübner immer wieder parallel zu lesen beginnt, gelingt noch nicht der wahre Durchbruch.
Annäherungen erfolgen sodann über die Gemeinsamkeit ihrer mecklenburgischen Herkunft; Hübner läßt uns wissen, wie vertraut ihm die ganze Geografie in Johnsons Werk ist; und auch so manche biografische Ähnlichkeit nach Herkunft und Familie, der gesprochene Dialekt der Romanfiguren und die Wahrnehmungen der deutschen Teilung im Erfahrungsbereich verschaffen eine Nähebeziehung.
Litten Menschen wie mein Vater, Johnson und viele, viele andere unter diesem Riss, der Leben zerstörte, Lebenswege neu formte, der Weltgeschichte wurde, so ist mein Wesen immer wieder darauf aus, diese Störung zu sehen. (…) Und da taucht so ein Autor auf, mit englisch aussehendem Nachnamen, und nach kurzer Eingewöhnung stellt man fest, dieser Autor zieht mich nicht an der Leine durch den Strudel seiner Sicht der Dinge, sondern da sammelt jemand so ausführlich wie möglich Stein für Stein aus dem Mosaik des Lebens auf und puzzelt mit großer Ausführlichkeit ein Panorama zusammen, was eben nicht die eine Story in sich trägt, sondern Hunderte.
Es sind solche thematischen Bezugspunkte in Johnsons Werk, die den Rezipienten Hübner deshalb so stark ansprechen, weil sie verallgemeinernd gültig sind; sie geben die Grundierung der Biografien ganzer Generationen von Menschen ab. Das Ausmaß an Leid und Verstörung durch den biografischen Riss, der Politik, Gesellschaft und individuellen Lebensweg heillos verknüpft, wird in Johnsons Romanfiguren exemplarisch aufbewahrt und damit dem Vergessen entrissen.
Die Frage ist nun, wie Johnson seine Romanfiguren konstruiert, um diese Verallgemeinerbarkeit erfahrbar zu machen. Und damit sich auseinanderzusetzen, also mit welchen literarischen Mitteln der Sprache und der Gestaltung der Figuren der Autor es schafft, dies zu erreichen – das ist nach meiner Lesart der Höhepunkt von Hübners Studie. Im Zuge seiner Aneignung des Johnsonschen Werks hat er nachvollziehbar die Hürden überwunden, die Johnsons Sprache aufbaut; sie gilt gemeinhin für kompliziert, affektiert, unzugänglich, doch unter Berufung auf literaturwissenschaftliche Experten wie Hans Mayer läßt sich diese Sprache als Sinnträger entschlüsseln, der in direktem Zusammenhang mit dem Personaltableau der Romane steht. Gleichwohl stimmt, dass sie „nicht einfach“ ist.
Die Vielfalt seiner Sprache, seines Sprechens ist nicht eben mal so überschaubar. Sie ist unermesslich und scheint dadurch ungeheuerlich. Ungeheuerlich, nicht weil das so ein toll krachendes, nebliges Wort ist, sondern weil man neben dem klassischen Johnson’schen Zitattonfall, dem des Chronisten, des Erzählers, des Kommentators, eine Sprache erkennt, die es ihm ermöglicht, Menschen kenntlich zu machen – möglichst klar und präzise und sie trotzdem durch seine Sprache, durch die manchmal gescholtene Syntax oder eben die Geziertheiten schützt.
Mit dieser Deutung der Johnsonschen Sprache ist ihre erste Bedeutung oder Funktion ermittelt: sie macht die Romanfiguren kenntlich, sichtbar, wahrnehmbar, und sie erfahren dadurch ineins einen Schutz (durch den Autor). So wird der innere Zusammenhang von Sprache, Figuren und ihren Geschichten, ausgedrückt in Zitaten, erkenn- und nachvollziehbar. Dass Hübner dem formalen Ausdrucksmittel des Zitierens einen hohen Stellenwert für die Interpretation beimisst, eröffnet eine weitere Möglichkeit des Verstehens und Erklärens.
Und der Clou für mich ist, dass er hierin eine Form des epischen Theaters erkennt. Das kommt bei Hübner aus profundem Mund, denn er hat seine berufliche Ausbildung an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin absolviert. Und sein Bezug auf Bertolt Brechts Episches Theater hat hier diesen Sinn: Studiere die Menschen im Alltag, lerne sie zu imitieren, und bringe sie mit all deiner höchstpersönlichen Menschenkenntnis auf die Bühne, vor die Kamera – und genau das macht Uwe Johnson mit Grandezza. (…) Diese epische Grandezza orientiert sich an den Figuren und ihren Geschichten, sie, nur sie sind der Maßstab der Erzählung und des Stils. Diese spielerische Weite macht ihn zu dem Epiker, den ich anderen schreibenden Menschen so dringend, ich sage jetzt mal, empfehle.
Das ist seine Kunst: Hinhören, Verstehen, Weitersagen!
Und aus diesem Grund hat er nicht den einen Stil.
Sein ‚Stil‘ ist das Spiegeln der Welt, wie sie ihm begegnete.
Diese Schlussfolgerung Hübners ist für mich ein Erkenntnisgewinn, der dazu verhilft, das literarische Werk Uwe Johnsons zu entschlüsseln. Wie so oft schon motiviert mich so etwas zum Wiederlesen eines seiner Werke. Dafür sei auch Charly Hübner bedankt.