Chaostage in der SPD. Versagen der Parteiführung. Das Echo in den Medien ist verheerend. Aber, um es mit dem geflügelten Satz Gerhard Schröders nach seiner Wahlniederlage 2005 zu sagen: „Jetzt müssen wir doch mal die Kirche im Dorf lassen!“ Denn das Chaos bei der Kandidatenkür war in der SPD schon größer als in den letzten vierzehn Tagen.
So im Vorfeld der Wahl von 2009, als über Monate der Parteivorsitzende Kurt Beck als möglicher Kandidat niedergemacht wurde und sich schließlich für Frank Walter Steinmeier aussprach. Oder auf Druck aussprechen musste.
So 2013, als Peer Steinbrück in einer Sturzgeburt zum SPD-Spitzenmann ausgerufen wurde. Irritierend, dass diejenigen, die damals an diesen Chaos-Entscheidungen mehr oder weniger direkt beteiligt waren, in den letzten Wochen Ratschläge gaben, wie zu verfahren sei: Der Parteisenior Franz Müntefering 2009 wenigstens indirekt und Sigmar Gabriel 2013 als Parteivorsitzender unmittelbar.
Was sich in den letzten Wochen in der SPD abgespielt hat, bis zur Benennung von Olaf Scholz durch den Parteivorstand – die endgültige Entscheidung auf dem Parteitag im Januar steht noch aus – ist nicht schönzureden. Aber es wäre in der Bundesrepublik eine einmalige und groteske Situation gewesen, den eigenen Kanzler als Kandidaten vor die Tür zu setzen. Das wäre auch ein Eingeständnis gewesen, dass der eigene Anteil an der Regierungsarbeit in der schwierigen Ampel-Koalition gescheitert ist.
Mag ja sein, dass mit dem populären Boris Pistorius bei der Wahl ein paar Prozentpunkte mehr erreicht worden wären. Aber diese Punkte hätten auch zu einem Pyrrhussieg werden können, weil sie durch eine zerstrittene Partei geholt wurden. Und Zerstrittenheit bedeutet Gewissheit, dass sich die Bürger noch mehr von dieser Partei abwenden. Geschlossenheit war das Erfolgsgeheimnis des knappen Wahlsiegs 2021. Demonstrativ geschlossen gegen eine zerstrittene Union und ihren gescheiterten Kandidaten Armin Laschet. Aber Scholz gab sich der Illusion hin, der Erfolg sei Produkt seiner Genialität. Und niemand hatte in der Partei den Mumm, ihm diese Illusion auszutreiben.
Popularitätswerte sind im Politikerranking eine sehr vage Erfolgsaussicht. Wer Spitzenkandidat wird, der wird „über den Schleifstein gezogen“ (Peer Steinbrück). Und da wären bei Pistorius viele Blindstellen jenseits von Verteidigungs- und Sicherheitspolitik durchleuchtet worden.
Über diesen „Schleifstein“ ist Scholz zur Genüge, aber auch zu recht gezogen worden. Ohne den Eindruck zu vermitteln, daraus etwas gelernt zu haben.
Ein Bundeskanzler ist nicht der Seelsorger der Republik, aber er sollte auch nicht ihr Oberlehrer sein, der das Land mit Frontalunterricht überfährt. Olaf Scholz hat die Menschen oft intellektuell überfordert und sie emotional allein gelassen. Ein kühler Hanseat eben? So einfach ist das nicht. Helmut Schmidt, der Hanseat an sich, konnte mitreißen und emotionalisieren. Olaf Scholz ist das nicht gegeben. Deshalb setzt er auf seine Intellektualität, die die Menschen oft ratlos zurücklässt. Er hat den Bogen zwischen sich und den Menschen nicht spannen können. Stattdessen vermittelte er Überheblichkeit: Olaf Scholz ist der beste Bundeskanzler nach – ja wem wohl? Olaf Scholz.
Sein unbegreifliches Manko ist, dass er trotz Jahrzehnten in der Politik nicht verstanden hat, wie Medien funktionieren. Er glaubt ernsthaft, er könnte die Akteure in diesem Geschäft belehren.
Soviel zu seinen Schwächen. Dennoch hat er das Land in einer schwierigen Koalition, in einer noch schwierigeren Weltlage ganz gut durch die letzten Jahre gelenkt. Seine Kür-Noten sind schlecht, seine Pflichtnote ansehbar. Aber davon wird er die Menschen in den kommenden Wochen überzeugen müssen. Nicht von oben herab, sondern nahbar.
Denn für die SPD geht es um viel. Nach Stand heute wird es eines Herkules-Kraftakts bedürfen, die davon geeilte Union und ihren Kandidaten Friedrich Merz einzuholen. Ein Debakel wäre es, wenn die Partei nicht nur hinter der CDU/CSU und der AFD auch noch hinter den Grünen und ihrem populären Kandidaten Robert Habeck landen würde.
Aber lassen wir doch mal die Kirche im Dorf. In diesem kurzen Wahlkampf kann jeder Stolperer spielentscheidend sein. Denn auf eines dürfen die Wählerinnen und Wähler der demokratischen Mitte bei den Spitzenkandidaten gespannt sein: Legt Scholz seine Abgehobenheit ab, verheddert sich Friedrich Merz in seiner unberechenbaren Spontaneität oder verfängt Habecks Plauderton wirklich in diesen schwierigen Zeiten?