Die Union wird, nach Lage der Dinge, die nächste Bundestagswahl – spätestens im September 2025 – gewinnen. Also dürfte Friedrich Merz, der momentan unbestrittene Vorsitzende der CDU, neuer Bundeskanzler werden. Wenn nicht noch ein politisches Wunder geschieht oder sich in diesen krisenhaften Zeiten das Blatt zu Gunsten der amtierenden Koalition wendet (schwer vorstellbar), kann sich die Republik schon mal auf eine Bundesregierung einrichten, die der gegenwärtige Oppositionsführer bildet – mit welchem Partner auch immer. Merz muss sich mutmaßlich zwischen der SPD und den Grünen entscheiden.
Drei Tage lang hatte die Öffentlichkeit Zeit, sich mit Personal und Programmatik der CDU zu beschäftigen. Danach ist klar, dass sich der Vormann aus dem Sauerland die Butter nicht mehr vom Brot nehmen lässt, weder von seinen innerparteilichen Konkurrenten Hendrik Wüst oder Daniel Günther, die sich ins Unvermeidliche fügen, noch vom breitbeinigen CSU-Boss Markus Söder, der sich Friedrich Merz fast schon lammfromm als verlässlicher Steigbügelhalter andiente. Die Union insgesamt setzt auf den Alt-Konservativen, trotz mancher Vorbehalte, nicht zuletzt wegen dessen fehlender Zugkraft jenseits des christlichen Parteilagers.
Inhaltlich nahm die CDU auf ihrem Berliner Kongress eine deutliche Abkehr von den Merkel-Jahren vor. Die ehemalige Kanzlerin fehlte bei dem Treffen in Neukölln demonstrativ, ihr ist nicht bloß Friedrich Merz als Galionsfigur im kommenden Wahlkampf suspekt, sondern auch eine Union, die sich erkennbar nach rechts bewegt. Per Rolle rückwärts in die Zukunft: Zurück zur unter einem CSU-Verteidigungsminister ausgesetzten Wehrpflicht, am liebsten auch zur Atomenergie, Abschied vom Bürgergeld, das sie in der Großen Koalition einst mit konzipierte, neue Strenge gegenüber Zuwanderern, Arbeitslosen und Muslimen. Die „Leitkultur“ des neuen Grundsatzprogramms irritiert nicht nur die Kirchen, sondern auch liberale Geister in den eigenen Reihen.
Die Kehrtwende der CDU auf fast allen Politikfeldern – Inneres, Wirtschaft, Soziales, Gesellschaft – fiel Friedrich Merz und seinem strammen Generalsekretär Carsten Linnemann im Vollzug schon deshalb leicht, weil Angela Merkel wie auch in ihrer kurzzeitigen Nachfolge Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet ein eher nebulöses Erbe hinterlassen hatten, Forscher sprachen von einer weithin „entkernten“ Parteiprogrammatik. Nun muss sich zeigen, ob das veränderte Angebot bei der Kundschaft ankommt. Dass sich Friedrich Merz seiner Sache nicht völlig sicher scheint, wurde bei der Debatte um Prinzipien und Werte der Union mehr als deutlich. Beobachter rieben sich die Augen, wie zahm sich der sonst zu Polemik und Polarisierung neigende Vorsitzende vor den über 1000 Delegierten gab, wie viel Kreide er gefrühstückt hatte, um seinen seit Monaten erprobten Imagewandel nur ja nicht zu gefährden: Alles neu macht der Merz – vom hartleibigen Marktradikalen zum kulanten Kanzler in spe.
Diese Rechnung ist jedenfalls auf dem Parteitag der CDU aufgegangen, trotz eines nicht berauschenden Wahlergebnisses von nicht einmal 90 Prozent für Merz. Alle anderen Fragen, die für die Union mit einer erfolgreichen Kampagne 2025 verbunden sind, blieben offen. Wer sind die „Hauptgegner“ im bevorstehenden Wahlkampf – die AfD, die Grünen, die FDP, die SPD? Das sehen die Christdemokraten je nach Standort völlig unterschiedlich. Wie will die Merz-CDU ihr Defizit bei Frauen und Jungwählern kurzfristig wettmachen? Auch hier gab der Parteitag eine höchst vielstimmige Antwort. Schließlich: Welche strategischen Optionen nimmt das Wahlprogramm der Union in den Blick: Schwarz-Grün, Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, größtmögliche Offenheit? Selbst Friedrich Merz schwankt bei dieser Entscheidung hin und her. Der bislang nicht eben als Grünen-Freund bekannte Ordoliberale ist offenkundig nicht dezidiert abgeneigt, statt einer von der CSU stark präferierten GroKo durchaus über das Koalitionsmodell nachzudenken, das seine internen Widersacher Wüst und Daniel in ihren Ländern nicht ohne Erfolg praktizieren.
Friedrich Merz greift nach der Macht im Bund, daran lässt er keinen Zweifel aufkommen, und er will sich seine realen Chancen auf die Rückkehr der Union an die Schalthebel in Berlin nicht dadurch verderben, dass er das Wahlvolk persönlich oder durch zugespitzte Forderungen verprellt. Allerdings bergen die kommenden Monate bis zur formalen Kür des CDU-Chefs zum Kanzlerkandidaten der Union noch jede Menge Risiken – die größte Gefahr geht für Merz von den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland aus. Je nachdem, wie seine Partei dort abschneidet und welche Turbulenzen die voraussichtlich komplexen Koalitionsverhandlungen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen hervorrufen, könnte der augenblickliche Rückhalt für den Vorsitzenden doch noch einmal bröckeln. Friedrich Merz ist nach dem CDU-Parteitag in einer scheinbar komfortablen Position, um Olaf Scholz in gut 15 Monaten abzulösen, aber sicher fühlen darf er sich längst nicht.