Darf‘s ein bisschen mehr sein? Nach dieser Devise hat die Ampelkoalition ihren Kompromiss zum neuen Wahlrecht gefunden. 630 Abgeordnete soll der Bundestag in Zukunft zählen. Die ursprünglich angestrebte Zahl von 598 Abgeordneten ging auf der Zielgeraden der Verhandlungen noch über Bord. Die Verkleinerung fällt gemessen an den aktuell 736 Sitzen dennoch deutlich aus, und: an der Zahl soll nicht mehr zu rütteln sein. Schwankungen, wie sie bisher durch Überhang- und Ausgleichmandate zustande kamen, gehören der Vergangenheit an.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nachdem die Wahlrechtskommission ihre Arbeit aufgenommen hat, stimmt das Parlament voraussichtlich noch in dieser Woche über ein Jahrzehnte altes Reformvorhaben ab. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) hatte das bei ihrem Amtsantritt zugesagt. Ihre Vorgänger Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble (beide CDU) waren mit ihren Bemühungen regelmäßig gescheitert.
Verantwortlich dafür war vor allem die CSU, die besonders von den Überhangmandaten profitiert hat. Diese Mandate fielen immer dann an, wenn eine Partei bei der Wahl mit der Erststimme mehr Direktmandate holte, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zugestanden hätten. Das kam von Bundestagswahl zu Bundestagswahl immer häufiger vor. Denn seit der Einführung des personalisierten Verhältniswahlrechts ist die Parteienlandschaft vielfältiger geworden. Bei der Erststimme genügten oft Ergebnisse um die 30 Prozent für den Erfolg, und um die Zweitstimme der Wählerinnen und Wähler haben zuletzt mehr als 50 Parteien geworben. Immerhin sechs Fraktionen sitzen im aktuellen Bundestag. Jahrzehnte lang waren es halb so viele gewesen.
Von Wahl zu Wahl kam es zu neuen Rekordgrößen. Der Plenarsaal und die Abgeordnetenbüros platzten aus allen Nähten. Jedes Mal mussten eine engere Bestuhlung und zuletzt sogar Container her. Das soll nun ein Ende haben. Nach der Einigung in der Ampel hat der Bundestag in Zukunft 630 Abgeordnete. Die bisherige Sollgröße von 598 wird um 32 überschritten. Dieser Kompromiss dient dazu, die Anzahl „verwaister“ Wahlkreise möglichst gering zu halten.
Denn die Reform geht mit einem Kulturbruch einher. Erstmals überhaupt kann einer/m mit der Erststimme im Wahlkreis gewählten Abgeordneten der Einzug in den Bundestag verwehrt bleiben, falls das Zweitstimmenergebnis der Partei das Mandat nicht hergibt. Von der ursprünglichen Idee, den Wahlberechtigten für diesen Fall eine dritte Stimme – die sogenannte Ersatzstimme – zu geben, die sichergestellt hätte, dass jeder der insgesamt 299 Wahlkreise persönlich im Parlament vertreten ist, waren die Reformer im Laufe der Beratungen wieder abgerückt. Zu kompliziert und nicht vermittelbar sei das.
Die nun gefundene Konstruktion soll gewährleisten, dass die Menschen an ihrem Wohnort auch in Zukunft einen direkten Ansprechpartner haben. Wie sich das in der Wirklichkeit bewährt, bleibt ebenso abzuwarten wie das Urteil aus Karlsruhe. Es gilt als sicher, dass die Wahlrechtsreform vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird.
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