Kürzlich schrieb der Schweizer Manager Simon M. Ingold in der Neuen Zürcher Zeitung, der Individualismus sei „außer Rand und Band“ geraten.
Er schrieb, man berufe sich auf den Individualismus als „Idealzustand menschlicher Existenz und Korrektiv gegen staatliche Kontrolle“. Aber tatsächlich erweise sich der „ungebremste Individualismus heute … als Sackgasse“.
Ingold hat ein weit verbreitetes Unbehagen recht unverblümt wieder gegeben. Das ist wohl so. Der Trend hin zu individualistischen Eskapaden und weg vom gut begründeten Gemeinwohl ist unübersehbar. Für mich ist die Volksabstimmung über die Randbebauung des Tempelhofer Feldes von Berlin im Jahr 2014 das Paradebeispiel. Obgleich tausende Familien in der Bundeshauptstadt damals bereits unter der Not an preisgünstigen und stadtnahen Wohnungen litten, entschied eine Mehrheit überwiegend jüngerer, urbaner, überwiegend sozial gut gestellter, individualistischer Bürgerinnen und Bürger, dass neue Wohnungen am Rand des Feldes nichts zu suchen hätten. Ein Kompromiss war nicht möglich.
Ich folge Ingolds These nicht, dass dem überbordenden Individualismus ein „kollektivistischer Backlash“ folgen werde, also eine „Knechtschaft des Egos“. Das ist mir zu mechanistisch gedacht. Aber eine breite kritische Debatte der individualistischen Erscheinungsformen ist dringend notwendig. Ich möchte das am Beispiel erläutern.
In Bonn hat die neue grün-rot-rote Stadtregierung einen Konflikt geerbt. Der legt in klassischer Weise den Gegensatz zwischen einem Individualismus offen, dem es schwer fällt, sich zu hinterfragen und dem allgemeinen Bedürfnis nach preisgünstigem Wohnen. In diesen Tagen flatterten den Bonnern die Stimmzettel im Rahmen eines Bürgerentscheids zum Konflikt in Häuser und Wohnungen.
Auf einer die Stadt begrenzenden Rheinhöhe liegt das Melbbad. Ein schön gelegenes, traditionelles Freibad mit glänzenden Aussichten für Besucher und beträchtlichem Freizeit-Wert. Es muss rundum saniert werden, weil seine Einrichtungen in die Jahre gekommen sind und nicht mehr viel taugen. Sie sind marode.
Das kommunale Bonner Bau- Und Immobilienunternehmen Vebowag plant, am Rande des Bads einen Komplex mit 85 von den Steuerzahlenden geförderten also subventionierten Wohnungen für weniger Betuchte hochzuziehen, wobei das Untergeschoss des neuen Komplexes den Bade- Einrichtungen wie Umkleide etc. vorbehalten bleiben soll. Daher sehen manche das Ende des schönen Bads heraufziehen („Rettet das Melbbad“), man befürchtet verschattete Schwimmbecken, den Verlust einer Kaltluftschneise für Bonn, Spannerblicke auf badende Kinder und Frauen, Lärmklagen – so jedenfalls fasste das Kölner Boulevardblatt Express den Protest zusammen.
Es gibt in diesem Zusammenhang ein grundsätzliches, „beißfestes“ Misstrauen gegen so ziemlich alles, was die städtische Verwaltung vorhat. Man traut der Verwaltung und Teilen des Stadtrats – ironisch geschrieben- auf der einen Seite wenig, auf der anderen Seite alles zu. Viele Einzelfälle städtischen Versagens bis in die letzten Tage hinein ergeben eben Misstrauen.
Stadt und Vebowag antworteten mit Gutachten wegen des befürchteten Lärms, der Kaltluftschneise, wegen der Verschattung und versprachen, das Bad bleibe wo es ist. Der Deutsche Wetterdienst sah keine Kaltluftnachteile, die Verschattung halte sich in sehr engen Grenzen. Das ist die Lage.
Werfen wir einen Blick auf die Bundesstadt. Die wächst von Jahr zu Jahr um einige Tausend Neubürgerinnen und Neubürger. Sie hat die 300 000- Grenze längst übersprungen, peilt die 330 000 an. Sie galt als Beamten- und Diplomatenstadt. Beamtenstadt ist Bonn immer noch. Aber nicht nur.
Wer sich die Bevölkerungsstruktur anschaut, findet in den Grenzen der Stadt rund 21 Prozent Arbeiterinnen und Arbeiter. Wer diejenigen hinzu rechnet, die formal als Angestellte gelten, aber faktisch wie Arbeiter da stehen, weil sie in den weniger gut bezahlten Dienstleistungsbereichen schaffen, die Küchen in Schuss halten, putzen, Dreck wegräumen und anderes mehr, der kommt an die 40 Prozent. Wer nach Bonn zieht und eine Wohnung sucht, findet als Rechengröße: Der Durchschnitts- Verdiener muss im Schnitt 46 Prozent seines Einkommens für die Nettokaltmiete auf den Tisch legen. 46 Prozent. Damit liegt Bonn vor München mit seinen berüchtigt hohen Mieten.
Wer also ohne überdurchschnittliches Einkommen zuzieht, der wandert häufig ins Umland. Er oder sie stärken damit das Heer der 130 000 täglich nach Bonn hinein pendelnden Beschäftigten. Weitere Zehntausende pendeln täglich aus Bonn hinaus.
Es existiert eine Art „Wasserscheide“:
Die einen können es sich leisten, zwischen teuren Wohnungen in Bonn zu wählen, die es durchaus gibt; andere müssen nehmen, was sie kriegen, wenn sie etwas kriegen. Kein Wunder, dass Sozialarbeiter im armen Stadtteil Tannenbusch den Konflikt um den Wohnungsbau am Melbbad etwas anders bewerten als diejenigen, die den Wohnungsbau verhindern möchten. In vielen Ohren klingt der Slogan der Vebowag-Kontrahenten „Melbbad als grüne Oase erhalten, riesigen Wohnkomplex verhindern“ wie ein schlechter Witz.
Da in Bonn während der vergangenen Jahre verheerend wenig Wohnungen für Normal- und Durchschnittsverdiener hochgezogen wurden und sich die Verhältnisse im öffentlichen Nahverkehr während der nächsten Jahre, mittelfristig fünf, sechs Jahre, nicht qualitativ und erheblich verbessern werden, muss in Bonn jetzt rasch gebaut werden.
Aber wie rasch ist rasch? Hier ist tatsächlich ein klassischer Konflikt entstanden zwischen einer auf Individualismus setzenden Schicht, die ihre Lebensqualität sowie die gewohnte Umgebung erhalten will und der kollektiven Forderung nach günstigem und modernem Wohnraum für alle, die den benötigen.
Ein klassisches Merkmal der Freiheit besteht in der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Für viele ist diese Wahl außer Kraft gesetzt, wenn es ums Wohnen geht. Hier tobt sich also kein unangebrachter Kollektivismus aus, sondern hier geht es um die Freiheit Einzelner, um deren Chancen in der Stadt. Die diese Ansprüche stellen, sind ebenso Teil der Zivilgesellschaft wie jene, die sich gegen deren Ansprüche wehren – was oft vergessen und ebenso oft verschwiegen wird. Solche Konflikte ziehen sich quer durch die Republik, in unterschiedliche „Röcke und Mäntel“ gekleidet, erst kürzlich entstanden oder bereits Jahre schwelend, teils durch Parteien befeuert, teils von Parteien bekämpft. Sie kosten Zeit und Geld und Kraft. Ob sie den demokratischen Progress in jedem Fall befördern, bezweifle ich. Denn oft genug gibt es rascher als mehr Bahnen, Busse und Wohnungen einen Verlierer: Das ist die Verständigung über Gegensätze hinweg. Die zu organisieren gehörte übrigens einmal zum Markenkern der deutschen Sozialdemokratie.
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