Merkel, nicht Cameron hat verloren
Die Nominierung von Jean Claude Juncker in einer Kampfabstimmung des Europäischen Rats zum Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten macht entgegen dem äußerlich verbreiteten Schein nicht David Cameron, sondern Angela Merkel zur großen Verliererin des Brüsseler EU-Gipfels.
Cameron wird als heroischer Widerstandsheld nach Hause fahren, der auch noch gegen eine erdrückende Übermacht der Kontinentaleuropäer die britische Fahne und Interessen Londons unbeugsam auf dem Gipfel hochgehalten hat. Seine martialische Parole, „manchmal muss man eine Schlacht verlieren, um einen Krieg zu gewinnen“, wird bei Europagegnern und Europaskeptikern auf der Insel ziehen.
Demgegenüber wird die Nominierung Junckers durch den Europäischen Rat als Kandidat für die Wahl zum Kommissionspräsidenten am 16. Juli im Europaparlament die deutsche Kanzlerin europapolitisch entscheidend schwächen.. Der europäische Machtmythos von Angela Merkel fängt an zu bröseln.
„Lonesome Rider“ Cameron
Während Cameron mit nationalem Pathos als furchtloser „Lonesome Rider“ von Brüssel dem bei den Europawahlen noch dominierenden Populisten Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party (UKIP) und den EU-Gegnern in der eigenen Partei jetzt gestärkt entgegentreten kann und nach einigen konzeptionellen Konzessionen der neuen Kommission an London sogar noch ein britisches EU-Referendum politisch überleben könnte, hat sich die Machtarchitektur der europäischen Institutionen entscheidend verschoben.
Merkel hat sich selbst ausgetrickst
Angela Merkel hat zu lange und am Ende sich selbst ausgetrickst. Sie hat politisch Gewicht und Ansehen verloren: Das Europäische Parlament hat sich nicht nur symbolisch, sondern nachhaltig in einer großen Machtprobe gegen die bisherige unbestrittene Anführerin des Europäischen Rats durchgesetzt. Deshalb war die deutsche Kanzlerin auch von Anfang an gegen die Idee gesamteuropäischer Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten bei der Europawahl. Sie war auch deshalb dagegen, weil sie speziell den routinierten Fuchs Juncker in ihrer Europäischen Volkspartei (EVP) fürchtet und verhindern wollte. Sie schlug ihn nach zähem Widerstand erst dann selbst vor, als er sich gegen ihre dezente politische Wühlarbeit absehbar doch eine Mehrheit in der EVP erarbeitet hatte.
Merkel war auch noch gegen ihn, als sie in flammenden Wahlreden um Stimmen für den künftigen Kommissionspräsidenten Juncker warb. Und sie versuchte Juncker sogar noch am Dienstag nach der Europawahl eiskalt im Europäischen Rat zu kippen, als sie, gemeinsam drohend, mit Cameron zum Entsetzen vieler konservativer Regierungschefs eine Abstimmung für seine Nominierung einfach abwürgte. Erst als in Deutschland der Volkszorn – gar in Bild – gegen einen Wahlbetrug publizistisch und demoskopisch hochkochte, setzte sie sich in einer Regierungserklärung wieder mit kühner Volte an die Spitze der Juncker-Bewegung. Aber natürlich nur, weil der routinierte Juncker ihr Filibustern durchschaute, mit kämpferischem Elan die Lockungen eines ehrenvollen Rückzugs auf die Position des Europäischen Ratspräsidenten nicht einmal zur Kenntnis nahm.
Juncker bringt konzeptionelle Kreativität
Jean Claude Juncker wird, was in der europäischen Dynamik nach großen Impulsgebern wie einem Walter Hallstein oder auch einem Jacques Delors seit langem dringend notwendig wäre, mit seiner herausragenden europäischen Substanz und seinem routinierten Verhandlungsgeschick als Eurogruppenchef der Europäischen Kommission neue konzeptionelle Kreativität für die Zukunft geben: Juncker wird sowohl den Europäischen Rat der Regierungsspitzen als auch das Europäische Parlament mit weit mehr strategischem Input bedienen und beschäftigen als die bisherigen Brüssler Spitzen: Der prall-prächtige, aber politisch folgenlose Optimismus Manuel Barrosos, die nette Unbeholfenheit Lady Ashtons und die geräuschlose Wirkungslosigkeit Van Rompuys gehören in Brüssel der Vergangenheit an. Das perfide Gerede, ja die Kampagne im Hintergrund gegen Juncker, um ihn mürbe zu machen, wird in wenigen Wochen durch seine Initiativen vergessen sein, Zukunftsinitiativen, die der mit allen Wassern gewaschene europäische Routinier und exzellente Stratege mit nachgewiesener Konsensfähigkeit zum Erfolg führen kann.
Europa hat eine neue Chance
Juncker ist der Mann, den die EU nach der Dominanz der erfolglosen einseitigen Austerity-Politik Merkels braucht. Juncker kann die Balance zwischen nachhaltiger Haushaltskonsolidierung und wirtschaftlich belebenden Impulsen in den Krisenländern endlich voranbringen: Gegen Deflation, für eine Trendwende in den rezessiven Volkwirtschaften und für einen Abbau der erschreckenden Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa. Zu diesem überfälligen Paradigmenwechsel kann er mit seiner finanzpolitischen und makroökonomischen Kompetenz und seiner sozialen Empathie entscheidende Anstöße geben. Europa hat eine neue konzeptionelle Chance, Europa hat ein selbstbewußteres Parlament und eine kräftig gestutzte politische Domina aus Berlin. Auch letzteres muss der dramatisch unsolidarisch auseinanderdriftenden EU nicht unbedingt schaden.
Bildquelle: EPP Dublin Congress, 2014 cc European People’s Party