Nachkarten ist zumeist Sache der Verlierer: sie senken das Haupt und verlassen die Arena. Im Wegehen aber strecken sie noch rasch die Zunge ‚raus oder finden sogar noch Gelegenheit, dem Sieger schmerzahft an den Haaren zu ziehen.
Im Falle der kurzzeitigen Rivalen Bonn und Berlin verhält es sich genau umgekehrt. Im Rheinland gilt „et iss wie et iss“; aber es vergeht kaum eine parlamentarische Sommer-, Weihnachts- oder Osterpause, in der nicht irgendein Berliner von Bonn verlangt, das, was Bonn verblieben ist, auch noch heraus zu rücken.
Dabei schert sich doch schon längst niemand mehr um die Zusagen von gestern – selbst (oder erst recht?) dann nicht, wenn sie im Gesetz stehen. Dort steht beispielsweise, dass mehr als die Hälfte der Beschäftigten der Bundesregierung ihren Arbeitsplatz in Bonn haben werden. Tatsächlich sind längst über 60% der Ministerialen in Berlin. Gebürtige Bonner, wie Lothar de Maizière oder unüberhörbare Rheinländerinnen wie Ulla Schmidt sind daran nicht unbeteiligt – im Gegenteil. Daran kann man sehen, wie vollkommen wurscht es sein kann, wo jemand herkommt.
Immer wenn Gelegenheit ist, Günter Behnischs wundervollen Bonner Plenarsaal zu besichtigen, beschleicht viele Rheinländer*innen das Gefühl, es sei eine Fehlentscheidung des Parlaments gewesen, nach Berlin zu ziehen. Dort ist im Gemäuer des „Reichs“-tags zwar auch imposante Architektur entstanden, die freundliche Leichtigkeit des onner Bundestags erreicht sie aber nicht. Ohne Ehrgeiz, die Bonn-Berlin-Debatte nachzulesen, sei an einige Argumentationslinien erinnert: Da wurde die Geschichte angeführt, um deren Willen unbedingt nach Berlin gezogen werden müsse; Erhard Eppler sprach auf einem SPD-Parteitag von den schreienden Steinen dort. Wolfgang Thierse beschwor die Großstadt, die verhindern werde, dass die Parlamentarier die Bodenhaftung verlören. Vielmehr würden sie dort ständig mit dem prallen Leben konfrontiert werden. Die „Stimme des Ostens“ fand außerdem, wenn schon alles, was mächtig, reich und teuer sei, im Westen bliebe, solle doch zum Ausgleich wenigstens die politische Macht nach Osten verbracht werden. Die Bonner hingegen fürchteten Berliner Großmannssucht, großstädtische Entfremdung von den Bürgerinnen und Bürgern des übrigen Landes und lobten den zurückhaltenden Auftritt der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer kleinen Großstadt am Rhein und nicht zuletzt die auch räumliche Nähe zu den europäischen Institutionen.
Es mag ein*e Jede*r überlegen, welche Befürchtungen und welche Versprechungen eingetreten sind und welche nicht.
Welche Geschichte beispielsweise soll durch die Rückkehr politischer Macht nach Berlin beschworen werden? Preußen? Die Teilung(en) Polens? Noskes Bündnis mit den rechten Freikorps? Brünings Notverordnungen? Zwei Weltkriege? Hitler?
Berlin war gerade einmal 8oo Jahre alt geworden; Bonn feierte 2000 Jahre – und zwar, wie wir heute wissen – ein paar Jahrzehnte zu spät. Das mag ein bloß quantitatives Kriterium sein, für die kurze Berliner Geschichte muss demnach also der Spruch „weniger ist mehr“ herhalten.
Oder sollte erinnert werden an die Weimarer Verfassung, an Scheidemann, Stresemann, Rathenau,Luxemburg, an die in Plötzensee hingerichteten Widerstandskämpfer, an den Umgang Preußens mit den geflohenen Hugenotten?
Keine dieser Erinnerungen und Besinnungen und Beschämungen unserer Geschichte sind in Bonn unterblieben oder unterlassen worden – jedenfalls seit 1968 nicht mehr. Die große Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai ist ein Beleg dafür. Einem anständigen und wahrheitsgemäßen Umgang mit der Geschichte Deutschlands stand ein Parlamentssitz Bonn nicht im Weg. Im Gegenteil schien die Bundeshauptstadt Bonn sogar wie eine Illustration der Konsequenzen, die aus der Geschichte gezogen werden: weder Nationalismus noch Größenwahn hatten in der Bonner Republik einen Nährboden.
Heute finden hingegen denkwürdige Debatten statt, bei denen mit moralischem Zeigefinger gefordert wird, dass der Menschenrechte wegen oder zur Verteidigung der westlichen Werte eine Politik sturer Rechthaberei und vermehrten deutschen Einflusses in der Welt zu machen sei. Es scheint das, als ob die Welt nun doch wieder am deutschen Wesen genesen solle. Friedlicher immerhin als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sie zweifellos, die Überzeugung von der eigenen weltweiten Bedeutung, aber friedlich ist sie schon nicht mehr. Man zähle nur die laufenden Auslandseinsätze der Bundeswehr und versuche sich an einer überzeugenden Abgrenzung der jeweiligen Einsätze von kriegerischen. Frau Merkel und Herr Steinmeier haben in der NATO zugesagt, die deutschen Militärausgaben im Laufe der nächsten Jahre fast zu verdoppeln. Herr Gauck fand es als Bundespräsident nötig, deutsche Zurückhaltung gegenüber militärischer Gewalt sinnngemäß als Drückebergerei zu kritiseren. Der Furor eines Cem Özdemir gegen Erdogans empörende Abschaffung der türkischen Demokratie ist zwar engagierte Verteidigung der Freiheit, aber trägt auch zur weiteren Eskalation bei. Özdemir nutzt gerne die Formel „das ist die einzige Sprache, die Erdogan versteht“, eine Formulierung, die keine guten Erinnerungen an frühere deutsche Unkultur weckt. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass der Frieden keine Chance mehr hat, kämen solcher Menschenrechtsbellizismus und entsprechende militärische Fähigkeiten eines Tages zusammen. Die Einsichten, die Willy Brandts Entspannungspolitik zu Grunde lagen, scheinen fast vergessen.
Von einem zurückhaltenden, bescheidenen Auftritt kann also keine Rede mehr sein. Dazu muss man nicht unbedingt an Militäreinsätze denken. Der Umgang der diversen Merkel-Regierungen etwa mit den anderen EU-Mitgliedern ist von Arroganz und Durchsetzungsentschlossenheit gekennzeichnet. Dass der wegen seiner Europapolitik hoch gelobte Helmut Kohl nicht durchsetzungsorientiert gewesen wäre, kann niemand behaupten. Aber er hat wohl niemals spüren lassen, ob oder dass ihm die Interessen der kleineren Mitgliedsstaaten gleichgültig gewesen wären. Inzwischen ist eine Lage entstanden, in der das Einbinden von Regierungen, die ihre Mehrheiten nicht zuletzt auch antideutschen Polemiken verdanken, nur noch schwer gelingen kann.
In Sachen Bodenhaftung geschieht den allermeisten Parlamentarier*innen ohnehin Unrecht. Die können sie nicht am Parlamentssitz erwerben oder festigen, wo immer dieser sei. Den haben sie entweder, weil sie sich um ihre Wahlkreise kümmern und dort zu Hause sind, oder sie haben sie nicht. Nach meiner Erfahrung wird das mit der Nähe zum Wahlvolk erst schwierig ab Ministerstatus (Landesminister*innen und insbesondere Ministerpräsident*innen nicht ausgenommen). In gewisser Hinsicht ist es sogar die Aufgabe von Parlamentarier*innen, sich vom Kirchturm zu lösen und das Große und Ganze in den Blick zu nehmen. Die Rede von der parlamentarischen Käseglocke hat so gesehen ein stark antiparlamentarische Schlagseite. Schließlich kann kein Mitglied des Bundestages vor der Kommunikation im Bundestag davon laufen – es sei denn es verletzt seine Pflichten – und genau dieser Zwang zur ergebnisorientierten Kommunikation ist ja ein zentraler Sinn – oder wenn man so will – der Trick durch den Parlamentarismus funktioniert oder zumindest funktionieren kann. Bleibt man trotzdem für einen Moment bei dem Bild der Käseglocke, so ist diese in Berlin eher dichter als sie es in Bonn gewesen ist. In Berlin hat vor kurzem die größte politische Demonstration seit 1982 stattgefunden. Sie war nur noch eine Meldung am Rande wert und hat das politische Berlin in keiner Weise berührt. Nach den Bonner Friedensdemonstrationen ist auch nicht im Sinne der Demonstranten entschieden worden, aber man hat sich wenigstens mit den Argumenten öffentlich und engagiert auseinandergesetzt! Man kann also hinsichtlich Bürgernähe keine Verbesserungen durch den Sitz Berlin ferststellen.
Und ganz ehrlich: wenn die Verlagerung der Hauptstadtfunktionen an den östlichen Rand der Republik dem Osten Deutschlands (der sich immer noch trotzig Mitteldeutschland nennt…) irgendeinen besonderen Nutzen gebracht hätte, so wäre er von nicht messbarer Größenordnung.
Bilanziert man die jeweiligen Erwartungen und Befürchtungen der Bonn- und der Berlinpartei von 1991, scheinen die Argumente der Blüms, Ehmkes, Matthäus-Meiers und Süßmuths im Rückblick um einiges realistischer zu sein.
Es gibt andere, erhebliche Veränderungen der politischen Kultur, die erst in Berlin sichtbar geworden sind. Es ist die mediale Beschleunigung der Berichterstattung, die mehr zur Reduktion der „Aufklärung“ auf die Oberflächen statt zur Durchdringung politischer Interessen, Zwänge und Entscheidungsprozesse geführt hat. Zu den aktuellen, digitalen „fake news“ und der Separierung politischer Milieus durch sogenannte soziale Netzwerke ist es seit der Zulassung privater TV-Sender kein allzu weiter Weg. Aber daran ist Berlin völlig unschuldig. Privat-TV verdanken wir Helmut Kohl und das Internet der US-Army.
Aus der Zeit der Bonn-Berlin-Debatte stammt ein Artikel des verstorbenen Küchenkritikers Wolfram Siebeck. Er beschrieb damals in „Die Zeit“ die kulinarischen Eigenheiten Berlins, wo kaum renommierte Köche tätig waren. Die regionale Küche reduzierte er mit wenig übertreibender Polemik auf die Spreewaldgurke. Es handelte sich bei der selbsternannten Weltstadt Anfang der 90er Jahre um düsterste Provinz – wohl nicht nur kulinarisch. Das hat sich nach dem Umzug von Parlament und einem Großteil der Regierung samt ihrer Apparate radikal geändert. Heute kann man in Berlin nicht nur zufriedenstellend Lebensmittel einkaufen und Restaurants besuchen, Berlin ist sogar die deutsche Stadt mit den meisten Michelinsternen geworden. Man muss allerdings ganz schön sparen (oder gut verdienen oder gut eingeladen werden), wenn man von den Speisen jedes in Berlin tätigern Spitzenkochs kosten will. Das ist nur ein Beispiel für den ganz erheblichen Nutzen, den die Stadt Berlin durch den Parlamentssitz hat.
Aber das sei Berlin ganz ausdrücklich gegönnt. Bonn hat es im Endeffekt auch nicht schlecht getroffen und die enthauptete Stadt (Bundesstadt statt Bundeshauptstadt) hat die Ausgleichsmittel sinnvoll und nachhaltig eingesetzt. Bonn ist gewachsen, sogar die Zahl der Arbeitsplätze ist trotz der gesetzwidrigen Abwanderung ministerialer Arbeitsplätze im Vergleich zum Wegzugjahr 1999 gewachsen.
Schließlich gibt es ein Argument für Berlin, dass selbst im lokalpatriotisch-parteiischen Rückblick aus Bonner Sicht nicht zu widerlegen ist: es ist das 42 Jahre lang nie zurückgenommene Versprechen, man werde Berlin wieder zur Hauptstadt machen, sobald es möglich werde. Das Versprechen wurde gehalten. Nun sollte es doch möglich sein, dass auch die Versprechen eingehalten werden, die Bonn und der Region gemacht worden sind!
Nach der Vereidigung von Bundespräsident Johannes Rau 1999 im neuen Bonner Plenarsaal fand dort auch ein kabarettistischer Abgesang auf die „Bonner Republik“ statt. Das hatte sehr viel mit den kulturellen und literarischen Leidenschaften des 1998 neu gewählten Bundestagspräsidenten Thierse zu tun. Am Ende traten die Bonner Kabarettisten Rainer Pause und Norbert Alich auf. Sie erinnerten daran, wie Jahrzehnte lang auf Adenauer-Deutsch gewarnt worden war, dass „der Russe kommt“ und schlossen daraus, wie gefährlich der Wegzug der Parlamentarier an die Ostgrenze doch sei. Aber wenn der tatsächlich eines Tages käme und die verschreckten Parlamentarier zurück nach Bonn wollten, so würden sich die Bonner*innen am rechten Rheinufer an den Händen fassen und ihnen das rheinische Lied „nee, nee datt maachen mir net mieh, janz bestimmp net mieh ….“ entgegen schmettern.
Auch vom Humor würde einiges aus der Bonner Republik der Berliner gut tun.
Bildquelle: Wikipedia, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung – Bildbestand (B 145 Bild)
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