Wer könnte in Worte fassen, was hier an diesem Ort an menschenfeindlichem Hass ausgelebt wurde. Wer immer hier in den letzten Jahren gesprochen hat, musste daher erkennen, dass kein Wort verfügbar ist, was das Grauen treffend beschreiben könnte, das sich hier vor mehr als 70 Jahren zugetragen hat. Der einzige, dem doch eine Annäherung gelang, war Heinrich Albertz, der Stukenbrock wie ein Kritiker seiner Erinnerungen es empfand, mit „Demut und Aufrichtigkeit weiht“. Seitdem ich die Biografie von Heinrich Albertz gelesen habe, Pastor und in den 1960er Jahren Regierender Bürgermeisters von Berlin, weiß ich von diesem Stammlager und es regte mich vor Jahren an, Stukenbrock zu besuchen, diesen im deutschen Geschichtsbuch fast unbekannt gebliebenen Ort, der auch in Schulbüchern keine Erwähnung findet.
Ohne Nahrung, Medizin, vegetieren in Höhlen
Das Stammlager (STALAG) 326, das größte Kriegsgefangenenlager für russische Soldaten, wurde fast zeitgleich 1941 mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion gegründet. Die ersten 7.000 Gefangenen wurden bereits im September 1941 hinter Stacheldraht und Wachtürmen auf freies Feld getrieben – nur drei Monate nach Kriegseintritt der Sowjetunion. Dort blieben sie sich selbst überlassen, sie vegetierten unter freiem Himmel, ohne ausreichende Nahrung oder medizinische Betreuung. Es gab keinen Schutz vor Kälte oder Regen, sie lebten in selbst ausgehobenen Höhlen.
Programmierter Tod: 36 Massengräber
Der programmierte Tod, der an diesem Ort sichtbar wird, zeigt auf, was der Überfall auf Russland 1941 zum Ziel hatte: Die Nazis und selbsternannten Herrenmenschen wollten die Auslöschung Russlands und die Versklavung der Wenigen, die den Mordauftrag der Wehrmacht überleben würden. Wie das erreicht werden sollte, zeigt auch das Massengrab Stukenbrock. Nicht anders als die Genickschusssalven, mit denen Sonderkommandos der Bereitschaftspolizei hinter der Front im Baltikum und in der Ukraine die „Schtetl“ judenfrei schossen. Und russische Kriegsgefangene, die ihre Massengräber selbst ausheben mussten, in die sie anschließend geschossen wurden. Rund 300.000 Gefangene gingen in vier Jahren, bis zur Befreiung im Juni 1945, durch das Lager Stukenbrock. In 36 Massengräbern liegen mindestens 65000 zu Tode gequälte Kriegsgefangene. Keiner kennt die genaue Zahl, und niemand wird sie je erfahren. In Nebenlagern waren außerdem Menschen aus Polen, Italien und Frankreich und den Balkanländern gefangen, für die es immerhin Baracken gab.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit wachhalten
Seit im vorigen Jahr Bundespräsident Gauck eine erste Stele mit 900 Namen der bislang scheinbar namenlosen Toten enthüllte, wurden wenigstens diese der Anonymität entrissen, und ihre Schicksale werden zum Schicksal von Personen. Weitere Stelen mit Namen von Opfern sollen die Erinnerung wach halten an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die an ihnen verübt wurde.
Größter deutscher Safari-Park
Wer im weltweiten Netz das Suchwort „Stukenbrock“ eingibt, wird alles über den beliebten Zoo und „größten deutschen Safaripark“ Stukenbrock erfahren. Auf die Nachbarschaft der Todesstätte des Stalag IV K 326 Stukenbrock-Senne stößt nur, wer schon weiß, dass es hier einen Ehrenfriedhof und eine Gedenkstätte gibt. Umso wichtiger ist der jährlich im September stattfindende Gedenk- und Antikriegstag des Arbeitskreises „Blumen für Stukenbrock“. Es ist dieser privat organisierte Verein, der im kommenden Jahr sein 50jähriges Bestehen feiern kann. Aus der Friedensbewegung entstanden, gelingt es dem Arbeitskreis bis heute, die Geschehnisse in Stukenbrock vor dem Vergessen zu bewahren.
50 Millionen Tote im 2. Weltkrieg
Vor einem Jahr mahnte Bundespräsident Gauck ein nachdrücklicheres Gedenken an für das Leid der Menschen, die hier als Kriegsgefangene zu Tode kamen. Es wäre für das Land Nordrhein-Westfalen sicher angemessen, dem Wort des Bundespräsidenten Geltung zu verschaffen und den Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ auch finanziell in seiner Erinnerungsarbeit zu unterstützen, und für seine ehrenamtliche Arbeit der letzten 50 Jahre zu danken, Seit Jahrzehnten ist der Arbeitskreis erfolgreich bemüht, Kontakte in Russland zu denen zu knüpfen, die um Angehörige trauern, die hier ums Leben gekommen sind. Um den Hinterbliebenen eine kleine Rente zuzusprechen, wurden seit 1996 Spenden gesammelt und 100 000 Euro überwiesen. Leider ist es noch immer nicht selbstverständlich, dass die Opfer des Überfalls der Wehrmacht auf Russland gleichberechtigt im Gedenken an die mehr als 50 Millionen Menschen einbezogen werden, die im Zweiten Weltkrieg den Tod fanden.
Nazis wollten Russen auslöschen
Mehr als 20 Millionen Opfer allein in Russland: Es war das erklärte Ziel der Nazis, der „Endlösung der Judenfrage“ die Auslöschung des russischen Volkes folgen zu lassen. Das Unternehmen „Barbarossa“, so der Tarnname für den Überfall auf die Sowjetunion, war nach 1945 im Kalten Krieg umgelogen worden zum Kampf gegen den Stalinismus. So sahen viele aus der Generation der Täter keinen Anlass, sich der schrecklichen Wahrheit über das wirkliche Ziel des Überfalls auf die Sowjetunion zu stellen.
Hass geschürt gegen alles Fremde
Erneut hören wir heute im rechtspopulistischen Fahrwasser der AfD und der „Abendspaziergänger“ montags in Dresden und anderswo die Aufforderung, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen. Gleichzeitig macht sich schon wieder das elende Denken breit, es gebe die einfachen Antworten. Dabei wird nur Hass geschürt, und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verbreitet gegen alles Fremde. Rassismus und Antisemitismus erobern sich Räume im Netz und finden sich als Parolen auf Häuserwänden. Flüchtlingsunterkünfte brennen. Feuerwehrmänner wehren sich gegen einen rechten Mob, der sie hindern will, die Flammen zu löschen. Neue Nazis auch in den alten Ländern. Der Blick auf Dresden sollte den Blick auf Dortmund und andere Städte im „alten Westen“ nicht verstellen, denn auch dort gibt es Morddrohungen gegen Bürger, Politiker und Journalisten, die sich den Rechtsextremisten entgegenstellen.
Tausend Attacken gegen Flüchtlinge
Mehr als tausend Attacken und Anschläge gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte zeugen von wachsender Aggressivität am rechten Rand der Gesellschaft. Über Erfolge der Polizei bei der Aufklärung des Terrors von rechts ist allerdings weniger zu hören.
Rückfall in Nationalismus droht
65 Millionen Flüchtlinge zählt das UN-Flüchtlingshilfswerk, und zeitgleich wächst die Bereitschaft in ganz Europa, den rechten Populisten zu folgen. Die Europäische Union ist in der Krise und die Gefahr eines erneuten Rückfalls in den Nationalismus wird beschworen, der Europa schon zweimal in schreckliche Kriege gestürzt hat. Vermutlich werden Flucht und Vertreibung zu den nachhaltigen Themen des noch jungen 21. Jahrhunderts gehören. Dazu kommen Naturkatastrophen, die ebenfalls durch den Menschen verursacht werden, der Klimawandel. Was die Welt also ganz bestimmt nicht braucht, ist die Wiederholung der Fehler, die das 20. Jahrhundert begleitet und erschüttert haben.
Frieden in Europa nur mit Russland möglich
Es ist wichtig und wird immer wichtiger, zu einer wirklichen und nachhaltig wirksamen Friedenspolitik zurückzufinden. Ich hoffe immer noch, dass auch Europa sich erneut seiner historischen Aufgabe zuwendet, zu einer Friedensordnung für den Kontinent zu finden. Dazu gehört unabweisbar, entstandene Gegensätze zwischen Europa und Russland abzubauen. Dazu muss auch Moskau beitragen. Frieden wird es in Europa nur dann geben, wenn die Zusammenarbeit mit Russland wieder fruchtbar werden kann.
Tausendfacher Mord darf nicht vergessen werden
Stukenbrock ist daher mehr als nur die Mahnung, Wiederholungszwang zu vermeiden. Keiner der Toten, die hier verscharrt wurden, und für die nun, nach und nach, endlich ein angemessener Erinnerungsort entsteht, könnte den heute lebenden Menschen verzeihen, wenn sie den tausendfachen Tod, der hier zu betrauern ist, vergessen würden.
Bildquelle: Blumen für Stukenbrock http://www.blumen-fuer-stukenbrock.de/