90 Tage lang war meine Freundin aus Singapore zu Besuch in Deutschland. 90 Tage, die ihr die Augen öffneten, wie sie zum Abschied sagte, und die sie zutiefst enttäuschten. Ihr Name tut nichts zur Sache, sie will ihn nicht veröffentlicht sehen. Aber diese Dame gehört zu den beeindruckendsten Frauen, die ich, Christoph Lütgert, in den Jahrzehnten als ARD-Reporter kennengelernt hatte. Sie arbeitete journalistisch viele Jahre in Asien und England, hat viele Länder sehr intensiv bereist – von Amerika bis Afghanistan, war oft auch in Deutschland, bejaht die westliche Demokratie aus voller Überzeugung.
Kaum in Singapore zurück machte sie, worum ich sie gebeten hatte: Bilanz ziehen von ihren drei Monaten in Deutschland. Denn so ein Blick von draußen tut uns vielleicht mal ganz gut. Hier ihr Bericht:
„Ich war ungezählte Male in Deutschland. Es gibt viel zu bewundern an Euch Deutschen und Eurem Land. Bei meinem bislang letzten Besuch konnte ich drei Monate lang beobachten, wie Deutschland mit der Corona-Pandemie einfach nicht fertig werden will. Das hat mich überrascht und enttäuscht. Die täglichen Zahlen sprechen doch für sich. Bei den Ansteckungen geht es ständig nach oben, noch stärker steigt die Zahl der Toten. Das scheint nicht nachzulassen, nicht einmal leicht. Die Entwicklung läuft in Deutschland eindeutig in die falsche Richtung, eine verheerende Situation.
So wie ich das beobachten konnte, fehlt es in Deutschland nicht an Vorschriften und Verordnungen; Regelungen, die nach endlosen Diskussionen und Debatten zwischen den Ländern und der Bundesregierung irgendwann zustande kamen; nein, es fehlt am politischen Willen, diese Regeln und Direktiven dann auch unbedingt und ausnahmslos durchzusetzen. Eure Zeitungen und die Nachrichten in Funk und Fernsehen in Deutschland sind voll von Berichten, wie die Regeln immer wieder umgangen und die Einschränkungen ausgehebelt werden. Diese Regelbrecher beanspruchen die individuelle Freiheit, sich zusammenzutun und zu protestieren – ohne Masken. Aber was taugt diese Freiheit, wenn dadurch das Leben anderer durch Corona verkürzt wird ? In einer Krise wie diese Pandemie muss doch die Rettung von Menschenleben erste und oberste Pflicht sein. Dahinter müssen mitunter auch persönliche Freiheiten und der Erhalt des Lebensstandards zurückstehen.
Das ist für mich unbegreiflich: Diese Menschen, die eindeutige Regeln brechen und Einschränkungen missachten, haben in Deutschland kaum eine Strafe zu befürchten. Sie wissen, dass sie ungeschoren davonkommen, und sie kommen ungeschoren davon. Das nehmen sich andere zum Vorbild, auch sie brechen dann die Regeln, und daraus wird eine Kette ohne Ende.
Was ich mich immer wieder fragte und frage: Warum tun die Regierungen von Bund und Ländern in Deutschland nichts, um eindeutige Regeln und Bestimmungen durchzusetzen ? Und warum werden die Regelverletzer nicht zur Rechenschaft gezogen ? Warum also können sie mit ihrem gesellschaftlich unverantwortlichen Handeln unbehelligt das Leben anderer in Gefahr bringen ?
Wir wissen doch, dass Vorbeugen genauso wichtig ist wie die Behandlung einer Krankheit.
Und deshalb habe ich Fragen:
– Wie wollen Eure Regierenden in Deutschland Vorsorge gegen die Ausbreitung des Corona-Virus treffen, wenn sie nicht mal willens und in der Lage sind, eindeutige Regeln durchzusetzen ?
– Hat die deutsche Regierung die Bemühungen um Prävention und Eindämmung der Pandemie faktisch aufgegeben ?
– Setzt sie jetzt nur noch auf den Impfstoff als das Allheilmittel ?
– Und wie will diese Regierung die Pandemie beenden, wenn sich ein beachtlicher Teil der Deutschen einer Impfung widersetzt ?
Ich wollte nicht länger auf Antworten warten, bin deshalb gerne nach Singapore zurückgeflogen, wo ich mich sicher fühlen kann. Dann ein Impfstoff, so gut er sein mag, ist kein Wundermittel gegen schwaches Regieren.“
Auch meine Familie hatte während der vergangenen Wochen lieben Besuch aus Singapur. Wir haben länglich über die unterschiedlichen durchaus grundlegenden Verhältnisse debattiert.
Singapur ist ein Inselstaat. Rundherum von Wasser umgeben. Die Rückreise nach Singapur ist streng reglementiert: 14 Tage Quarantäne für jeden und jede. Kodierter Zugang zu jedem Besuch im öffentlichen Raum, Handy Tracking. Sehr mäßige Infektionswerte. Alles easy sozusagen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist bekanntermaßen kein Inselstaat, daran würde auch keine mit absoluter/zwei-Drittel-Mehrheit ausgestattete Regierungsmehrheit etwas ändern können.
2019 sind 35 Millionen LKW-Fuhren grenzüberschreitend in Deutschland unterwegs gewesen. Nur die LKW. Macht 550 Millionen Tonnen an Gütern, die auf die eine oder andere Weise durch unser Land gefahren wurden; oder 380 Milliarden Tonnenkilometer. In Mitteleuropa und darüber hinaus würden die Ökonomien ruckzuck zusammenbrechen, wenn die Bundesrepublik eine Abschottung wie Singapur durchsetzen würde. Das ist die Realität. Also nicht alles easy.
Singapur weist knapp 6 Millionen Einwohner auf. 90 Prozent der täglich verbrauchten Lebensmittel werden importiert, über 90 Prozent der Inselstaat-Fläche sind bebaut. Das erzwingt einen völlig anderen Umgang mit Pandemie-Zuständen als in Flächenländern.
Ich will hier nicht auf die unterschiedlichen Rechts- und Staatsrechts-Verhältnisse hinweisen. Aber die Tatsache, dass ein 82 Millionen- Volk andere Bedingungen hat als ein durch die Natur ergo geografisch abgeschottetes 6 Millionen Land/Volk liegt auf der Hand. All das lernen Kinder und Jugendliche – sofern ein Mindestmaß an Interesse und Fleiß vorhanden ist im Präsenz – und/oder Distanzunterricht. Auch derzeit.
Auf den Punkt gebracht: soziale und Rechts-Kontrolle in einem kleinflächigen Inselstaat mit etwa 190 Kilometern Grenze zum Wasser hin ist etwas völlig anderes als eben diese Kontrolle in einem Flächenland mit 82 Millionen; vor allem auch deswegen, weil es in der Bundesrepublik die Möglichkeiten der strafbewehrten Quarantäne- Kontrolle über Handy Tracking wie in anderen Ländern nicht gibt.
Ein reines Märchen ist die Behauptung, Verstöße gegen Corona- Einschränkungen würden nicht verfolgt. In tausenden Fällen wurden Anzeigen erstattet, Verfahren eingeleitet. Es ist aber so wie im Fall der Ladendiebstähle: 300 000 pro Jahr im ganzen Land – in der Zeitung stehen Fälle aber nur, wenn´s zugleich Randale gab. Aber kaum jemand käme auf die Idee zu sagen: Die Ladendiebe können doch machen, was sie wollen.
Zum Abschluss will ich auf einen weiteren, auch im kritisierten Text (…Blick von draußen…..“) vergessenen Aspekt hinweisen. Gesellschaften mit Pandemie-Erfahrungen im kollektiven Gedächtnis gehen anders mit aktuellen Pandemien um als die ohne solche Erfahrungen. Eine ganze Reihe Länder in Asien haben solche kollektiven Erfahrungen aus der SARS I-Pandemie zu Beginn der „Nullerjahre“. Wir in Deutschland haben das nicht. Ich bin für Fakten und Aufklärung – der Stammtisch ist nicht meine Sache: Egal wo er steht.
Stammtischgerede ist es, sich Länder zum Vergleich auszuwählen, die nicht vergleichbar sind.
Im exportstarken Industriestaat Südkorea leben knapp 52 Mio Menschen. Letzter Stand der täglichen Infektionen: 403. Zahl der Toten: 17
Wie gesagt: Am völligen Versagen der europäischen Politik gibt es nichts zu beschönigen.
Man kann nur hoffen, dass solche Versuche wie von Klaus Vater die Ausnahme bleiben, damit für die Zukunft die richtigen Lehren gezogen werden.
Wie man es sogar in Deutschland richtig machen kann, ist am Beispiel Rostocks nachzulesen:
„Wir haben Maßnahmen ergriffen, bevor es Landes- oder Bundes-Vorgaben dazu gab. Wir waren sehr schnell und deswegen relativ zügig in der ersten Welle coronafrei. Es ist ein großer Unterschied, ob man Karneval oder Starkbier-Feste noch feiert und denkt, das kann immer noch eingestellt werden. Wir haben es tatsächlich von Tag eins bis jetzt immer geschafft, die Kontakt-Ketten zu schließen.“
Dabei musste sich der Bürgermeister gegen inzwischen offenbar typisch gewordene, deutsche Bräsigkeit durchsetzen:
„Wir haben vom Ministerium Briefe bekommen, wir mögen das zusätzliche Testen abstellen. Dabei hatte Herr Wieler vom RKI in einem Vortrag gesagt, es komme auf die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister an. Wir mögen die Bürokratie über Bord werfen. Es gehe um Leben und Tod. Daraufhin hatte ich eine regionale Firma direkt angesprochen, und wir haben einen Weg gefunden, eine sehr hohe Zahl an Testungen zu ermöglichen. Uns dann aufzufordern, das einzustellen, fand ich wirklich nicht gut.“
OB Madsen im Interview: Warum Rostocks Covid-Strategie erfolgreich ist
https://www.n-tv.de/politik/Warum-Rostocks-Covid-Strategie-erfolgreich-ist-article22304925.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
Der Tagesspiegel bringt als Ursachen für das bisherige Versagen noch ganz andere Gründe in die Diskussion ein:
„In der Ignoranz des Westens gegenüber den Erfolgen asiatischer Länder in der Pandemiebekämpfung scheinen tradierte, häufig noch aus der Kolonialzeit stammende und längst überholte Fremd- und Selbstbilder aktiviert zu werden.
Dazu gehören Vorstellungen von Rückständigkeit, autoritären und kollektivistischen Orientierungen einerseits und dem Westen zugeschriebene Attribute von Selbstbestimmung, Individualismus und Fortschritt andererseits. Die Realität sieht (und sah wahrscheinlich schon immer) anders aus. Es ist höchste Zeit, die tradierten Narrative postkolonialer Ignoranz über Bord zu werfen und sich auf ein pragmatisches globales Lernen einzulassen.“
https://www.tagesspiegel.de/politik/warum-wir-nicht-von-asiatischen-laendern-lernen-corona-offenbart-die-westliche-arroganz/26893480.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
Man muss dem nicht in jedem Punkt zustimmen, aber lesenswert ist dieser Beitrag allemal.