Wenn man die Hymne der Schalker hört, könnte man als Fremder meinen, die spotten über den Verein. „Blau und Weiß ist ja der Himmel nur..“, schmettern Tausende von S04-Freunden bei jedem Heimspiel. Doch die Fans meinen das wirklich so, ein Fan versteht keine Häme über seinen Klub, schon gar nicht die Schalker. Ihr Schalke wurde gerade bei der Fußball-EM wieder mal heftig kritisiert, Gelsenkirchen als „Drecksloch“ bezeichnet von einem Engländer. Ausgerechnet, könnte man hinzufügen: Wie sieht es eigentlich in Manchester aus, in Liverpool? Die Stadt der 1000 Feuer hieß Gelsenkirchen einst zur Blüte der Industrie-Zeit, als Kohle und Stahl den Reichtum der Stadt ausmachten. Und wenn man in den 50er Jahren bei einem Abendspiel in der alten Glückauf-Kampfbahn war und Berni Klodt zujubelte, dem Rechtsaußen der Blauweißen, wurde in der Halbzeit das Flutlicht ausgeschaltet und die Zuschauer gebeten, Feuerzeuge oder Kerzen anzuzünden, damit Tausende von Lichtern leuchteten. So war es in den 50er und 60er Jahren. Schalke ein Drecksloch, oder Gelsenkirchen? Wer so redet, hat das Ruhrgebiet nicht verstanden, der sollte besser gleich nach Grünwald weiterziehen oder an den Tegernsee zu den Reichen und Schönen.
Carsten Brosda, Hamburger Senator, Sozialdemokrat, Sohn der Stadt Gelsenkirchen, ist S04-Fan wie übrigens auch Frank-Walter Steinmeier, der Bundespräsident. Er hat gerade in der Wochenend-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ eine Art Ehrenrettung für Gelsenkirchen geschrieben. Ich darf, ohne mit ihm gesprochen zu haben, hinzufügen, er hat das Stück der SZ mit Liebe geschrieben, Liebe zur Heimat, aus der er kommt, an der er hängt, wie die Menschen dort am Revier hängen. Ich kenne Bilder, wo der Ruhri nach Rückkehr aus dem Urlaub den Boden seiner Stadt küsst. Das kann in Gelsenkirchen gewesen sein, oder in Wattenscheid, Bochum oder Dortmund, Herne, Wanne, Bottrop, Gladbeck. Der Titel der SZ-Story heißt: „Woanders is´ auch scheiße“. So hatte es auch vor Jahren schon der Bochumer Autor Frank Goosen gesagt und geschrieben. Goosen ist Kabarettist, Comedian, Vorstandsmitglied des VFL Bochum und vor allem bekennender Ruhrgebietler. Das Ruhrgebiet, das Bier, der Fußball, der kleine Mann, die Schrebergärten, Tante Martha, die man Matta ausspricht, Geschichten über die Oma, den Opa, aber bitte richtig gesprochen mit doppeltem M und doppeltem P. Die Menschen, die nach Feierabend in den Fenstern liegen und mit Nachbarn reden über Gott und die Welt, heißt, die Maloche, den Fußball.
Goosen kommt selbst aus Bochum „wech“, wie es heißt, wie Unsereiner aus Henrichenburg, einem Dorf beim Schiffshebewerk, das wiederum in Waltrop liegt. Komisch? Is aber so. Verstehtste? Bleiben wir noch beim Ruhr-Poeten. „Schön is es hier nicht, aber woanders is auch scheiße.“ So klingt der Ruhrpott-Charme, der Klang der Heimat. „Ich sach ma, ne Gegend, wo es nicht so viele Bibliotheken gibt.“ Dafür Frühschoppen in der Kneipe an der Ecke am Sonntag, kurz nachem Hochamt inne Kirche, Pils und nen Korn, die Mama kochte derweil den Sonntagsbraten, musste hin und wieder etwas warten, weil eben noch eine Runde Pils bestellt worden war. So Goosen, so war es bei uns auffem Dorf.
Es ist keine Schönheit
Nein, das Ruhrgebiet ist keine Schönheit, so hat es Grönemeyer auf Bochum gemünzt gesungen. Doch da müsste man klarstellen, dass man das Revier in Bochum und Gelsenkirchen eben nicht mit dem Tegernsee und Grünwald vergleicht. Das Ruhrgebiet hat Narben davon getragen, von der Industrialisierung und dem folgenden Strukturwandel. Rost an vielen Stellen, dichtgemachte Hütten, trostlose Lagerhallen, Brachen, es ist längst nicht alles aufgeräumt, aber dreckig ist es nicht. Schließlich wird der Dreck mit dem Besen weggefegt. Gelsenkirchen misst sich nicht mit Düsseldorf oder Köln, das sind andere Städte, ohne die Vorgeschichte mit Kohle und Stahl, den Bergmännern mit ihren schwarzen Ringen unter den Augen. Dieser Ruß war nicht leicht zu säubern. Als Jugendlicher habe ich bei Schwarz-Weiß Meckinghoven gespielt, das liegt bei Datteln. In unserer Mannschaft kickte auch ein junger Bergmann, der war Rechtsaußen, schnell und technisch versiert. Er hatte diese Ringe unter den Augen. Das war normal, für uns. Überhaupt genossen die Kumpel große Achtung in der Bevölkerung. Man schätzte sie und ihre Arbeit in über 1000 Metern Tiefe. Damals war das noch eine Knochenarbeit, die Kohle abzubauen. Viele Bergleute erkrankten früh an Staublunge, wie das hieß. Im Herbst hörte man sie, wenn sie in den Fenstern, auf Kissen gestützt, lagen, und nach Luft rangen.
Von wegen „was für ein Drecksloch“! Carsten Brosda weist darauf hin, dass Taylor Swift drei Konzerte in Gelsenkirchen geben will. Der US-TV-Moderator Jimmy KImmel habe die Meldung nur ätzend kommentiert: „Niemand hat jemals von Gelsenkirchen, Deutschland, gehört. Vielleicht existiert es gar nicht.“ Solche Geschichten gibt es eigentlich nur im Zusammenhang mit Bielefeld. Aber bleiben wir im Revier, in Gelsenkirchen, wohin die UEFA vier Spiele der EM vergab. Ein Moderator, schreibt Brosda, habe sich darüber mokiert, schließlich sei es in München schöner. Diese Häme kenne ich aus Jahrzehnten, die sich immer wieder wiederholten und vor allem musste Schalke dafür herhalten. So äußerte sich der Wiener Fußball-Trainer Max Merkel zu seiner erfolglosen Trainerarbeit auf Schalke in den 70er Jahren bissig: „Das Schönste an Schalke ist die Autobahn-Auffahrt nach München.“
Die Menschen im Revier kennen Anerkennung wie Häme. Als Bergleute wurden sie in allen Teilen des Landes gemocht, sie verdienten gut, konnten sich früh ein Auto leisten und machten Urlaub in Bayern. Sie wurden geschätzt, weil sie mit Arbeit vor Ort dafür sorgten, dass die Menschen in Bayern und Hamburg oder anderswo in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg nicht erfroren. Das Land lag in Trümmern. So entstanden die Ruhrfestspiele, Hamburger Schauspieler revanchierten sich für Kohle-Lieferungen in die damals arme Hansestadt mit Theater-Aufführungen in Recklinghausen. Und doch gab es den Kreisler, Georg, der seinen Schmäh über das Revier kippte: „Und mit heiterem Gesang nimmt man Kohlen in Empfang. Wer zu lange dort lebt, bekommt beim Atmen leichte Krämpfe. Aber wer lebt dort schon lang?“ Eine Unverschämtheit, der Kreisler hätte bei seinen Tauben bleiben sollen, die er vergiften wollte im Park. Das Fernsehen zeigte Kreislers üble Ode, die Gelsenkirchener Stadtspitze beschwerte sich, der Sender bat um Entschuldigung.
Gelsenkirchen war damals vergleichsweise reich, Kohle und Stahl sorgten für goldene Jahre. Die Stadt hatte fast 400000 Einwohner(heute nur noch 260000), meine Mutter stammte daher, mein Vater war früh Schalke-Anhänger, sah die Kuzorras und Szepans in der alten Glückauf-Kampfbahn, die Kalwitzkis, Gellesch, Urban und wie sie alle hießen. Brosda schreibt, dass Gelsenkirchen damals eine der größten Kohlestädte Europas gewesen sei, überhaupt eine vielseitige Industrie besäße. Ich weiß nur, dass es endlos dauerte, wenn man von meinem Dort in die Glückauf-Kampfbahn wollte. Zu Fuß zur Straßenbahn, dann zum Bahnhof Rauxel, von dort nach Gelsenkirchen-Bismarck, weiter mit der Straßenbahn, dann wieder zu Fuß. Es dauerte Stunden, bis wir wieder zu Hause waren. Aber es war toll. Klar, Schalke lebte von der Tradition, sechs Meisterschaften vor dem Krieg, die letzte 1958 eben mit dem erwähnten Berni Klodt, dem „Schwatten“ Willi Koslowski, Manni Kreuz, ob die Gebrüder Laszig dabei waren, weiß ich nicht mehr.
Jubel und Trauer
Aber Schalke und Gelsenkirchen stehen auch immer wieder für Trauer, für schwarze Fahnen, wenn es ein Unglück auf eine der Zechen gab. Dann standen die Menschen still. Oder wenn Zechenschließungen anstanden. Dann wurde demonstriert, für den Erhalt der Arbeitsplätze gekämpft, flaggte das Revier schwarz, man spürte den Zusammenhalt der Menschen an der Ruhr, der Emscher, in Gelsenkirchen wie in Wattenscheid und Dortmund. Ich kann mich gut an diese Zeiten erinnern, die Zeitungen waren voll mit diesen Nachrichten. Wenn der letzte Hochofen gesprengt wurde, war das der Aufmacher der WAZ am nächsten Tag. Bittere Stunden für die Arbeiter unter Tage und deren Familien. Der Staat half, so gut es ging, aber es traf die Region schwer, weil mit dem Verlust der Jobs eben auch oft genug als Folge andere Geschäfte dicht machen mussten, Kneipen ebenso wie Tante-Emma-Läden. Und wenn dann noch gelästert wurde über die Ruhris, die einstigen Bergleute, die angeblich dem Staat auf der Tasche lägen, machte sich Wut breit bei den Menschen, Zorn über diese leichtfertigen Urteile.
Strukturwandel hieß und heißt immer noch das Stichwort. Theater mussten schließen, Schwimmbäder, Schulen verrotteten, Kindergärten. Geld war eben knapp geworden. Man sah und sieht es heute noch an den Straßen, die nur mühsam saniert oder repariert werden. Mit der Pannschüppe wird Teer in die Straßenlöcher gefüllt. Im nächsten Winter sind die Löcher wieder da. Das Revier ein Drecksloch? Eine Unverschämtheit den Menschen gegenüber, die ihre Heimat lieben, mag sie noch so grau geworden sein. Und wenn jemand übers Revier spricht oder über Gelsenkirchen, vergisst er nicht hinzuzufügen, dass es dort auch ganz schön grün geworden sei. Wir haben ein paar Jahre in Wattenscheid gelebt, als die Stadt noch selbständig war. Quicklebendig war das Bürgertum, mit einem Mann wie Klaus Steilmann. Der Textil-Unternehmer war nicht nur Förderer des Fußballs, der Leichtathletik, er stand parat, wenn es Aktionen gab, die die Mobilität der Kommune förderten.
Wat und Dat sagen wir nicht. Wat haste gesagt? So hörte ich es in meiner Verwandtschaft. War so. Und war nicht schlecht. Hin und wieder wurden wir belächelt. Als Ruhri. Der kleine Mann vonne Emscher und Ruhr. Verlässliche Leute, diese Ruhris, ehrlich und offen, hilfsbereit. Sie packen gern mit an. Helfen mal eben übern Zaun. Brosda erinnert in der SZ an die Jahre, da das damals reiche Ruhrgebiet die anderen Bundesländer „am Kacken“ gehalten habe. Erinnert er an die Erzählungen seines Vaters, die ich nur bestätigen kann. Es wurde geholfen, kein großes Tamtam gemacht. Das Industrieland NRW sorgte dafür, dass die Länder Bayern und Baden-Württemberg ihren Umstieg von der Landwirtschaft schafften. Länderfinanzausgleich hieß das Zauberwort. Heute wollen die Seehofers(einst CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident) und sein Amtsnachfolger Markus Söder von dem Länderfinanzausgleich nichts mehr wissen. Sie drohen mit Klagen dagegen, weil Bayern Einzahler geworden ist. So sieht Solidarität aus in Deutschland.
Gelsenkirchen gilt heute als ärmste Stadt in Deutschland. Ob das stimmt? Gelsenkirchen ist zugleich Schalke-Stadt. Aber Schalke steht auch für das Auf und Ab dieser Stadt. Vor Jahren kämpften sie noch-vergeblich- um die Meisterschaft, mussten sich aber mit dem Titel „Meister der Herzen“ begnügen, weil der FC Bayern es in der Nachspielzeit geschafft hatte, beim Hamburger SV unentschieden zu spielen. Da hatten sie auf Schalke schon die Raketen gezündet. Jetzt spielen die einstigen Altmeister-wie auch der 1. FC Nürnberg- in der 2. Liga, gerade haben sie den Abstieg in Liga 3 noch verhindern können. Ob sie es erneut packen, nach oben, nach ganz oben? Sie träumen davon in der Stadt mit der höchsten Arbeitslosenquote, im Verein mit immerhin rund 180000 Mitgliedern-knapp hinter dem BVB-.
Özil, Gündogan, Neuer, Sané
Woanders is auch scheiße. Wer das Revier und Gelsenkirchen kennenlernen will, setze sich aufs Rad und fahre durch die alten Bergmannssiedlungen. Schön hier, haben Freunde von uns gesagt, und die Ecke des Ruhrgebiets nicht mit dem Chiemsee oder Ottobrunn verglichen oder dem Bayerischen Wald. Die Menschen sind nett, sagt man über sie, oder sie sind in Ordnung, würde der Ruhri sagen. Er will alles, aber kein Mitleid. Die Ärmel hoch und ran, heißt es gern in der Gegend, in der der Kaiser Hochschulen einst verbat und auch keine Kasernen wollte, sondern dass dort gearbeitet werde. Hier im Ruhrgebiet ist einst der Özil geboren, er lernte das Fußballspielen auf Schalke, auch Gündogan, der Kapitän der Fußballnationalmanschaft kommt aus Schalke, wie Manuel Neuer, Sané. Ach ja, sagte mir vor Jahren ein Kulturredakteur, weil er wusste, dass ich Schalke-Fan war und bin: „Hier im Ruhrgebiet ist die dichteste Theater- und Museen-Ecke in Deutschland“. Und natürlich gibt es hier längst Universitäten: Bochum, Dortmund, Essen, die Fern-Uni Hagen.
Ich will noch einmal aus Brosdas schöner Geschichte für die SZ zitieren. „Angeblich gab es bei einer Länderspielreise 1928 mal folgenden Dialog zwischen dem schwedischen König und der Schalker Vereinslegende Ernst Kuzorra. Wo liegt denn dieses Gelsenkirchen, fragte der Monarch? Bei Schalke, antwortete Kuzorra. Und wo liegt Schalke, wollte der König wissen. Anne Grenzstraße, Ihre Majestät. So Kuzorra.“ So spricht das Revier. Kurz, trocken.
Drecksloch Gelsenkirchen? Von wegen, mein Lieber. Graue Stadt? Man fahre an Spieltagen durch Schalke. Dann sieht man kaum noch etwas von dem Grau, ein blauweißes Fahnenmeer schmückt die ganze Schalker Ecke. Ja, es stimmt, dass man dort gern träumt. Und es stimmt, dass sie nach drei Siegen von der Meisterschaft träumen und nach drei Niederlagen sich dem Untergang nahefühlen. So sind sie die Schalker und deren Seele. Ausverkauft ist jedes Spiel, auch in der zweiten Liga. Blau und weiß ist ja der Himmel nur, schmettern sie inbrünstig. Und: Tausend Feuer in der Nacht haben uns das große Glück gebracht, Tausend Freunde, die zusammensteh´n, dann wird der FC Schalke niemals untergehn.“ Brosdas SZ-Geschichte endet mit den Zeilen: „Wie kann man denn das nicht lieben? Gehabt euch wohl, liebe Gäste, und es war uns eine Ehre!“