Der Anspruch ist nach Art des Hauses sehr selbstbewusst formuliert. Überall, wo etwas passiert, will „Bild“ für uns alle bald live dabei sein. Nicht mehr nur in der gedruckten Boulevard-Gazette „Bild“, nicht mehr nur im Netz auf „bild.de“, sondern spätestens im September, pünktlich zur Bundestagswahl in der Glotze. Mit einem eigenen TV-Kanal will der Boulevard-Spezialist den Deutschen ins Wohnzimmer und den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten auf die Pelle rücken.
Die Stoßrichtung ist klar. Der neue Sender soll „das Land, die Welt, die Politik und den Alltag der Menschen so zeigen, wie die Leute erleben, und nicht so steril und weichgespült wie teilweise bei den Öffentlich-Rechtlichen“. So formulierte es Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, gleichzeitig verantwortlich für den Springer-Kanal, 2019 im „Spiegel“. Und er weiß, was den Menschen bei ARD und ZDF fehlt: „Die Leute haben das Gefühl, sie werden nicht gehört. Da sehe ich großes Potenzial.“
Was sich bei Reichelt harmlos und menschenfreundlich anhört, ist für den Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke nur die fernsehtaugliche Perfektionierung einer Strategie, die schon Reichelt-Vorgänger Kai Diekmann für Bild propagierte. „Auf der einen Seite“, schrieb Lucke zu Beginn dieses Jahres in den Blättern für deutsche und internationale Politik, „gibt es das gute Volk, dessen Vertreter Bild sein will und auf der anderen Seite die bösen oder rundweg versagenden politischen Eliten. Kreiert worden sei diese Strategie 2013 von Diekmann, als er seine Leser wissen ließ: „BILD geht in die Opposition. Und wird außerparlamentarische Opposition. APO! BILD wird der neuen Regierung bei jeder Gelegenheit auf die Finger hauen! Hart, schmerzlos und ohne Gnade.“
Aggressive, fast inquisitorische Haltung
Genau diesen Ansatz sieht von Lucke in Bild live realisiert. Den Netzauftritt, der die Schablone für den kommenden Fernsehkanal ist, beurteilte er als eine „aggressive, fast schon inquisitorische Geisteshaltung“, mit der das Volk aus den Studios des Springer-Verlags überzogen werde. Diese kritische Analyse blendete Bild einfach aus und feierte sich unter Berufung auf eben diesen Verriss: „Politik- Experte Albrecht von Lucke – BILD Live ist die Stimme des Volkes.“ Eine Verdrehung, für die Bild Anfang Juni eine Rüge des Presserats hinnehmen musste.
Kein Hinderungsgrund für den Verlag, das Projekt TV-Kanal weiter voranzutreiben. Fünf bis sechs Stunden täglich Live-Berichterstattung, in der Journalisten und Bürger die „Richtigen Fragen“ stellen und die befragten Politiker nach dem Geschmack der Bild-Frager häufig nur die falschen Antworten geben können. Das hindert die Akteure aller Parteien nicht, schon jetzt dem Netzauftritt von Bild die Türen einzurennen.
22 Millionen Euro, so hieß es 2020 in Medienberichten, wolle der Verlag in diesem Jahr in das TV-Vollprogramm investieren. Viel Geld, aber Peanuts gegen die Summen, die den Öffentlich-Rechtlichen zur Verfügung stehen. Und so orchestriert der Verlag das 22-Millionen-Projekt, das er bescheiden als „start up“ bezeichnet, gern mit Hinweisen auf die Milliarden, die ARD, ZDF und Deutschlandfunk als Gebühren ins Haus fließen. Genüsslich ließ das Boulevardblatt seine Leser am 16. Juni wissen: „Gebühren 2020 Acht Milliarden für ARD und ZDF.“ Und wunderte sich: „Im Jahr 2020 kassierten die Öffentlich-Rechtlichen ordentlich ab – und das, obwohl die Zahl der angemeldeten Wohnungen sank.“
Selbst ernannte Stimme des Volkes
Kein Zweifel, mit der selbsternannten „Stimme des Volkes“, mit bescheidenerem Personalaufwand und dafür kantigen Thesen – Sagen, was Sache ist – plant Springer einen Generalangriff auf die „weichgespülten“ Sender von ARD und ZDF. Und das in einer Situation, in der den großen Fernseh-Bürokratien ohnehin Konkurrenz droht. RTL und dessen omnipotenter Gesellschafter Bertelsmann haben sich ebenfalls entschlossen, den öffentlichen Rundfunkanstalten ihre Dominanz in Sachen politischer Berichterstattung streitig zu machen. Schon sind einige bekannte Gesichter von ARD und ZDF auf die Bildschirme von RTL und ProSieben gewechselt. Vorbei die Zeit, wo sie den Nachrichtensendungen aus Mainz oder Hamburg kampflos die Oberhoheit über politische Themen überließen. Was auf den ersten Blick nach einer neu entdeckten staatsbürgerlichen Aufklärungspflicht aussehen mag, ist in Wahrheit knallhartes finanzielles Kalkül. Auch das Publikum der Senderfamilie von RTL ist gealtert und lässt sich längst nicht mehr nur durch das „Halligalli“ von einst als sichere Quoten-Bank buchen.
Während die Konkurrenz zur Attacke bläst, scheinen ARD und ZDF im Dornröschen-Schlaf zu verharren. Mit Krimis und immer neu kreierter leichter Kost wie „Land und lecker“ langweilen sie das Publikum. Politische Berichterstattung wie jüngst über den Parteitag der Grünen oder der Linken ist erst nach Mitternacht im Programm. Und ehemalige Flaggschiffe kritischer Berichterstattung wie der WDR sind im Seichten verkommen. Wo früher Schwergewichte wie Friedrich Nowottny oder Fritz Pleitgen als Intendanten das Sagen hatten, lächelt jetzt ein Tom Buhrow als WDR-Chef an den Problemen vorbei. Enthüllend der Spitzname im eigenen Sender – wie so häufig in Köln angelehnt an die fünfte Jahreszeit : „Kinderprinz“.
Pensionskassen mit angeschlossenem Programm
Nicht nur die drohende Konkurrenz von Bild alias Springer schaut voll Häme und Entsetzen auf die irrsinnigen Summen, die die Öffentlich-Rechtlichen den Zahlern von Rundfunkgebühren bei einem immer seichter werdenden Programm abverlangen. Viele Kritiker analysieren seit langem, dass für die Programme stets weniger Geld zur Verfügung bleibe, weil insbesondere die ARD-Landesrundfunkanstalten immer mehr Rücklagen brauchen, um wahnwitzige Ruhestandsgehälter zu zahlen. Branchenspott: „Pensionskassen mit angeschlossenen Programmteilen“.
Den Ernst der Lage für den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk scheinen auch jene nicht erkannt zu haben, die ihn in Rundfunk- und Fernsehräten überwachen sollen. Zwar mussten die Parteien seit Jahren ihren direkten Einfluss in den Gremien zugunsten gesellschaftlicher Gruppen abgeben, aber indirekt haben sie die Hand drauf, wer vom Hausfrauenbund, der NABU oder dem Landesfeuerwehrverband in den Gremien sitzt. Neue Namen für alten Parteieinfluss. Wie sehr dieses Spiel noch funktioniert, ist bei der anstehenden Suche nach einer neuen oder einem neuen ZDF-Intendanten zu besichtigen. Da haben sich der langjährige „rote Freundeskreis“ und der „schwarze Freundeskreis“ verhakt. Die Roten wollen den lange als Favorit gehandelten und überaus erfolgreichen ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler nicht akzeptieren und ziehen mit der grün angehauchten ARD-Hauptstadtstudio-Leiterin Tina Hassel ins Rennen. Pseudopolitische Spielchen aus einer längst vergangen geglaubten Zeit. Statt mal endlich die richtigen Fragen und vor allem sich selbst in Frage zu stellen.
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