In ein konkretes Stadium trat die Idee mit einer ersten Beuys-Ausstellung in der DDR mit einem Brief des Direktors des Kupferstichkabinetts in Ost-Berlin vom 15.02.1987 an mich. Der auch in der Bundesrepublik in Fachkreisen sehr geschätzte Dr. Werner Schade bezog sich auf mein Gespräch mit Professor Kettner bei dem „Lachsessen“ im vergangenen Jahr und erläuterte seine Ausstellungskonzeption. Unter der Schirmherrschaft der Akademie der Künste der DDR sollten frühe zeichnerische Arbeiten aus öffentlichen Schweizer Sammlungen mit ebensolchem Bestand aus der Sammlung der Gebrüder van der Grinten, langjährigen Freunden von Beuys, kombiniert werden. Die frühen zeichnerischen Beuys – Arbeiten waren für die Kulturpolitiker weniger provokativ als „Fettstuhl“ und ähnliche Objekte. Schließlich haben wir uns nach internen Diskussionen dazu entschieden, die Komponente Schweiz auszuklammern und uns auf die Sammlung van der Grinten zu konzentrieren, was den Deutsch – Deutschen Kulturaustausch deutlicher machen konnte. Schade hatte mit Hans van der Grinten bereits gesprochen und mich gebeten, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Begünstigt wurde dieser Wunsch nach umfangreichen Leihgaben für die geplante Ausstellung durch eine ähnliche Ausstellungsidee des Landschaftsverbandes Rheinland, dem allerdings die politischen Durchsetzungsmöglichkeiten fehlten. Direktor Jürgen Wilhelm, der sich persönlich für einen Dialog mit Künstlerkreisen aus der DDR stark gemacht hatte, sagte sofort seine Unterstützung für Kontakte mit den van der Grintens und weitere Mitwirkung zu. Daraus wurde eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit auch bei späteren Projekten.
Anlässlich einer Ausstellungseröffnung im April 1987 mit zwei Künstlern aus der DDR in Stade, deren Veranstalter die Akademie der Künste war, habe ich mich mit dem Direktor der Akademie zum weiteren Vorgehen im Zusammenhang mit dem Beuys Projekt verabredet. Dr. Heinz Schnabel, ein knochenharter Verhandler, relativierte zunächst wieder alle Ankündigungen. Seine Forderungen, zu denen ich an Ort und Stelle natürlich keine Entscheidungen treffen konnte, waren beinahe unerfüllbar. Nach langem Hin und Her blieb ein harter Kern übrig: NRW trägt Kosten für den Katalog mit 5000 Exemplaren für die DDR sowie Rahmung der Exponate, Transport und Versicherung außerhalb der DDR sowie Reisekosten der DDR-Delegation nach Bonn. Außerdem im Gegenzug Realisierungskosten für eine Heartfield Ausstellung samt Katalog in Bonn, deren Exponate die Akademie aufbereiten und liefern sollte. Als Dreingabe würde die Akademie einer großen Ausstellung in der Bundesrepublik mit dem Künstler Werner Stötzer zustimmen. Mit diesem Wunschpaket habe ich mich nach Düsseldorf begeben. Überraschend schnell konnte die WestLB, die große wirtschaftliche Interessen in der DDR hatte, als Generalsponsor für das Beuys Projekt gewonnen werden. Innerhalb von Tagen konnte ich deshalb mit Rückendeckung für die Beuys Ausstellung eine Zusage an Schnabel signalisieren und gleichzeitig bestätigen, dass der Wunsch für eine Heartfield Präsentation nebst Werkverzeichnis positiv aufgenommen worden sei, nun aber mit weiteren Partnern verhandelt werden müsse. Diese Inaussichtstellung reichte der Akademie schließlich.
Ende Mai erhielt ich einen handschriftlichen Brief von Professor Gerhard Kettner, der mir mitteilte, die Akademie habe endgültig für die Beuys Ausstellung grünes Licht gegeben. Später erzählte mir Kettner, schließlich habe auch Politbüromitglied Hager zur Gesichtswahrung mit der Bemerkung zugestimmt: „Irgendwann in der Zukunft müssen wir dem Quatsch sowieso zustimmen, aber jetzt kriegen wir noch einen Preis dafür bezahlt.“ Wie locker die Stimmung nun war, zeigte sich auch mit einer
brieflich ausgesprochenen Einladung von Professor Willi Sitte, Vorsitzender des Verbandes Bildender Künstler der DDR, an mich, einige Tage gemeinsam mit ihm auf dem Weingut des Verbandes bei Naumburg zu verbringen. Das war der Olymp möglicher Anerkennung und beinahe schon zu viel Nähe.
Bei allen Verhandlungen, die ich bisher mit Funktionsträgern aus offiziellen Institutionen der DDR geführt hatte, stand zunächst immer Abwehr an erster Stelle. Es gab ein Grundmisstrauen, das auf die Systemkonkurrenz zurück zu führen war. Erst der persönliche Kontakt unter Gesprächspartnern und die Sicherstellung der eigenen politischen Interessen konnte Türen öffnen. Wobei mir schnell klar wurde, wie unterschiedlich das „Gefahrenpotential“ in den einzelnen Bereichen des Kulturaustausches gesehen wurde. Das „gesprochene oder geschriebene Wort“ galt potentiell aus Sicht der DDR-Aufpasser für viel gefährlicher als bildhafte Darstellungen. Ich habe mich in diesem Zusammenhang an einen Vorfall aus dem Jahresbeginn 1983 erinnert, von dem mir meine Frau erzählt hatte, die damals Büroleiterin von Wolfgang Roth, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, war. In den Medien war vermeldet worden, dass Roth sich mit Egon Krenz in der DDR treffen wollte. Eines Tages klingelte das Bürotelefon und Udo Lindenberg war am Apparat und wollte Roth sprechen wegen eben dieser geplanten Reise. Lindenberg brauchte Fürsprache für einen herbei gesehnten Auftritt im Palast der Republik. Die abenteuerlichen Umstände dieses tatsächlich später realisierten Auftritts machen beispielhaft deutlich, wie genau auf jedes mögliche Wortspiel geachtet wurde.
Nach zahlreichen telefonischen Vorgesprächen bin ich auf Einladung der Akademie gemeinsam mit meiner Frau im Juni 1987 nach Ost-Berlin gereist. Ebenfalls dabei war ein Vertreter des Landschaftsverbandes Rheinland, der für die Leihgaben der Gebrüder van der Grinten zu verhandeln hatte. Vereinbart wurde schließlich das Konzept für eine Ausstellung, die in der DDR firmieren sollte als „Joseph Beuys, frühe Arbeiten aus der Sammlung van der Grinten“ und in der Bundesrepublik als „Beuys vor Beuys“. In der Bundesrepublik galt das Frühwerk nicht als beispielhaft für das gesamte Schaffen des Künstlers. Für die Kunstsinnigen in der DDR sollte aber genau dieser Eindruck vermittelt werden. Auch für den Katalog, der wieder im DuMont Buchverlag erscheinen sollte, wurden zwei Ausgaben mit diesen unterschiedlichen Titulierungen festgelegt. Sogar die Abbildung des Künstlers im Katalog unterschied sich: Bei „Beuys vor Beuys“ der junge Künstler ohne Hut, bei der Ausgabe für die DDR das typische und allgemein bekannte Künstlerbild mit Hut. Stationen der Ausstellung sollten Bonn, Akademie Galerie im Marstall in Ost-Berlin, Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Vertretung des Landes NRW in Brüssel, Hamburger Kunsthalle und Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt sein. Auch ein Auswahlgremium wurde bestimmt, dem ich ebenso zugeordnet wurde wie die Leihgeber, die Direktoren des Städel, der Hamburger Kunsthalle, Vertreter der Akademie, des DuMont Buchverlags, der Direktor des Kupferstichkabinetts in Ost-Berlin und des Landschaftsverbandes Rheinland. Jede Kleinigkeit wurde präzise abgesprochen, nichts dem Zufall überlassen. Wir haben in diesen Tagen nicht gefaulenzt.
Es war aber auch die Zeit der 750 Jahrfeier von Berlin mit dem Prunkstück „Nikolai Viertel“, das aus an anderen Stellen abgerissenen historischen Gebäuden und historisierenden Neubauten mitten in der Stadt angrenzend an „Unter den Linden“ aufgebaut worden war. Sehr zum Ärger anderer Städte in der DDR waren hier alle verfügbaren Mittel im Sinne der Schaufensterfunktion konzentriert worden. Heute ist dieses Viertel ein großer Anziehungspunkt für die Touristen, was zeigt, dass „Disney Land“ überall geht.
Gemütliches Beisammensein mit dem Akademiedirektor, dem stellvertretenden Kulturminister und weiteren hochrangigen Vertretern aus der Kulturszene sowie ein Besuch der Staatsoper Unter den Linden gehörten unter anderem zum Programm. Während der Fachgespräche war für meine Frau ein sogenanntes Damenprogramm organisiert worden. Alles Denkbare war aufgeboten, um gute Atmosphäre zu demonstrieren. Ich habe aber auch den Eindruck gewonnen, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und gegenseitiger Respekt enormen Einfluss haben und entscheidende Weichenstellungen bewirken konnten. Genau diese Vorgehensweise war für die DDR
Institutionen ungewohnt, die sonst nur vor allem westliche Herablassung kannten.
Auf dem Rückweg haben meine Frau und ich Station bei Werner Stötzer in seinem wunderbaren Ferienhaus auf der Insel Rügen gemacht. Direkt neben dem Friedhof Maria Magdalena und der Dorfkirche von Vilmnitz, der Ruhestätte des Fürsten von Putbus, steht das Haus in einzigartig schöner Lage. Wie wir von Stötzer wussten, war es auch Drehort des Films „Die Heiden von Kumerow“ mit Paul Dahlke als Pfarrer und Ralph Wolter als Kuhhirte gewesen. Irgendwie strahlte es noch diese ganz besondere Atmosphäre des „Heidendöpens“ aus. In einem denkwürdigen Umtrunk am Abend mit Lübzer Pils und Korn wurde der positive Abschluss der Verhandlungen zur Beuys Ausstellung gefeiert, von der Stötzer wie viele andere Künstler eine weitere Liberalisierung der kulturellen Szene in der DDR erwarteten. Der erwartete und erhoffte Effekt trat tatsächlich ein.
Auch ein kleiner Ausflug zu den berühmten Kreidefelsen fand am nächsten Tag noch statt. Scharen von Touristen bevölkerten den wunderbaren Buchenwald, um einen Blick wie Caspar David Friedrich auf die Klippen zu haben. Bei einem Versuch, die Reste des Bierabends in der vorhandenen Toilette los zu werden, stießen wir auf das Türschild „von 12 – 14 Uhr geschlossen“. Dies spiegelte exakt das Dienstleistungsverständnis in der DDR wider. Solch streng regulierter Ablauf für die „Werktätigen“ führte oft zu grotesken Situationen.
Ein kleiner Abstecher auf der Rückfahrt nach Bonn führte uns noch nach Ahrenshoop auf dem Darß. Dort trafen wir Michael Morgner und einige andere Künstler und Künstlerinnen in ihrem Ferienhaus hinter den Dünen. Ich habe mich bei dieser Gelegenheit als Devisenbeschaffer für Morgner betätigt und einige seiner Zeichnungen für eine Galerie in Bonn mitgenommen. Beim „Schwarzumtausch“ der so erlangten DM gab es einen Kurs von 1 zu 6 bis 8. Kontrolle an der Grenze mussten wir wegen meines Ministerialpasses, der die gleichen Privilegien wie der Diplomatenpass ermöglichte, nicht befürchten. Wir hatten aber auch noch eine andere viel wertvollere, dafür aber legale Fracht mitzunehmen: Das Ölgemälde von Helmut Schmidt, das der Künstler Bernhard Heisig gefertigt hatte. Ausgestattet mit einer Ausfuhrgenehmigung des Kulturministeriums haben wir schließlich die Grenze bei Lübeck Schlutrup mit freundlichen Grüßen der Volkspolizei überschritten.
Reisen in ein untergegangenes Land:
TEIL 1: REISEN IN EIN UNTERGEGANGENES LAND
TEIL 2: MENSCHENBILDER, KUNST AUS DER DDR