Drei Beobachtungen stimmen mehr als nachdenklich:
- Seit der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 ist das Thema Migration aus den Schlagzeilen geraten – mit der Folge, dass die AfD aus dem öffentlichen Diskurs so gut wie verschwunden ist. Das belegt zum einen, wie sehr die Fokussierung des Wahlkampfs auf Migration als „Mutter aller Probleme“ und „Gefahr für Deutschland“ nur den Rechtsnationalisten von der AfD genutzt hat. Zum andern wird deutlich, dass die AfD zu allen anderen Politikfeldern nichts Substanzielles beizutragen hat. Warum aber schwebt die AfD trotzdem als dunkle, durchaus bedrohliche Wolke über allen Debatten?
- Die CDU/CSU musste wenige Tage nach der Bundestagswahl ihre zentralen Versprechen einkassieren und Grundgesetzänderungen zustimmen, um ein 500-Milliarden-Euro schweres Sondervermögen für zusätzliche Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz zu schaffen und mehr Kredite für Verteidigungs- und Rüstungsausgaben aufnehmen zu können. Das erweist sich nicht nur für sie als Glaubwürdigkeitsproblem. Inhalt und Vorgang der Grundgesetzänderungen beschädigen in hohem Maß das Vertrauen in die Belastbarkeit demokratischer Entscheidungsprozesse. Zudem leisten ein Vorgehen wie das vom Kanzlerkandidaten der CDU/CSU Friedrich Merz und der Verbleib von Lars Klingbeil und Saskia Esken in ihren Führungspositionen trotz eines verheerenden Wahlergebnisses für die SPD dem Vorurteil Vorschub, als kümmere Politiker:innen überhaupt nicht, was Bürger:innen mit ihrer Wahlentscheidung zum Ausdruck bringen wollen. So schwindet das Vertrauen, mit demokratischen Prozessen wie Wahlen und persönlichem Engagement in Parteien Entscheidungen beeinflussen zu können.
- Die unbegrenzte Ausgabemöglichkeit für Rüstungsproduktion durch die Änderung des Grundgesetzes hat schlaglichtartig verdeutlicht: Derzeit steht nicht – wie in Zeiten des Kalten Krieges – im Vordergrund politischen Handelns, jede kriegerische Auseinandersetzung zu vermeiden. Vielmehr hat die Absicht Priorität erfahren, die europäischen Armeen zum Krieg zu ertüchtigen. Die erstere Strategie führte zur europäischen Friedenspolitik (Ostpolitik Willy Brandts, Helsinki-Prozess, Überwindung der Teilung Europas). Die jetzt eingeleitete Phase neuer Hochrüstung (und möglicherweise neuer atomarer Bewaffnung) ist ausgerichtet auf Kriegführenkönnen. Das fatale Schlagwort von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) von der „Kriegstüchtigkeit“ konterkariert nicht nur sozialdemokratische Friedenspolitik. Sie ist Ausdruck einer gefährlichen Vorrangstellung des Militärischen vor der Entwicklung einer europäischen Friedensperspektive. Die Umkehrung ist auch angesichts des Angriffskriegs Putin-Russlands gegen die Ukraine vonnöten – auch und gerade, wenn die staatliche Souveränität der Ukraine als Grundvoraussetzung für einen Waffenstillstand durchgesetzt werden soll!
Wenn ich diese drei Beobachtungen auf dem Hintergrund dessen betrachte, dass der auf Gewalt nach Innen und Außen ausgerichtete Autokratismus weltweit auf dem Vormarsch ist, dann steigt in mir eine große Unruhe auf. Es gehört zur Strategie von Autokraten, Konflikte zu verschärfen und Widersprüche durch rabiate Zwangsmaßnahmen scheinbar zu beseitigen. Darum haben Autokraten kein Interesse an Konfliktlösungen und demokratischen Verständigungsprozessen. Autokraten bauen innergesellschaftliche Feindbilder auf, gegen deren angebliche Bedrohung sich eine Gesellschaft schützen muss, um so eine größtmögliche Homogenität zu erreichen. Die dem Bedrohungspotential zugerechneten Menschen werden für alle Fehlentwicklungen einer Gesellschaft verantwortlich gemacht, um sie so mit unterschiedlicher Intensität ausgrenzen und verfolgen zu können. Diese erschreckende Entwicklung ist in den USA mit Turbogeschwindigkeit im Gange. In anderen Ländern wie Russland, Türkei, Ungarn sind die jeweiligen Gesellschaften durch die Putins, Erdogans, Orbáns schon deformiert. Immer deutlicher wird, dass der international vernetzte Autokratismus mit Brachialgewalt auch weltpolitisch neue Fakten zu schaffen versucht. Die brutale Entvölkerungspolitik im Gaza-Streifen, im Schulterschluss betrieben von der Netanjahu-Regierung und der Trump-Administration, sowie die imperialistischen Ansprüche Trumps auf Kanada, Grönland und Panama belegen dies auf erschreckende Weise. Der Besuch des mit Rechtsextremisten regierenden israelischen Autokraten Benjamin Netanjahu bei Viktor Orbán in Ungarn zeigt überdies, dass Netanjahu null Probleme damit hat, mit einem Antisemiten wie Orbán zu paktieren, solange dadurch die autokratische Agenda bedient werden kann. Außerdem belegen dieser Besuch wie die nun beginnende Kampagne des Rassemblement National gegen die Verurteilung von Marine Le Pen wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder eindrucksvoll, dass es zum Wesen des Autokratismus gehört, das nationale wie internationale Recht bewusst zu missachten. Dadurch soll signalisiert und suggeriert werden: Wir lassen uns durch nichts und niemanden aufhalten, vor allem nicht durch das Recht.
Gerade die europäischen Staaten stehen nun vor der großen Herausforderung, die notwendigen Erneuerungen gesellschaftlichen Lebens unter den Bedingungen von Demokratie, Rechtsstaat und dem unbedingten Friedensauftrag (in Deutschland ist es aufgrund der Präambel des Grundgesetzes ein Verfassungsauftrag, „… dem Frieden der Welt zu dienen“) zu gestalten. Das ist gegenüber vergangener Generationen ein ein großer Fortschritt und ungeheures Privileg. Denn da standen zu Beginn von Erneuerung die Trümmerberge der Kriege und Zerrüttungen von Gewaltherrschaften. Ebenso lassen sich europäische Werte nur vermitteln, wenn weltweit zwischenstaatliche Konflikte mit dem geringst möglichen Einsatz von Gewalt ausgetragen werden. In der Demokratie ist dies nur möglich, wenn sich die Bürger:innen in ihrer Gesamtheit durch Eigenverantwortung und Beteiligungsbereitschaft dafür einsetzen und sich dabei an den Grundwerten der Verfassung orientieren und die Grundrechte gleichermaßen in Anspruch nehmen, achten und verteidigen. Das macht es erforderlich, dass in Zukunft viel stärker auf die Willensbildung in der Bevölkerung zu achten und diese zu fördern ist. Dem aber widerspricht, wenn auf der einen Seite Rechtsnationalisten propagandistisch einen amorphen „Volkswillen“ proklamieren und Autokraten sich auf diesen berufen, gleichzeitig aber alles tun, um einen demokratischen Diskurs zu unterdrücken. Auf der anderen Seite dürfen in den demokratischen Staaten politische Entscheidungen in Parlamenten nicht vom gesellschaftlichen Diskurs entkoppelt werden.
Vor dieser Herausforderung stehen nicht nur die Parteien, die jetzt eine neue Bundesregierung stellen wollen. Alle Bürger:innen sind aufgerufen, für die Erneuerung gesellschaftlichen Zusammenlebens Verantwortung zu übernehmen – und zwar so, dass dadurch der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat gestärkt wird. Dafür sollten wir untereinander sehr viel mehr Empathie und gegenseitige Rücksichtnahme und weniger egomanische Selbstbehauptung an den Tag legen. So lassen sich die Immunkräfte gegen das Gift des Autokratismus stärken.