Bundeskanzler Olaf Scholz war gestern Abend im Interview mit dem ZDF der Ernst der Lage vom Abend zuvor noch im Gesicht abzulesen. Eine Rakete war am Tag zuvor auf polnischem Boden eingeschlagen, nahe der ukrainischen Grenze, es gab zwei Tote. Eine Rakete aus Russland, ein Bündnisfall der Nato? Einer für alle, alle für einen, lautet das Prinzip für den Fall des Angriffs. Nachts um drei hatte man den Kanzler und die anderen hohen Herrn des Gipfels auf der Insel Bali geweckt. US-Präsident Biden kritisierte Russlands Präsidenten Putin scharf. Man sitze hier auf Bali zusammen und rede über die Probleme der Welt und Putin führe einfach seine Angriffe auf die Ukraine fort, lässt 90 Raketen abfeuern. Barbarisch, nannte Biden das. Die Herren berieten die Lage, es gibt zum Glück keinen Automatismus. Ruhe bewahren, besonnen handeln, genau den Fall untersuchen Es war wohl ein Irrläufer der Ukraine . Und dennoch: der Vorfall zeigt, wie nah wir am Abgrund stehen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht weit weg. Es kann jederzeit wieder eine Rakete einschlagen, in Polen oder anderswo auf Nato-Gelände.
Bloß keine Hektik, Nervosität, wie sie auf Twitter verbreitet wurde, wo schnell das Wort Krieg die Runde machte. So las ich später. Ab etwa 18 Uhr wurden Meldungen aus Polen empfangen, von lokalen Medien, eine Getreidetrocknungsanlage sei getroffen. Möglicherweise russische Raketen. Ein Bündnisfall? Die Nato in Alarmzustand? Nein, auch wenn Ukraine-Präsident Selenskyj von gesicherten Erkenntnissen wissen will, dass russische Raketen Polen getroffen hätten. Die Eskalationsspirale könnte starten. Schon taucht das Wort „Weltkrieg“ auf.
Heikle Situation
In der Tagesschau war das nicht die Spitzenmeldung, was mich wunderte. Zunächst wurde über den „normalen“ Krieg berichtet, darüber, dass es schweren Raketenbeschuss von Seiten Russlands auf die Ukraine gegeben habe. Und erst dann berichtete Judith Rakers davon, dass bei den russischen Raketen „heute auch ein polnischer Grenzort getroffen worden“ sei. Mehr nicht, kein Wort dazu, wer diese Rakete abgefeuert habe. Man wusste es wohl nicht und verzichtete auf die Hektik im Stile von Twitter, wo man schon den nächsten Weltkrieg kommen sah. Korrespondent Tobias Dammers schilderte, der polnische Sicherheitsrat sei einberufen worden, er sprach von einer „heiklen Situation“, weil Polen ja ein Land sei, das zum westlichen Verteidigungsbündnis gehöre, wie auch Deutschland.
Wenige Minuten später schrieb mir eine Freundin eine Nachricht, in der sie ihre Sorge zum Ausdruck brachte. Ich wusste zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr, als das, was im Fernsehen lief und antworte nur: „Vielleicht, hoffentlich ist es nur ein Querschläger“. Derweil lief das normale Fernsehprogramm weiter, in der ARD die Serie „Die Kanzlei“ und die Krankenhausserie über die Sachsen-Klinik „In aller Freundschaft.“ Aber halt, nach der Kanzlei tauchte plötzlich ein „Tagesthemen-Extra“ auf mit Caren Miosga, die Ärzte-Seifenoper musste warten. Caren Miosga berichtete von dem Raketeneinschlag in Polen, zwei Tote habe es gegeben. Und wieder dachte ich an die Nato und den Bündnisfall. Wenn es die Russen waren, was dann? Schießt der Westen zurück?
Schnell und nachrichtlich
Die Nachrichtenlage ist ungenau, man weiß in Hamburg und anderswo in den Redaktionen auch nichts Genaues, berichtet aber dennoch über das, was man weiß. Weil man es für wichtig hält. Klar. Die Lage ist ernst, aber unübersichtlich. „Uns ist bewusst“, so lese ich später eine Stellungnahme von Marcus Bornheim, Erster Chefredakteur von ARD aktuell, „dass wir in einer Breaking-news-Situation mit vielen Unsicherheiten operieren müssen.“ Daher sei es wichtig, viele verschiedene Stimmen zu Wort kommen zu lassen. „Wir versuchen klar zu machen, was wir wissen, aber auch zu sagen, was wir nicht wissen.“ Das ist seriöses journalistisches Handwerk, man hat viele Expertinnen und Experten, die aus unterschiedlicher Sicht die Lage analysieren können und differenziert die Situation beschreiben. Schnell muss man sein, transparent, so nachrichtlich wie möglich, ohne Übertreibung.
Am nächsten Morgen weiß man es etwas besser. Es handelt sich um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine. Was nicht heißt, dass Russland aus dem Schneider ist. Moskau hat schließlich vor Monaten den Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen, ist dabei, das Land zu verwüsten. Ohne den Krieg aus Russland gäbe es auch keine Raketen aus der Ukraine. Das muss sich Russland, muss sich Putin, ob er will oder nicht, anhören. Putin und Russland sind isoliert beim Gipfel, ihr Krieg findet keine Billigung mehr, auch nicht die der Inder und der Chinesen.
Ich schaue mir die Hektik auf Twitter nicht an, sondern verfolge die weitere Berichterstattung in der ARD. Dort setzt man nach dem kurzen Einspieler mit Caren Miosga das abendliche Berieselungsprogramm fort, die Sachsen-Klinik darf mal wieder ihre Künste in medizinischer wie menschlicher Art demonstrieren, die einen werden geheilt, andere finden zusammen als Paar. Wie schön! An einem Abend, wo die Welt fast wieder mal am Abgrund stand. Und der öffentlich-rechtliche Sender, die ARD, ihrer Informationspflicht nachkam. Auch sie hatte keine verlässlichen Informationen, verheimlichte dies aber auch nicht und verbreitete auch keine Weltkriegs-Stimmung oder soll ich besser sagen- ängste?
Entspannung, nur nicht aufheizen
Wohltuend, wie besonnen die polnische Seite reagierte, wie gelassen Nato-Generalsekretär Stoltenberg die Lage erklärte. Nur nicht aufheizen, war mein Eindruck. Es galt auch, der ukrainischen Stellungnahme die Wucht der Spekulation durch Selenskyj zu nehmen. Verschwörungstheorien helfen in solchen Situationen nicht. Statt Eskalation spürte man den Versuch der De-Eskalation, der Entspannung. Man war froh, dass ein Biden Präsident der USA ist und kein Trump, der es ja wieder werden will, man war froh um den besonnenen Olaf Scholz, der sich nicht in den Krieg ziehen lassen will. Kiew bekommt gewaltige Hilfen vom Westen, ohne die es nicht überleben würde. Und dennoch tritt Scholz immer wieder auf die Bremse, bloß keine Ausweitung des Kriegs, Deutschland und die anderen wollen und dürfen nicht Kriegspartei werden. Es wird und darf auch keine Flugverbotszone über der Ukraine geben, weil dies den Kriegseintritt der Nato bedeuten würde.
Putin will in seiner Verzweiflung ob des für Russland immer schwieriger werdenden Kriegsverlaufs den Krieg ausweiten in eine Art terroristischen Krieg. Wie anders soll man den neunzigfachen Flugkörperbeschuss auf Häuser, Kraftwerke, Umspannungsleitungen in der Ukraine bewerten. Putin will den einstigen Bruder vernichten. Er soll abgeschnitten werden von Strom, Wasser, Heizung, der Versorgung mit Lebensmitteln.
Der Raketenvorfall zeigt das Risiko, in dem wir leben. Ein Krieg am Rande von Europa kann jederzeit andere Länder treffen, gewollt oder nicht. Krieg ist halt schwer zu kontrollieren. Putin darf nicht erfolgreich sein in seinem Versuch, die europäische Friedensordnung zu zerstören. Er wird es weiter versuchen, wie ein Boxer, der angeschlagen ist und spürt, dass er KO gehen könnte, er schlägt um sich. Es ist wie zuletzt Besonnenheit gefragt und ja auch Entschlossenheit, Angriffe auf unsere System abzuwehren.