Auch in einunddreißig Jahren des Wohnens in Berlin habe ich das Berlinern nicht gelernt. Durch die Sturzgeburt der Deutschen Einheit sind meine Frau und ich dem Sog der Ereignisse folgend aus Bonn in die später geliebte, aber immer verstörende Stadt gekommen. Wir haben in Köpenick ganz im Südosten Berlins gelebt. Ausgestattet mit einer Zuzugsgenehmigung sind wir noch im Frühsommer 1990 in den Ostteil der Stadt gezogen. Die Meldebescheinigung der Volkspolizei haben wir aufgehoben, wahrscheinlich als Beweis dafür, dass wir diese Phase nicht geträumt haben.
Unser noch von der DDR Regierung als Gunstbezeugung zur Miete gewährtes Domizil, eine hübsche kleinere Villa am Langen See gegenüber der alten Regattastrecke von 1936, haben wir mit unseren Söhnen vierzehn Jahre lang bewohnt. Für die Nachbarn, überwiegend ehemals sehr hohe Regierungskader, waren wir von vornherein irgendwie verdächtig. Schnell haben wir den Grund, der in der Historie des Hauses lag, erfahren. Gleich nach dem Krieg hatte hier ein sowjetischer General seinen Dienstsitz. Weitere bedeutende Persönlichkeiten aus dem real existierenden gehobenen Sozialismus folgten. Darunter war der mit Auszeichnungen überhäufte Superarbeiter Adolph Hennecke. Nach einigen Jahren wuchsen ihm und seiner Frau jedoch die üppigen Platzverhältnisse über den Kopf und er bezog lieber eine Wohnung im neu errichteten Plattenbau.
Von seinem ihm von der Staatsmacht aufgenötigten Leben haben wir noch im ersten Sommer erfahren: meine Frau, eine Gartenliebhaberin, rupfte zwischen Beeten Unkraut und wurde über den Zaun von der Witwe eines Ministers darauf aufmerksam gemacht, dass solche Arbeiten für die Familie Hennecke stets der Gärtner gemacht habe. Sie könne uns da eine Empfehlung geben.Zwei Jahre vor unserem Einzug wurde die Villa gründlich saniert und baulich dem neuen Dienstzweck angepasst: Ab 1988 war unser Domizil Gästehaus der DDR Regierung für ganz besondere Gäste, denen eine exquisite Betreuung gewährt wurde. Im Klartext hieß dies, es handelte sich um eine Dependance der Staatssicherheit. Jeder Raum hatte einen Telefonanschluss, auch die Bäder, Toiletten und die Garage, was für Kenner der Verhältnisse in der DDR ein unglaublicher Luxus war. Die zentralen Leitungen zur Abhörung, die auf alle Räume mit damals modernster Technik ausgedehnt war, verliefen im Speiseaufzug aus dem Souterrain in die Anrichteküche. Leider waren sie einschließlich der Technik bei unserem Einzug gekappt, was alle schönen Telefone unbenutzbar gemacht hatte.
Für unsere Nachbarn ergab sich aus diesen besonderen Umständen die Erkenntnis, ich müsse ein ranghoher Bediensteter des BND sein. Zusammen mit dem Stempel „Wessi“ führte dies zu einem alltäglichen Abstand. Dass wir trotz der herrlichen Wohnlage von vielen gewohnten Bequemlichkeiten abgeschnitten waren, zeigte sich aber auch durch die nicht vorhandene Infrastruktur. Außer einem kleinen Konsum gab es in dem schönen Wohnviertel Wendenschloss, in dem auch Manfred Stolpe angeblich einen Orden der Staatssicherheit erhalten haben soll, nichts. Tage nach dem Einzug wollte ich im Konsum Katzenstreu kaufen. Meine Frage nach dieser Ware wurde von der Verkäuferin mit einem milden Lächeln und Kopfschütteln beantwortet. Dazu müsste ich nach Neukölln in den Westen fahren ( 12 Kilometer ! ). Mein Problem wurde durch die freundliche Dame ganz anders gelöst: Sie schloss kurzfristig die Kasse und holte aus ihrer Wohnung im Nachbarhaus einen Beutel mit Sägespänen, den sie uns mit dem Ratschlag übergab, nicht zu dick aufzutragen.
Und überhaupt, die Katzen: Max, Moritz und Binchen haben nicht nur unseren Garten genossen, sie haben vorwiegend ihr Geschäft bei unserem zweiten Nachbarn auf der anderen Seite verrichtet. Vorzugsweise ging das in die Blumenbeete, was bei entsprechenden Gartenarbeiten zu beträchtlichem Unwillen führte. An einem Ostermorgen, unsere Nachbarn hatten Besuch von ihren Enkelkindern, waren alle Ostereier schön zwischen den Büschen und Blumen gleich neben unserem Zaun versteckt worden. Als die Kinder zur großen Suche ansetzen wollten, riss der Verbindungsschlauch von der am Tag zuvor defekt gewordenen Schmutzwasser Hebepumpe in unserem Haus zum Gulli am Zaun. Binnen ein,zwei Minuten waren alle Beete samt Eiern von der Brühe überschwemmt. Wir wurden durch das Geschrei der Nachbarin aus unserer morgendlichen Ruhe gerissen: „ Erst scheißen uns die Katzen in den Garten und jetzt kommt auch noch der ganze Dreck von dieser Bande aus dem Westen“. Das war auch nach einer Entschuldigung das Ende unserer nachbarlichen Beziehungen.
Bis sich die Situation in der Infrastruktur für den täglichen Bedarf merklich verbessert hat, vergingen nahezu drei Jahre. An der miserablen Verkehrsanbindung ins Stadtzentrum, auf die meine Frau zur täglichen Fahrt in die Bundestagsgebäude angewiesen war, hat sich aber in dreißig Jahren nichts geändert. Die Politik des Senats hat sich traditionell auf die Belange der Innenstadt konzentriert. Hier wurde geklotzt und nicht gekleckert. Regierungsviertel, Bebauung des Potsdamer Platzes, Museumsinsel, Rekonstruktion des ehemaligen Stadtschlosses, neuer Flughafen, Verlängerung der Stadtautobahn und Vieles mehr geben Zeugnis dafür. Senat und Bundesregierung haben mit dieser Stadtpolitik der Mitte stets zusammen gearbeitet. Ganz unschuldig an der Misere waren aber auch die starken und auf ihre Autonomie bedachten Bezirke gewiss nicht. Koordinierung und Zusammenarbeit untereinander und mit dem Senat wurde klein geschrieben. Eine Stadt aus einem Guss ist Berlin nie geworden.
Prägend für Besucher ist der Eindruck vom Glamour der Innenstadt. Dazu gehört auch der Reiz von „MultiKulti“ in den angesagten Innenstadtbezirken, die noch nicht wie Neukölln oder Friedrichshain den Glanz des Reichtums ausstrahlen.Wer je außer diesen Gegenden der grenzenlosen „Liberalität“die unglaublich eindrucksvolle Museumslandschaft gesehen oder die Theaterwelt erlebt hat, kann sich dem Reiz der Stadt nur schwer entziehen. Auch wir haben dies in vollen Zügen genossen. Das eigentliche Zentrum ist aber vor allem Vorzeigeobjekt und Reservat für die Wohlhabenden, die sich den Luxus des Lebens dort leisten können. Urberliner sind das aber mitnichten, die wohnen in den Randgebieten wie Lichtenberg, Marzahn oder Spandau und fühlen sich abgeschnitten und vernachlässigt. Das Ergebnis der Wiederholungswahl hat dies sehr deutlich gezeigt.
Mit dem Älterwerden und der Krebserkrankung meiner Frau ist uns die Metropole Berlin immer mühsamer geworden. Wir haben uns mit dem täglichen Leben auf unseren Kiez konzentriert. Nur die wöchentlichen Zwangsbesuche zur Therapie in der Charite haben uns noch in die eigentliche Stadt geführt. Die Mühsal der Fahrt dorthin hat meinen Entschluss gefestigt, Berlin nach dem Tod meiner Frau den Rücken zu kehren und zurück in das nie vergessene Rheinland zu kommen. Auch meine Frau wollte und wurde hier beerdigt.