Wer den bundesweiten Niedergang der SPD und dessen Gründe verstehen will, der kann und konnte diesen Absturz wie durch ein Brennglas im Ruhrgebiet beobachten.
In den 70er Jahren erreichte die SPD hier bei den verschiedenen Wahlen – Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen – immer deutlich über 50 Prozent, in den Hochzeiten sogar 60 Prozent. Beobachter lästerten damals, man müsse zwischen Dortmund und Duisburg nur einen Besenstiel kaufen und rot anstreichen – dann werde dieser schon mit absoluter Mehrheit zum Oberbürgermeister gewählt. Der Clou an der Sache: Das war allenfalls leicht übertrieben. Die Partei konnte vor Kraft kaum laufen. Die Genossinnen und Genossen mischten überall mit: Von der Knappschaft über den Wohnungsbau, von den Wohlfahrtsverbänden bis zu den Gewerkschaften. Die Sozialdemokraten, das waren die Kümmerer, die handelten und redeten nicht nur. Die Partei war tief verwurzelt. Wenn die SPD im Viertel zum Sommerfest lud, dann reichten eine Bratwurst-Bude, eine Zapfanlage und eine Hüpfburg aus, um hunderte Nachbarn anzulocken. Und wenn dann noch der SPD-Bürgermeister auf ein Pils vorbeischaute, ja dann waren alle zufrieden. Erst in den 2000er Jahren sank der Stimmenanteil der SPD im Revier unter die 50-Prozent-Marke.
Doch in dieser Zeit begann schon ganz allmählich der Abstieg für die Sozialdemokraten an der Ruhr. Erst schleichend, dann immer schneller. Erst in einigen Städten des Reviers, dann flächendeckend. Immer mehr Menschen wandten sich ab – weil sich die SPD von ihnen abgewendet hatte. Die Partei der Kümmerer verabschiedete sich, das „Wir in NRW“, mit dem man einst glorreich Wahlen gewann, es verkam zur reinen Werbe-Phrase.
Um die ganze Dramatik des Verfalls in der einstigen Herzkammer der Sozialdemokratie zu dokumentieren, hier die Zahlen der Bundestagswahl vom Sonntag: Die CDU siegte im Ruhrgebiet mit 26,1 Prozent – sie hatte 4,1 Punkte zugelegt. Die SPD kam nur nur noch auf 24,0 Prozent (-10,3). Zeitgleich schnellte die AfD in die Höhe: Sie erreichte 18,8 Prozent (+10,3).
Die rechtsextreme AfD hat vor allem in den Bezirken des Ruhrgebiets gewonnen, die früher die klassischen Arbeiterviertel waren, wo die SPD und die Gewerkschaften nach dem Krieg und bis in die 90er Jahre eine Macht waren. Doch diese Viertel sind nach dem Rückzug von Kohle und Stahl heruntergekommen, die Armut springt einen auf jeder vermüllten Straße an, viele Häuser sind marode, allenfalls Billigläden und Discounter werben hier um Kunden. Wer es sich leisten kann, ist hier längst weggezogen. Ich kenne viele Menschen, die in ihrer Stadt – ob Gelsenkirchen, Oberhausen oder Duisburg – wohnen, die aber noch nie in einem dieser Viertel waren. Nachgezogen in diese Quartiere sind viele Flüchtlinge, sind Armutszuwanderer aus Südost-Europa und deutsche Sozialhilfeempfänger, weil es hier noch einigermaßen preiswerten Wohnraum gibt – auch wenn dieser längst dem Verfall gewidmet ist. Alkohol und Drogen tun ein weiteres, diese Stadtviertel zu den viel zitierten „sozialen Brennpunkten“ zu machen. Mit all den Problemen, die Armut und Migration mit sich bringen, die aber eher beklagt als angepackt werden.
Das Fatale dabei: Mit den ursprünglichen Bewohnern haben sich auch die Sozialdemokraten weitgehend aus diesen Problembezirken zurückgezogen. Die einstige Arbeiterpartei ist auch im Ruhrgebiet längst zu einer Partei der Akademiker und Lehrer in den „besseren Vierteln“ geworden, in denen man lieber über das Gender-Sternchen und Parkplätze für Lastenfahrräder streitet als über Lösungen für das sichtbare Elend in den abgehängten Vierteln. Dass die Städte im Ruhrgebiet arm wie Kirchenmäuse sind, tut sicherlich ein Weiteres: Eine wirkliche Wende für diese Viertel ist nirgends in Sicht.
Schon im Jahre 2009 hat der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel auf dem Parteitag seine Genossen eindringlich ermahnt: „Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Weil nur da, wo es anstrengend ist, da ist das Leben.“ Allein: Bis auf wenige verzweifelt kämpfende SPD-Genossinnen und Genossen, bis auf wenige idealistische Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind viel zu wenige diesem Appell gefolgt.
In diese Lücke ist inzwischen die AfD mit ihrem Rassismus und ihren Scheinlösungen vorgestoßen. Die Partei hetzt in diesen Vierteln die verbliebenen Deutschen auf: Da werden die Niedriglohn-Empfänger gegen die Bürgergeld-Empfänger aufgestachelt und die deutschen Hilfe-Empfänger gegen die ausländischen. In den Vierteln wächst die Wut und die Verzweiflung, mangelnde Bildung und Armut sind der ideale Nährboden für die rechtsextreme Propaganda. Die AfD weist die Schuld für das Elend in den Vierteln pauschal „den Ausländern“ zu. Die Partei, deren libertär-rechtsextremes Programm einseitig die Reichsten in der Gesellschaft noch reicher machen würde, ausgerechnet diese Partei erhält Zulauf von den deutschen Abgehängten. Und in den Vierteln ist häufig kaum noch jemand, der dagegenhält. Nicht durch Worte – oder besser noch durch Taten. Es scheint, als ob alle Parteien und auch die Kommunen diese Viertel weitestgehend aufgegeben haben.
AfD als stärkste Partei in Gelsenkirchen
Wie sehr die AfD inzwischen im Ruhrgebiet angekommen ist, zeigt das Beispiel Gelsenkirchen – neben Duisburg eines der großen „Problemkinder“ der Region. Hier in Gelsenkirchen wurde die rechtsextreme Partei am Sonntag stärkste Kraft, sie kam auf 24,7 Prozent, die einst so stolze SPD erreichte nur 24,1 Prozent, die CDU 22,7. Das Ruhrgebiet, das doch immer so stolz war auf seine Integrationskraft und auf seine Solidarität mit den Schwächeren, als Hochburg der Rechtsextremen – für viele Alteingesessene unvorstellbar, ein Riesenschock.
Und auch die SPD zeigte sich ob ihres miserablen Ergebnisses in NRW geschockt. „Prominente Sozialdemokraten“ sprächen von einem „historischen Debakel“ und einer „bitteren“ Wahl, las ich in der Regionalpresse. Und in diesem Satz liegt – allerdings erst auf den zweiten Blick zu erkennen – ein weiteres Desaster für die Sozialdemokraten. Die dort zitierten „prominenten Sozialdemokraten“ heißen Sarah Philipp und Achim Post. Sie bilden die Doppelspitze der Landes-SPD. Und sind so gut wie unbekannt: Wenn man auf der Straße nach den Parteivorsitzenden der Landes-SPD fragen würde, läge das Ergebnis sicherlich deutlich unter der 5-Prozent-Hürde. Und das in einem Land, dem einst die SPD-Legende Johannes Rau vorstand. Dass die heutigen Parteichefs so wenig bekannt sind, ist sicherlich dem Versagen der Gesamt-Partei zuzuschreiben. Gleichzeitig aber ist es auch eine der Wurzeln für die absehbare weitere Pleite der Partei: Wer soll denn 2027 bei der nächsten NRW-Landtagswahl mit Erfolgsaussichten gegen den – aus welchen Gründen auch immer – durchaus populären CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst antreten? Es droht eine weitere verheerende SPD-Niederlage mit Ansage.
Eine depressive Stimmung lastet auf dem Ruhrgebiet – und vor allem auch auf der SPD. Diese Stimmung lässt sich sicherlich nicht mit einem Ruck ändern – ebensowenig wie die objektive Lage. Es wird eine Knochenarbeit. Die Frage ist, ob die SPD dazu bereit und in der Lage ist. Oder ob sie sich lamentierend in ihr Schicksal begibt. Und so die Millionen Menschen an der Ruhr im Stich lässt, die ihr einmal vertraut haben.
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Lieber Hr. Heuken,
als REVIER-Oldie Duisburg (Buch 1983) haltre ich Ihre so bittere wie kritische Beschreibung der NRW-SPD für richtig. Nur seh ich „die AfD“ nicht als Einheitsblog. Sondern als Januskopf mit Doppelcharakter. Was sich offen nächst zeigen wird. So wie es auch einen „proletarischen Patriotismus“ von unten gibt.
Gruß DRA