1. Einführung: Budget-Zahlen als Tabu-Thema
Ohne Weiterlaufen der westlichen Unterstützung geht der Krieg in der Ukraine umgehend zu Ende, das ist sicher. Der Umfang westlicher Hilfen an die Ukraine, die für die Zukunft zur Verfügung gestellt wurden und noch abrufbar sind, ist eine bestens antizipierbare bzw. bekannte Zahl. Sie spiegelt die Leistungsbereitschaft des Westens. Von der Antizipation dieser Leistungsbereitschaft des Westens wiederum hängt ab, was die Ukraine militärisch in Zukunft noch auf die Beine stellen kann, wie erfolgreich und wie lange sie ihren Abwehrkampf weiter durchzuhalten vermag – wenn sie denn selbst darin noch einen Vorteil für sich erkennt. Diese Zahl ist deshalb eine Schlüsselinformation. Sie gibt Auskunft über den faktischen Stand des westlichen Durchhaltewillens bzw. ggfls. dessen Defaitismus in der Unterstützung der Ukraine. Sie zeigt ein Ende ggfls. frühzeitig an.
Diese Zahl ist auch kein Geheimnis. Die Regierungsstellen sowohl in den USA und in Europa aber auch der Ukraine und Russlands werden diese Zahl zum Gegenstand des wöchentlichen Briefings der Regierungsspitze seitens ihrer Geheimdienste gemacht haben.
Angesichts dessen wäre zu erwarten, dass diese Zahl prominenter Gegenstand der Berichterstattung ist. Ins Auge sticht das Gegenteil: In der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg, medial und akademisch, gilt kein anderes Thema so offenkundig als heißer Brei und wird um es so offensichtlich herumgeschlichen wie (um) dieses.
2. Die kommende Großkrise
Das hat Gründe. Die Unterstützung der Ukraine hängt am seidenen Faden. Bislang teilen sich die USA und die Europäer die Hilfe in etwa je zur Hälfte – wobei die USA deutlich mehr an Waffen liefern, überwiegend aus Altbeständen des Pentagon, wo die Bewertung des Gelieferten nur in weiter Spannbreite möglich ist. Spätestens mit dem Antritt der Trump-Administration am 20. Januar 2025, vermutlich eher, mit der US-Haushaltsgesetzgebung für das Jahr 2025 spätestens am 20. Dezember 2024, wird öffentlich werden, welchen Kurs die neue US-Regierung hinsichtlich ihres Teils der Ukraine-Unterstützung fahren wird. Und diese Entscheidung wird sie kommunizieren, bevor absehbar ist, was die zu erwartende Trumpsche Initiative für einen Waffenstillstand in der Ukraine den Europäern an finanzieller Entlastung bringen wird. Die Europäer werden zu diesem Zeitpunkt also davon ausgehen müssen, dass über die kommenden Jahre ein unverändert hoher Finanzierungsbedarf weiterhin bestehen wird – und wenn sie entscheiden, ihn nicht zu decken, dann werden sie entschieden haben, die Ukraine zur Einstellung der Kampfhandlungen zu zwingen. Das wird delikat für die Europäer.
Dem Endspiel des physischen Krieges auf dem Boden der Ukraine wird somit ein Endspiel zur Finanzierung seitens westlicher Fraktionen vorausgehen, und das wird beinhart ausgetragen werden – im Januar 2025. Die Gegner in diesem Vorkampf sind die USA (unter Trumps MAGA-Bewegung) einerseits und die Europäer andererseits. Die US-Seite wird, so ist zu erwarten, ihre Trumpf-Karte ausspielen, d.i. die Ansage: Wir fahren unseren Finanzierungsanteil auf Null, sind aber weiter bereit, Waffen aus unseren reichen Beständen an die Ukraine zu liefern, wenn Ihr, Europäer, zahlt.
Darauf haben die Europäer, auch die Deutschen, vorbereitet zu sein. Sie werden dann in den US-Finanzierungsanteil eintreten müssen, d.h. ihre bisher geleistete Hilfe pro Jahr in etwa verdoppeln. Sie werden sich in einer präzedenzlosen Notlage vorfinden, wo sie innerhalb weniger Wochen in Brüssel Fakten zu schaffen und einen dreistelligen Milliardenbetrag – zumindest optional – locker zu machen haben.
Dazu gehört dann auch ein ansehnlicher Betrag aus dem deutschen Bundeshaushalt. Dazu wird man die Ausnahmeregel nach Art. 109 Abs. 3 GG in Anspruch nehmen müssen. Und das in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl am 23. Februar 2025. Die geschäftsführende Regierung wird, auf Basis einer argumentativen Vorlage seitens des Finanzministers, den Deutschen Bundestag zur Zustimmung auffordern. Insbesondere die Fraktion der CDU/CSU und pikanterweise die der FDP werden dann Farbe bekennen müssen zu einem Konfliktthema, welches sie zuvor lange am Köcheln gehalten haben.
3. Wiederaufnahme der Sollbruchstelle der Ampel-Koalition
Erleben wird die politisch interessierte Öffentlichkeit ein déja-vue-Moment. Präsent dürfte sein, nach welchem Drehbuch Bundeskanzler Scholz im Koalitionsausschuss am Abend des 6. November den seit Monaten ungelösten Haushaltskonflikt innerhalb der Ampelregierung, konkret zwischen Finanzminister und Bundeskanzler, einer Auflösung zudrängte. Es ging um Anerkennung dessen, dass (Teile der) Ukraine-Hilfen als Art. 109 (3) GG unterfallend akzeptiert würden und auf dieser Grundlage der Nachtragshaushalt 2024 und der Haushaltsentwurf 2025 abgeschlossen und dem Bundestag zugeleitet werden könnten. Das verweigerte der damalige Amtsinhaber des Finanzressorts. Sein Motiv scheint weniger in der Auslegung von Art. 109 (3) GG begründet gewesen zu sein, auch wenn er dies vorschützte, vielmehr ging es ihm prioritär um das Verfahren der Beendigung der Ampel-Koalition. Die wollte er einvernehmlich aufgelöst sehen, der Kanzler hingegen nahm auch eine konfrontative Auflösung in Kauf, mit Beharren auf Entscheidungen zu den anstehenden Sachentscheidungen. Dazu muss er nun auch weiter stehen – jegliche andräuende Krise erweist sich als Wasser auf die Mühlen dieses seines Wahlkampfkonzepts. Und an Krisen ist derzeit kein Mangel. Nach meinem Urteil ist das sehr klug und vorausschauend, vor allem strukturell defensiv und konstruktiv, gewählt.
Nun gibt es einen neuen Amtsinhaber im Finanzressort. Der wird, wenn er dazu herausgefordert wird, sich sein Urteil in dieser Frage bilden müssen. Mit dem Urteil des BVerfG vom 15. November 2023 weiss der neue Finanzminister auch, in welcher argumentativen Tiefe er seinen Vorschlag zu begründen hat, damit er verfassungsgerecht sein kann.
4. Interpretationshilfe aus den USA
Zur Vorbereitung der Überlegungen, die bereits jetzt anstehen, im Januar 2025 dann zu Ende gebracht werden müssen, scheint ein Blick nach Washington hilfreich. Da gibt es ein Vorbild.
Der Hintergrund: Bei dem, was auf den letzten Metern der Biden-Administration in ihrer lame duck-Situation noch erstaunlich viel fließt, spielt die Lieferung von Waffen gemäß der Option der sog. „Presidential Drawdown Authority” (PDA) eine Sonderrolle. Die gibt dem Präsidenten nämlich ein Not-Recht, die sofortige „Abzweigung” (drawdown) von militärischen Gütern und Leistungen aus U.S. Lagerbeständen anzuordnen, also ohne Zustimmung des Parlaments. Dieser Freibrief für den Präsidenten, dass er aus der Haushalts-Prärogative des Parlaments ausbrechen darf, gilt rechtlich allerdings unter zwei Bedingungen nur:
- in Reaktion auf eine “unforeseen emergency”, gemäß Section 506 Foreign Assistance Act aus dem Jahre 1961;
- bis zur Höhe eines aggregierten Wertes von 100 Mio. $ pro Jahr lediglich.
In den USA gilt der Krieg in der Ukraine, auch fast drei Jahre nach Beginn noch, unbestritten als eine “unforeseen emergency“.
In Deutschland ist es anders. Die Formel in der sog „Schuldenbremse“ (Artikel 109 und 115 GG) besagt, dass „Ausnahmeregelungen“ gelten „für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen.“ Hinsichtlich des Substantivs lautet beide Ausnahmekriterien fast wortgleich, der Unterschied liegt im begleitenden Eigenschaftswort. In der US-Regelung gilt „unvorhergesehen“ – also: Man konnte nicht rechtzeitig das Parlament um Zustimmung bitten, es liegt Gefahr im Verzug vor.
Im Deutschen ist die legitimierende Eigenschaft mit „die sich der Kontrolle des Staates entziehen“ viel breiter. Kontrolle hätte Deutschland dann über diese Unterstützungsleistungen, wenn es in seiner Macht stünde, den Waffengang zu beenden – aber selbst dann müssen noch all die Zusagen zum Wiederaufbau der Ukraine eingelöst werden. Kontrolle hätte Deutschland auch dann über diese Unterstützungsleistungen, wenn eine neue Regierung nach Trump-Art sagen würde: Was scheren uns alle unsere Zusagen im Kreise unserer Allianzpartner!
Und doch gilt ausweislich der öffentlichen Debatten in Deutschland: ob mit dem Ukraine-Krieg, der 2022 begann und schon im Herbst 2021 „vorhergesehen“ wurde, und dem dadurch entstandenen Unterstützungsbedarf eine „Notsituation“ vorliege, die sich der Kontrolle des deutschen Staates entzieht, d.h. die er nicht einfach abstellen kann, ist in Deutschland strittig. Deren Vorliegen wurde im Kontext der Haushaltsberatungen 2024 von der Opposition mit dem Argument verneint, eine Notlage sei „auf den ersten Blick nicht ersichtlich, weil alle Gründe, die bisher genannt werden, keine neuen sind„. Und am 6. November 2024 hat die Differenz in der Einschätzung exakt zu dieser Frage zwischen Finanzminister Lindner und Kanzler Olaf Scholz, der vorher Finanzminister war und in der Frage persönlich kompetent ist, zum Bruch der herrschenden Regierungskoalition in Berlin geführt.
Im Januar 2025 wird es in dieser Frage im Deutschen Bundestag zum Schwure gleichsam kommen. Anschließend wird sich zeigen, ob zu dieser Entscheidung von einer der Parteien eine Normenkontrollentscheidung herbeigeführt werden wird. Vermutlich nicht (erneut) von CDU/CSU.