„Die Russen, die Russen,“ riefen die Überlebenden mit letzter Kraft, erschöpft, aber auch erleichtert, so habe ich es gelesen und gehört, als wir Auschwitz Jahrzehnte später besichtigten. Nie zuvor oder danach dürften sich Menschen so sehr nach den Russen gesehnt haben wie an jenem Vormittag des 27. Januar 1945, als die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz erreichte, die Öfen waren noch warm. Damals vor 70 Jahren. Die SS hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon aus dem Staub gemacht und einige Tausend Häftlinge mitgenommen auf die Todesmärsche, Häftlinge teils barfuß und nur spärlich bekleidet, abgemagert wie Skelette, andere Häftlinge waren kurz vorher noch von den SS-Leuten wahllos abgeknallt worden. Wie eine hochschwangere Frau, die sich in einen Graben geflüchtet hatte und dort ihr Kind zur Welt brachte. Der SS-Mann erschoss sie beide.
Die Russen trauten ihren Augen nicht, als sie ins Innere des KZ vorstießen. Als einer der Ersten betrat Nikolai Politanow, der Dolmetscher der Russen das Todeslager. Seine erschütternden Schilderungen sind bei SpiegelOnline nachzulesen. „Das eigentliche Lager wirkte wie ein unaufgeräumter Schlachthof. Ein beißender Geruch hing in der Luft, ein Gestank von verbranntem Fleisch und vom Himmel regnete schmutzig-schwarze Asche auf uns nieder.“
Die Heizer hätten den Befehl gehabt, die zum Skelett abgemagerten Gefangenen lebendig in das offene Feuer der Krematorien zu werfen. Politanow berichtet von „unzähligen Elendsgestalten mit eingefallenen Gesichtern und kahlen Köpfen“ rund um die Baracken. Immer mehr „kamen hungrige und in Lumpen gehüllte, zu Skeletten abgemagerte Kinder gekrochen“. Sie hätten mit ausgestreckten Armen auf Brot gewartet, vor Verzweiflung gewimmert und geweint. Auf den Strohsäcken hätten sie „nackte, röchelnde Gestalten“ vorgefunden. Ergreifend die Schilderungen des Dolmetschers. Einige Meter weiter fand man eine Grube, in die man Leichen geworfen hatte, wie Abfall entsorgt.
Mengeles tödliche Menschenversuche
Auschwitz, der Name steht für den millionenfachen Mord der Nazis an Juden, Kriegsgefangenen, Sinti und Roma, an Kommunisten, Priestern, Kindern, Frauen, Greisen. Erschossen, zu Tode gefoltert, vergast, verbrannt, viele verhungerten, erfroren. Es gab sechs Gaskammern und vier Krematorien. Hier wurden Menschen aus ganz Europa umgebracht- viele mit Zyklon B vergast. Mindestens eine Million Juden fanden in Auschwitz den Tod. Wenn sie den Bahnhof Auschwitz erreichten, kamen sie auf die berühmt-berüchtigte Rampe und dann wurde selektiert: Arbeitsfähige kamen nach rechts, die anderen nach links, in die Vernichtungskammern.
Hier machte der Arzt Dr. Mengele seine tödlichen Experimente an Menschen. Es gab Folter- und Hungertodzellen. Man sieht heute die Gedenktafel, die an den Pater Maximilian Kolbe erinnert. Hier gab es einen Kellerraum, in dem 850 russische Kriegsgefangene mit Zyklon B vergast wurden. An anderer Stelle hatte man Frauen die Gebärmutter mit Beton gefüllt oder mit Röntgenstrahlen verglüht.
Auschwitz, das begann mit dem Transport in Viehwagen und endete zunächst an der Rampe, wie Ernst Klee, der Autor des Buchs „Auschwitz-Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde“, es beschrieben hat. Nach der Selektion „fragen die zunächst Überlebenden nach dem Verbleib der von ihnen getrennten Eltern und Kindern. Die Kapos zeigen auf den Rauch, der aus den Schornsteinen der Krematorien aufsteigt“. Augenzeugin Simone Veil, eine französische Politikerin, die später erste Präsidentin des Europa-Parlaments wurde, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebte, beschrieb ihre Reaktion so: „Doch wir begriffen nicht, wir konnten das nicht begreifen. Was sich in wenigen Metern Entfernung von uns abspielte, war derart unfaßbar, dass es unser Vorstellungsvermögen überstieg.“
Die letzten Tage des Lagers
In dem Buch „Auschwitz, Zeugnisse und Berichte“- hrsg. von H.G.Adler, Hermann Langbein und Ella Lingens-Reiner, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014-schildert der Dichter und Überlebende Primo Levi die letzten Tage im KZ Auschwitz. Unter dem 26. Januar 1945 hat er notiert: „Wir lagen in einer Welt der Toten und Larven. Um uns und in uns war die letzte Spur der Zivilisation geschwunden“.
Als ich 1989 aus Anlass des 50. Jahrestages des Kriegsausbruchs das erste Mal Auschwitz besuchte, kannte ich die Geschichte des Ortes und die Verbrechen aus Geschichtsbüchern. Der polnische Taxifahrer, der mich für 100 DM von Warschau über Tschenstochau nach Auschwitz fuhr, blieb vor dem Lager stehen. Mich begleiten, mir etwas erzählen über diesen Ort des Schreckens, wollte er nicht, er wartete stundenlang in seinem Auto bis zu meiner Rückkehr. Nachher konnte ich ihn verstehen.
Bis zu 1,6 Millionen Menschen waren hier umgebracht worden. Als die Russen kamen, lebten noch etwa 7600 der einstigen Insassen. Lebten ist übertrieben, sie waren noch am Leben, Hunderte von ihnen waren so schwach, dass sie in den Tagen nach der Befreiung starben.
Der Gang durch diesen Teil schrecklicher deutscher Geschichte fällt jedem schwer. Ich hatte einen Kloß im Hals. Gut, dass ich allein unterwegs war, mir fiel das Sprechen ohnehin schwer, ich war sprachlos vor Entsetzen. Da sind die in riesigen Kästen hinter Glas gesammelten Brillen, Haarbürsten, Koffer mit den Namen der einstigen Besitzer, man sieht die Schuhe der Kinder, darunter ein fast neuartiges Paar mit Schnürsenkeln eines Kleinkindes, Berge von Haaren, Prothesen- dazu Fotos von Opfern und die Aufnahmen russischer Kameraleute, die das Massengrab der zuletzt Ermordeten zeigen, wenige Tage vor der Befreiung des Lagers, als einige der SS-Schergen zurückkamen, weil sie offenbar ihre eigentliche Arbeit vergessen hatten: Menschen im Lager umzulegen.
Nackte Körper der Ermordeten
Die Filmaufnahmen zeigen die nackten Körper der Ermordeten und deren Gesichter in der Stunde ihres Todes, gerade so, als wären sie festgefroren in der damals vorherrschenden eisigen Kälte. Viele tote Leiber liegen da, darunter eine junge Frau mit ihrem Baby auf dem Bauch, verbunden noch mit der Nabelschnur.
Brutal? Kann man das begreifen, kann man das erzählen? Das Leben in der Hölle auf Erden, wie es einer genannt hat. Ein anderer, der polnische Häftling Wieslaw Kielar, der fast fünf Jahre Auschwitz überlebt hatte, fand dafür den Begriff: Anus Mundi- After der Welt, ein Ort, an dem auch gläubigen Menschen Zweifel kamen, ob es einen Gott gebe, der so etwas zulassen konnte.
Jahre später besuchte ich noch einmal Auschwitz, dieses Mal kamen wir mit einem gemieteten Kleinbus aus Krakau, dieser wunderschönen Stadt, nur 50 Kilometer entfernt vom Ort des Grauens. Eine junge Polin, 25 Jahre alt, führte uns durch das Lager Auschwitz-Birkenau. Sachlich und konzentriert, einfühlsam brachte sie uns die Geschehnisse, die auch sie nur aus Erzählungen und historischen Büchern kennen konnte, näher. Ihre Führung machte uns, wir waren eine Gruppe von sechs Personen, betroffen. Die junge hübsche Frau- es widerstrebt mir, in diesem Zusammenhang von Führerin zu sprechen- leitete uns durch die Räume, zeigte und erklärte. Dann standen wir vor der Todeswand, wo zuerst Polen und Russen per Genickschuss ermordet worden waren. Wir standen vor einem Bild, auf dem ein SS-Mann von hinten eine Frau erschießt, die versucht, ihr Kind in ihren Armen vor den Mördern zu retten. Ob es ihm Spaß gemacht hat? Man darf es fast vermuten.
Wir fragten die polnische Frau, woher sie komme. „Ich bin aus Auschwitz“, sagt sie mit einer Selbstverständlichkeit, die überrascht. Mein Gott, denken wir unwillkürlich. Sie führt uns weiter durch die einstige Hölle, schaut uns an und wartet auf weitere Fragen.
Die Antwort, wie die Menschen in Auschwitz mit ihrer Geschichte leben und umgehen? Sie, vor allem die jüngeren, wollen leben und nicht zigmal am Tag die gleiche Frage beantworten: Wie haltet Ihr das aus, an einem solchen Ort?
Unsere junge Polin führt uns selbstbewusst durch das Lager, das heute Welterbe ist, den Beinamen Kultur mag man nicht erwähnen. Sie erzählt aus der Geschichte des Ortes, der polnisch Oswiecim heißt, eine Stadt mit einer jahrhundertealten Historie. Die Stadt war mal deutsch, dann polnisch, österreichisch, jüdisch geprägt. Früher wurde sie mal das „polnische Jerusalem“ genannt. Jeder zweite Einwohner war Jude. Heute- korrekterweise sei hinzugefügt, wir besuchten Auschwitz 2009- lebt nur noch ein Jude in Oswiecim, das inzwischen eine Industriestadt mit 50000 Einwohnern ist. Die kleine Synagoge ist renoviert worden, der jüdische Friedhof wieder zugänglich.
500000 Besucher aus 90 Ländern
Auschwitz will eine moderne Stadt sein, KZ hin oder her, man will ein normales Leben führen. Was nicht so einfach ist. Als die UNESCO das einstige KZ-Gelände zum Welterbe erklärte, hatte das Folgen: Ein Kloster musste geräumt werden, ein Diskobesitzer seinen Laden schließen, da er sich zu nah an der Jugend-Begegnungsstätte befand, ein Supermarkt durfte nicht vor der Gedenkstätte eröffnen.
Jährlich besuchen mehr als 500000 Menschen aus 90 Ländern Auschwitz, darunter 60000 Deutsche. Von den Gaskammern- die SS hatte sie vor der Befreiung durch die Russen gesprengt, um Spuren zu vernichten- sehen sie nur Ruinen, ebenso von den meisten der über 200 Häftlingsbaracken im Vernichtungslager Birkenau, sie sehen Reste der Betonplatten wie der Kamine. Einige der Holzpritschen sind zu sehen, kurz, schmal, ausreichend für Körper mit vielleicht noch 40 oder 50 Kilo Gewicht, man sieht die Reste der Latrinen. Der Besucher bleibt oft sprachlos zurück, kann sich das Grauen und das Ausmaß nicht vorstellen. „Mensch ist, wer tötet“, so der Dichter und Auschwitz-Überlebende Primo Levi, „wer Unrecht zufügt oder leidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem anderen teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit dem Sterben fertig ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Kannibale.“
Das Land der Richter und Henker
Auschwitz- der Zivilisationsbruch, von dem auch Heinrich August Winkler, Deutschlands bekanntester Historiker spricht. Oder wie es die 68er Generation, die mit der Nazi-Vergangenheit der Deutschen abrechnete, formulierte: Wie aus dem Land der Dichter und Denker das Land der Richter und Henker wurde. Es war ein systematischer Vernichtungs-Prozess der Nazis gegen die Juden, dem viele Deutsche tatenlos zuschauten oder den sie ignorierten und wegschauten, auch aus Angst, selber verhaftet zu werden. Die Nazis entmündigten die Juden, sie nahmen ihnen alle Rechte und Ehren, machten sie zu Menschen zweiter Klasse, was noch untertrieben ist, denn die Juden waren am Ende recht- und schutzlos, man durfte mit ihnen machen, was die Nazis wollten.
Es herrschte das Prinzip des Rechts des Stärkeren- das waren die Nazis- und nicht die Stärke des Rechts, wie das in unserem heutigen Rechtsstaat der Fall ist. Die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa, die Hitler am 30. Januar 1939 in seiner Reichstagsrede verkündete, führte dann zur so genannten Endlösung, letztendlich beschlossen in der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942.
„Auschwitz war die größte Menschen-Vernichtungsanlage aller Zeiten“, so hat es Lagerkommandant Höß, der später gehängt wurde, beschrieben. „Arbeit macht frei“, hieß die zynische Begrüßung vor Betreten des Todesareals, die heute noch über dem Lager-Eingang hängt. „Frei für den Schornstein“, wie es die wenigen Überlebenden sarkastischer nicht beschreiben konnten. Andere Namen kommen dazu: Treblinka, Sobibor, Maydanek, Theresienstadt, Mauthausen, Bergen-Belsen, das erste KZ wurde in Dachau errichtet. Um nur die schlimmsten Adressen zu nennen. Nie wieder. Und nicht vergessen.
Bildquelle: Wikipedia, Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC-BY-SA, CC BY-SA 3.0 de