Der 27. Januar 1945 ist ein ganz wichtiges Datum im jüdischen Kalender. An dem Tag wurde das KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit. Seit vielen Jahren ist der Tag deshalb ein jüdischer Gedenk-oder fast ein Feiertag. Da steht um 12 Uhr mittags in Israel für eine Minute der gesamte Verkehr still, ruht das Leben im Land für 60 Sekunden. Am 27. Januar 1945 war diese Hölle für Tausende von Juden beendet. Eine Million Juden waren dort von Nazis ermordet worden. Nur wenige haben Auschwitz überlebt. Einer von ihnen ist Eddie Jaku, wie er sich kurz nennt. Er stammt aus Leipzig. In wenigen Tagen wird er 101 Jahre alt. Am 27. Januar findet seit 1995 eine Gedenkstunde im Deutschen Bundestag statt. Dieses Mal spricht Inge Auerbacher, 1934 im südbadischen Kippenheim geboren. Auch sie hat den Holocaust überlebt, in ihrem Fall das KZ Theresienstadt, in das sie im Alter von sieben Jahren zusammen mit ihren Eltern verschleppt und wo sie am 8. Mai von sowjetischen Truppen befreit worden war.
Eddie Jaku hat Deutschland geliebt, war stolz auf seine Heimatstadt Leipzig, seit Hunderten von Jahren ein Zentrum der Kunst und Kultur, mit einem der ältesten Symphonieorchester der Welt, eine Metropole, die Johann Sebastian Bach, Clara Schumann, Felix Mendelssohn inspirierte wie auch andere Dichter und Philosophen wie Goethe, Leibnitz und Nietzsche. Sie sahen sich in erster Linie als Deutsche und dann noch einmal als Deutsche, dann erst als Juden. Nichts konnte den Patriotismus von Eddies Vaters erschüttern. Und dann, von einem auf den anderen Tag, war alles anders, waren sie von Feinden umzingelt, von Hass und Hetze, wurden sie gejagt und gefoltert, verprügelt und ermordet, behandelt wie Tiere. Das alles geschah in einer zivilisierten Welt, die plötzlich in die Barbarei zurückfiel.
Seit Jahrhunderten waren die Juden aus der Leipziger Stadtgesellschaft nicht wegzudenken, die jüdischen Händler, die vielen, ja die schönsten Synagogen Europas, der weltberühmte Zoo, die Handelsmesse, Leipzig, eine der kultiviertesten und reichsten Städte Europas mit der zweitältesten deutschen Universität, 1409 gegründet, eine Stadt der Bücher, der Musik, der Oper, der der ältesten Zeitung der Welt. Eddie Jaku könnte mit seiner Hymne auf seine Geburtsstadt gewiss so weitermachen, wenn da nicht dieser 9. November 1938 gewesen wäre, wo all diese Kulturen sich als Papier erwiesen, das vom Winde verweht und von Flammen verbrannt wurde. Wo er seine Leipziger Nachbarn, die er kannte und liebte und von deren er glaubte, dass sie ihn genauso liebten, plötzlich erlebte, wie sie die Juden anspuckten und johlten und schrieen: „Erschießt sie. Erschießt die jüdischen Hunde!“ Was in aller Welt, fragte er sich sein ganzes Leben bis heute, „war mit meinen Freunden passiert, dass sie zu Mördern wurden?“
Eddie Jaku lebt seit Jahrzehnten in Sydney. Er hat im Alter von 100 Jahren sein Leben aufgeschrieben in einem Buch. Titel: „Der glücklichste Mensch der Welt.“ Man mag es nicht glauben, wie dieser Mann nach allem, was ihm und seiner Familie passierte, fast gelassen und ohne Hass durchs Leben geht. Unvorstellbar für mich. Ich war das erste Mal 1989 in Auschwitz, Anfang September, 50 Jahre nach Ausbruch des 2.Weltkriegs, dem Tag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf Polen. Dieser Krieg erwies sich vor allem in Osteuropa schnell als ein Vernichtungskrieg, der Abdruck der Stiefel deutscher Soldaten ließ kaum einen Quadratmeter unberührt und hinterließ überall tödliche Spuren, der Wehrmacht, der SS, durch die Konzentrationslager. Ein Menschheitsverbrechen, wie man später die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden nannte. Der Zivilisationsbruch der Deutschen, rücksichtslos, gnadenlos. Herrenmenschen, die Menschen anderer Nationen im Osten als Untermenschen ansahen, die sie, wenn sie überlebten, versklaven wollten. Wer Auschwitz gesehen hat, hat das Schlimmste gesehen, was übriggeblieben ist von den Vernichtungslagern. Man könnte noch Sobibor erwähnen, Majdanek. Und sollte dabei Buchenwald nicht vergessen, nicht Dachau und Mauthausen.
Ermordet, weil sie Juden waren
Der glücklichste Mensch der Welt. Welch ein Fazit nach diesem Leben, das immer noch andauert und wenn ich Eddie Jaku richtig verstehe, geht es ihm gut mit seiner Familie, seiner Frau, umgeben von erwachsenen Kindern und Enkeln und Urenkeln. Denen er den Rat gab und gibt: Liebt Eure Mutter. Seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet wie 154 Mitglieder seiner Familie. Ermordet, weil sie Juden waren. Dabei wollten sie doch in erster Linie Deutsche sein, dienten im Ersten Weltkrieg, lebten und liebten in Leipzig, das man ersetzen könnte durch München, Hamburg und Berlin. Überall hat sich diese Geschichte in Deutschland abgespielt.
Man versteht nicht, warum das passieren konnte, warum zutiefst seriöse und wenn man so will biedere Familienväter, Großväter so wurden, wie sie wurden. Ich las von einer Enkelin des Teilnehmers der Wannseekonferenz Martin Luther, Ulrike Luther, die viele Jahre nichts wusste vom Nazi-Vorleben ihres Großvaters. Auch, weil der gelogen hatte, er habe von alldem nichts gewusst. Er sei, als am Wannsee über den Massenmord an den Juden, die Endlösung, gesprochen wurde, gerade nicht im Raum gewesen. Doch die Mitwisser- und Mittäterschaft ist längst bewiesen, ein Verwandter der Familie hat das historisch genau dokumentiert. Die Enkelin Ulrike bezweifelt das nicht. Ins Gästebuch im Haus der Wannseekonferenz trug sie sich mit dem Satz ein: „Ich schäme mich zutiefst für meinen Großvater, Martin Luther.“ Sie empfand, wie ich in der SZ las, Abscheu, als sie ein Foto ihres Großvaters, 1942 am Schreibtisch sitzend, in der heutigen Gedenkstätte sah.
Wenn Eddie Jaku, der eigentlich Abraham Salomon Jakubowicz heißt, an die Deutschen denkt, wie sie sich am Schmerz der Juden damals ergötzten, möchte er sie noch heute fragen: „Habt Ihr eine Seele? Habt Ihr ein Herz?“ Aber der Wahnsinn hatte viele Deutsche erfasst, sie genossen die Gräueltaten, die sie begangen oder denen sie applaudierend zuschauten. Und wer anderer Meinung war, unternahm nichts gegen diesen Mob. Aus Angst, Feigheit. Wer weiß das schon. „Sie luden mich auf einen Lastwagen und brachten mich weg. Auf meinem Gesicht vermischten sich Blut und Tränen. Und in diesem Moment hörte ich auf, ein stolzer Deutscher zu sein.“ So hat er es in seinem Buch aufgeschrieben. Und hinzugefügt: „Und würde es nie wieder sein.“ Der Lastwagen brachte sie nach Buchenwald. Sie ahnten nicht, dass dies erst der Anfang war eines Albtraum, dass es noch viel schlimmer kommen würde.
Menschliche Würde nehmen
Die Juden hatten, so Eddie Jaku, gar keine Ahnung, warum sie verhaftet und eingesperrt wurden. „Wir waren doch keine Verbrecher! Wir waren brave Bürger. Wir standen in Lohn und Brot, hatten Haustiere, liebten unsere Familien und unser Land.“ Welch ein Irrtum! Im KZ Buchenwald- Weimar, die Stadt Goethes und Schillers ist in der Nähe- erlebten sie, wie sie ohne Löffel essen mussten. Es gab kein Toilettenpapier, man musste sich den Hintern mit Lumpen abwischen- „oder eben mit den Händen.“ Toiletten gab es nicht, nur Latrinen in Form eines langen Grabens, die sie gemeinsam mit bis zu 25 anderen Männern benutzen mussten. Alles war darauf angelegt, den Juden und den anderen Gefanenen die menschliche Würde zu nehmen.
„Wir gehörten zu einer Nation, die die Herrschaft des Rechts über alles stellte.“ Hatte er gedacht. Zu einer Nation, in der die Menschen keinen Abfall auf die Straße warfen. Aber jetzt war alles anders. Es herrschte das Recht des Stärkeren, das der Nazis über die Juden, die man entrechtete, die einen Stern auf der Kleidung tragen mussten, die nicht mehr mit dem Bus oder U-Bahn fahren durften, nicht mehr ins Theater gehen oder deren Kinder nicht mehr in normale Schulen gehen durften. Juden gehörten nicht mehr dazu, sie durften geschlagen, ja ermordet werden. Man nahm ihnen Wohnung oder Haus weg, die Möbel wurden versteigert. Arisierung hieß das Schlagwort, von dem viele profitierten. Das Haus der Wannseekonferenz, die Villa gehörte einst einem Fabrikanten, die SS erwarb sie für eine Million Reichsmark. Sie war nicht arisiert worden, wie das im ZDF-Film kurz betont wurde.
Es ist eine nachdrücklich erzählte, sehr persönliche Geschichte, die Eddie Jaku der Nachwelt aufgeschrieben hat, die er oft mit „Liebe Freundin, lieber Freund“ anspricht. Es ist eine Odyssee durch die Todeslager von Buchenwald und Auschwitz, voller seelischer und körperlicher Qualen. Über ein Leben, das mit einer glücklichen Kindheit beginnt in einer mittelständischen Familie in Leipzig, das erzählt von seiner Ausbildung zum Feinmechaniker unter falschem Namen, er nennt sich Schleich, um nicht als Jude aufzufalllen. Was ihm mehrfach das Leben rettet. Die Familie flieht nach der Machtergreifung der Nazis 1933 nach Belgien, ein Leben in Verstecken, in Angst. Man wird verraten und nach Auschwitz deportiert, der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele steht an der Rampe und verteilt die Deportierten nach rechts oder links. Der eine Weg führt ins Arbeitslager, der andere direkt in die Gaskammer.
1,5 Millionen Kinder lebend verbrannt
Jaku sieht, wie SS-Wachleute einen Juden aus einer Reihe ziehen und ihn einfach totschlagen. Am Abend gehen diese Mörder in ihr privates Leben zurück, zu Frau und Kindern, die sie lieben und in den Arm nehmen, klassische Musik hören, um am nächsten Tag wieder Kinder, Mütter und Greise in die Gaskammern zu jagen. Eineinhalb Millionen Kinder sind lebend verbrannt worden. „Ich habe gesehen, wie ein Mann der Mutter das Kind wegnahm und dessen Kopf an die Wand schlug. Die anderen sahen das und sagten nichts. Sind das Menschen oder Viecher? Löwen, die nicht hungrig sind, tun dir nichts. Die Nazis waren keine Menschen“.
„Manchmal schlugen uns die SS-Leute einfach nur so zum Spaß. Sie trugen Stiefel mit spitzen Stahlkappen und machten sich einen Spaß daraus, zu warten, bis man an ihnen vorüberging, um dann fest zuzutreten. Ohne Grund, einfach aus sadistischer Freude, um einem anderen Menschen wehzutun“. In Auschwitz-Birkenau gab es einen Ausdruck für Selbstmord verüben, schreibt Jaku: In den Draht gehen, der elektrisch geladen war. Wer ihn berührte, war sofort tot. Menschen beendeten ihr Leben und verwehrten so den Nazis die Genugtuung, sie umzubringen. „Ich habe zwei gute Freunde auf diese Weise verloren: Sie gingen nackt, Hand in Hand, in den Draht.“ Eddie Jaku hab mit diesem Gedanken gespielt, weil er fror, krank war, schwach, am Ende. „Was bringt uns ein Leben, in dem wir morgen nur noch leiden?“ fragt er seinen Freund Kurt, der es aber nicht zuließ, in den Draht zu gehen.“
Ein Leben? Jaku stellt es selbst immer wieder in Frage, weil die Nazis sie unmenschlich behandeln. Eisige Kälte, Temperaturen von bis zu Minus 20 Grad, aber natürlich sind ihre Hütten nicht geheizt, sie haben kaum Decken, wärmen sich, indem sie ihre Leiber aneinanderpressen. Jede Nacht sterben zehn bis zwanzig Männer, weil sie an der Außenseite schlafen, sie erfrieren einfach. Am nächsten Morgen dann wieder die Zwangsarbeit, als Sklave für die IG Farben, Bosch und viele hoch geachtete deutsche Firmen, die heute noch existieren, die die Juden als Zwangsarbeiter ausbeuteten und viel Geld damit verdienten. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Opfer entschädigt wurden. Pardon, sie mögen mir verzeihen. Was heißt schon hier entschädigen? Die meisten waren tot, der Rest bekam nach langem Feilschen ein paar Mark.
Auf dem Arm die Nummer 172338
Eddie Jaku hasst nicht. Und er bittet alle anderen auch, nicht zu hassen. „Hass ist eine Krankheit“, sagt er, die sein Leben ruiniert hätte. Sein Leben ist ein glückliches. Das er immer wieder erzählt vor Publikum, damit nicht vergessen wird, was damals geschah. Was ihm und Millionen anderen passierte. Seine Stimme sieht er als die Stimme von sechs Millionen Juden, „die ich verraten würde, wenn ich nicht über unser Leben sprechen würde“. Er hat überlebt und sich geschworen, glücklich zu sein. Auf seinem linken Arm trägt er die Nummer: 172338. Sie wurde ihm damals in Auschwitz eintätowiert. Und er hält sie Holocaust-Leugnern entgegen. Er hasst nicht mal die Nazis, er verachtet sie aber. Im übrigen hält er sich an seinen Schwur: Glücklich zu sein und andere glücklich zu machen. Das Leben ist schön. Sagt er. Nimm dein Glück in deine Hände.
„Ich bitte andere Überlebende nicht, den Deutschen zu vergeben. Das könnte ich selber nicht. Aber ich habe Glück gehabt und so viel Liebe und Freundschaft erlebt, dass ich den Zorn loslassen konnte, den ich gegen sie im Herzen trug. Es tut niemandem gut, den Zorn festzuhalten. Zorn führt zu Angst, Angst führt zu Hass, und Hass bringt Tod.“ Sagt der Mann, der etwas länger als ein Jahrhundert lebt und der dem Bösen ins Antlitz geschaut hat, der in der Hölle war und der weiß, was Menschlichkeit bedeutet. Ein anrührendes Buch, das einen mitnimmt.
Vielen Dank, Herr Pieper. Ich war zufällig über youtube auf Eddie Jaku gestoßen. Ihren Beitrag habe ich gern gelesen, da Sie die wichtigen Dinge so benennen, wie sie sind. Ohne zu beschönigen und mit Respekt.