Es gibt einen einfachen Grund, weshalb heutiger Protest trotz enormer Krisen und Bedrohungen kaum Traktion entfaltet: es fehlt das hedonistische Motiv. Das positive Zielbild, das Bauchkribbeln verursacht.
Die 68er demonstrierten gegen Krieg, für mehr Demokratie usw. – doch sie kämpften auch leidenschaftlich für mehr Entfaltungsmöglichkeiten… von Emanzipation über sexuelle Freiheiten bis zu einer Jugend- und Popkultur in Mode und Musik.
Die Grünen demonstrierten in ihren Anfangstagen gegen Krieg, Aufrüstung und AKW – doch sie kämpften auch leidenschaftlich für eine andere, antiautoritärere Art des Zusammenlebens und für ein idyllisches (und zum Teil vielleicht naives) Bild des „zurück in die Natur“, das an die deutsche Romantik anknüpfte.
Die Bürger der DDR demonstrierten 1989 für Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und gegen Korruption – doch sie kämpften auch leidenschaftlich für mehr persönliche Entfaltungs-, Berufs- und Konsumoptionen.
Unserem heutigen Widerstand – egal ob von links oder rechts oder sonstwo – ist die Lebensfreude abhandengekommen und ein positives Ziel, auf das man richtig LUST hat und für das man folglich kämpfen möchte.
FFF, XR, Letzte Generation demonstrieren gegen den Klimawandel. Doch eigentlich wollen sie nur Bestehendes bewahren, uns vor dem Untergang (wie sie ihn sehen) retten. Ihr „positives“ Gegenbild besteht aus Verzicht, Scham, strenger Disziplin von Konsum bis Sprache. Scharf ist darauf eigentlich keiner, es ist mehr etwas aus der Kategorie „muss ja“, der Reward liegt höchstens in moralischer Selbsterhöhung.
AfD, Identitäre und Co. demonstrieren gegen Einwanderung und „multikulti“. Doch auch hier geht es nur um „es soll so bleiben, wie es ist/war“, um den Untergang (wie sie ihn sehen) abzuwenden – nicht um ein „es soll besser werden“. Das „positive“ Gegenbild besteht aus strammer Wachsamkeit, Gruppenmoral, strenger Disziplin von Kultur bis Fortpflanzung. Auch das klingt nicht gerade nach einer Orgie des Frohsinns…
Und die Proteste gegen einen immer übergriffigeren und intransparenteren Staat – hier um die Bürgerrechte besorgte „Spaziergänger“, dort „Querdenker„ – richten sich gegen das, was sie als Untergang der Demokratie sehen… ein reines Abwehrgefecht, das eigentlich verbriefte Rechte wieder gewährt und eingehalten sehen will. Das „positive“ Gegenbild? Weniger Lobby-Einfluss, verlässlichere Gerichte, unabhängigere Medien, offenerer Diskurs… etwas für die WG-Diskussion, nicht für den Endorphin-Kick.
Über alle Gräben hinweg leben wir in einer Zeit, die mehr durch Empörung, moralische Strenge, Besitzstandswahrung und Abgrenzung bestimmt ist als durch Utopie, Schaffensfreude und sinnenfrohe Ausgelassenheit.
Das ist ein echtes und kein Luxusproblem:
Wenn wir nur wissen, was wir NICHT wollen – das, was wir WOLLEN hingegen aus einer Mischung aus hehren Abstraktionen und moralischem Imperativ besteht, anstatt auch an die Sinne zu appellieren und die Säfte zum Fließen zu bringen… dann werden wir uns nur immer weiter in die Negativität spiralen, blockieren und zerlegen, und im Prozess darin in den Burnout schliddern.
Nietzsche kommentierte einst ebenso bissig wie treffend: „Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne. Erlöster müssten mir seine Jünger aussehen.“ Die knappste Ressource in unserer Zeit ist die Vision.