Das Thema, welche Hymne in Deutschland gesungen wird, hat mich eigentlich nie recht interessiert. Das mag damit zu tun haben, dass ich nicht gut singen kann, Klavier kann ich auch nicht spielen, nicht mal eine Mundharmonika hatte ich als Kind, auch keine Gitarre, war ja auch ziemlich teuer. Deshalb ging mir der Streit über die 3. Strophe oder die erste, darüber, welcher Fußballer bei der WM nicht mitgesungen habe-u.a. der Özil- auf die Nerven. Haben wir nichts Wichtigeres zu tun? Gerade las ich im Buch von Dirk Oschmann- Der Osten- eine westdeutsche Erfindung- das Bedauern des Literaturwissenschaftlers aus Thüringen darüber, dass der Westen, gemeint wir damals in Bonn und Umgebung, nicht mal eine Diskussion über die künftige Nationalhymne zugelassen hätten. Warum nicht als Lied der Deutschen „Auferstanden aus Ruinen, und der Zukunft zugewandt“. Von Johannes R. Becher 1949 geschrieben. Für die DDR. Und wie Heribert Prantl in seiner SZ-Kolumne schrieb: „mit der DDR untergegangen.“ 1990. Sie durfte im übrigen seit den 70er Jahren nicht mehr gesungen werden, weil es in der dritten und vierten Zeile heißt: „Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland.“ Das wollten die DDR-Mächtigen damals nicht mehr hören, „Deutschland einig Vaterland.“
Erinnern Sie sich an 1989, als Tausende in Leipzig und anderswo auf die Straße gingen und gegen die SED-Diktatur protestieren und riefen: „Deutschland einig Vaterland“? Johannes R. Becher war ein deutscher Dichter, am 22. Mai 1891 in München geboren. Später, nach 1949 trat er in die SED und wurde Minister für Kultur sowie erster Präsident des Kulturbundes der DDR. Die Nazi-Zeit hatte er u.a. im Hotel Lux in Moskau überlebt. Er ist auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte beerdigt, wie Johannes Rau, Egon Bahr. Bert Brecht, Helene Weigel, die Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Anna Seghers, Christa Wolf, der Industrielle August Borsig, der Buchdrucker Ernst Theodor Litfaß, der Baumeister Karl Friedrich Schinkel, der Regisseur Heiner Müller.
Auferstanden aus Ruinen
Auferstanden aus Ruinen. Daran erinnerte mich vor wenigen Tagen eine Freundin. Warum nicht diese Strophe als zweite Strophe der Nationalhymne? Geschrieben hat sie Becher nach 1945, als alles in Scherben lag und zwar in Deutschland West wie in Deutschland Ost. Schon vergessen? „1945 lebte Europa im Dunkel von Tod und Zerstörung“, schreibt Ian Kershaw in seinem historischen Buch „Höllensturz“. Und er zitiert die polnische Schriftstellerin Janina Broniewska, als sie kurz nach der Befreiung Warschau sah: „Hier ist ein Gräberfeld. Hier ist der Tod.“ Vieles war nicht wiederzuerkennen, vom Krieg zerstört. So erging es auch Alfred Döblin, der 1929 „Berlin-Alexanderplatz“ geschrieben hatte. Döblin war nach über zwölf Jahren Exil zurückgekehrt nach Deutschland, und er erkannte manche Stadt nicht wieder, weil „von denen wenig mehr als die Namen existieren.“ Jüngere mögen die Bilder nicht im Kopf haben, wie wir, die Älteren sie nicht vergessen werden: Häuser, Straßen, Brücken, Kanäle, Eisenbahnnetze, alles zerstört, kein Gas, kein Strom, kein Wasser. Der Krieg, den Nazi-Deutschland in die Welt gebracht hatte, um sie zu erobern und die Polen, Russen und Ukrainer zu Sklaven zu machen, um Millionen Juden zu ermorden, dieser Krieg war zurückgekehrt nach Deutschland. Bomben über Bomben fielen auf Deutschlands Städte, Tod und Verwüstung war das Ergebnis. Dazu der Zivilisationsbruch der Kulturnation Deutschland, die Moral lag am Boden. Millionen Deutsche hatten Hitler zugejubelt, sie standen jetzt da zerlumpt und demoralisiert. Schuld und Sühne nach einem Krieg mit 60 Millionen Toten.
Auferstanden aus Ruinen. Das wäre doch eine Zeile gewesen, die gepasst hätte damals, als die alte Hymne verboten wurde. „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt.“ Der Dichter des Liedes, Hoffmann von Fallersleben, hatte nicht das Großdeutsche Reich im Sinn, nicht die Oberherrschaft des Arischen Blutes, sondern die Einheit der Deutschen, die damals auf 39 Kleinstaaten verteilt war, damals im 19. Jahrhundert. Aber die Nazis hatten das Lied entweiht, wenn man das so sagen darf, oder wie es der Bundespräsident Theodor Heuss ausdrückte: das Lied war „entehrt und besudelt“ von den Nazis mit ihrem Größenwahnsinn. Hitler hatte die erste Strophe singen lassen-Deutschland über alles- und daran angehängt das Horst-Wessel-Lied, das Kampflied der SA, der Sturmabteilung der Nazis, eine weitgehende braune Schlägertruppe. Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Horst Wessel war SA-Mitglied. Nach 1945 wurde das Lied wie alle übrigen Nazi-Symbole verboten.
Um ein Missverständnis aufzuklären: Wir haben zwar eine Hymne, aber kein Gesetz, in dem sie festgelegt ist. Es begann in Deutschland-West nach 1945 zunächst ohne eine Hymne. Das führte dann zu Kuriositäten. Als Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, erstmals 1953 die USA besuchte, wurde er in Chicago mit dem Karnevalsschlager: „Heidewitzka, Herr Kapitän“, musikalisch empfangen. Adenauer, der einstige Kölner Oberbürgermeister, von den Nazis entlassen, später in Bonn-Rhöndorf lebend, dürfte über diese Musik gelächelt haben. Eine Hymne war sie nun wirklich nicht, aber es gab ja auch keine. Prantl beschreibt das in seiner Kolumne und weist auf Schlager hin, die man damals mit der Bundesrepublik verband: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“. Womit die drei westlichen Besatzungszonen gemeint waren: die britische, die französische und die amerikanische. Das erwähnte Trizonesien-Lied, nennen wir es Schlager, hatte eine weitere erkenntnisreiche Zeile: „Wir sind zwar keine Menschenfresser, aber küssen um so besser.“ Was die Londoner Times dazu veranlasste(so Prantl), zu bemerken, die Deutschen würden schon wieder frecher.
Einander achten, aufeinander achten
Ein Land ohne Hymne, in den Ruinen und auf ihnen lebend. Deutschland 1949. Der Parlamentarische Rat-Präsident war Konrad Adenauer, der Mitbegründer der CDU- tagte, um dem neuen Staat eine Verfassung zu geben, das Grundgesetz entstand, ohne Hymne. Im Mai verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz und seine Mitglieder sangen dazu „innig und angerührt ein patriotisches Studentenlied“(Prantl) aus dem 19. Jahrhundert: „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand dir, Land voll Lieb und Leben, mein deutsches Vaterland“.
Im Grundgesetz fehlt der Hinweis auf die Hymne, auch von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ist nicht die Rede. Im Artikel 22 steht einzig, dass die Bundesflagge Schwarz-Rot-Gold ist. Es gibt also, wie Prantl schreibt, eine Verfassungslücke bis heute. Die Sache mit der Hymne beruht lediglich auf zwei Briefwechseln, den zwischen Heuss und Adenauer. Heuss wollte eine andere, hatte einen Dichter damit beauftragt, was aber niemandem gefiel, also folgte er Adenauers Vorschlag, die Hoffmann-von-Fallersleben-Hymne zu aktivieren, aber nur die 3. Strophe singen zu lassen. Was in der Realität nicht immer eingehalten wurde. Ich erinnere mich, wie nach dem Gewinn der Fußball-WM in Bern 1954 quasi ganz Deutschland in einen Rausch verfiel und schmetterte: Deutschland über alles. Der zweite Briefwechsel war der zwischen Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl. Ergebnis: Gültig ist die 3. Strophe „Einigkeit und Recht und Freiheit“.
Im Mai nächsten Jahres feiert Deutschland ein Jubiläum: 75 Jahre Grundgesetz, die Republik wird 75. Man darf zugleich daran erinnern, dass dann der Fall der Mauer (was quasi das Ende der DDR bedeutete) 35 Jahre zurückliegt. Eine lange Zeit. Eine Gelegenheit vielleicht, die angesprochene Verfassungslücke zu schließen. Schon 1990 wollte Lothar de Maiziere, der letzte Ministerpräsident der DDR, eine kombinierte Hymne aus „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sowie aus „Auferstanden aus Ruinen“. Damals hat Helmut Kohl, der mächtige Kanzler, das abgelehnt. „Ich war empört, als ich davon hörte“. So steht es in seinen Erinnerungen. Und auch einer wie Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister, lehnte ab. Es handele sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und „nicht um die umgekehrte Veranstaltung“. Das war halt die Sieger-Mentalität, die sich im Westen breit gemacht hatte. Lothar de Maiziere soll Schäuble sogar auf der Violine vorgespielt haben, um Schäuble zu zeigen, was er denn vorhabe. So sentimental konnte man einen wie Schäuble nicht umstimmen.
Ob das heute, also gemeint 2024 möglich ist? Becher war Kommunist. Ja und? Der Text ist doch gut, sehr gut, keine Lobpreisung von Moskau oder der SED, die es ja gar nicht mehr gibt. Wäre auch keine DDR-Nostalgie, wie Prantl zu Recht betont. Schließlich hatten Honecker und Co. diesen Text längst verboten. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“, passt doch genauso auf Deutschland West wie Ost 1949. „Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland.“ Was soll daran verwerflich sein? Oder weiter der Text: „Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint, denn es muss uns doch gelingen, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.“ Nichts Militärisches, kein Größenwahn, eher dem Frieden zugewandt. Dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheine. Dem kann man doch nur zustimmen.
Damit sind die Probleme zwischen Ost und West nicht gelöst, aber vielleicht ein Anstoß für eine entsprechende Debatte. Die verhasste Mauer in Berlin ist weg, aber nicht die in den Köpfen. Wir brauchen eine Diskussion auf Augenhöhe und nicht über die Köpfe der Menschen hinweg. Wir müssen lernen, wieder zuzuhören. Jeder dem anderen, mit Demut und nicht mit Besserwisserei. Mehr Respekt. Aufeinander achten, einander achten.
Ebenso wie über eine gesamtdeutsche Verfassung hätte man auch über eine neue Hymne diskutieren sollen. Einfach als Akt der Anerkennung und des gegenseitigen Respekts; jedenfalls dann, wenn man es mit der Wiedervereinigung ernst gemeint hätte.
Mir hätte die „Kinderhymne“ von Bert Brecht mit der Musik von Hanns Eisler gefallen:
Arbeitsmaterial
http://www.bpb.de/grafstat
M 02.24 Kinderhymne
Bertolt Brecht
Kinderhymne
Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land.
Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s
Und das liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs