Aufbruch heißt das Stichwort, mit dem der neue Kanzler Olaf Scholz verbunden wird und seine Ampel-Koalition, die ihn wählen soll. Eine Koalition aus drei Parteien im Bund, das gab es noch nie. Aufbruch, also etwas Neues. Das sogenannte Narrativ-wie es neudeutsch heißt- also die Erzählungs- hat man noch nicht gefunden. Aber Aufbruch soll sein, mindestens. So jedenfalls verheißt das Schlagwort. Aufbruch nach 16 Jahren Angela Merkel klingt so, als wäre manches liegengeblieben, was ja auch zutrifft, aber die SPD darf dabei nicht vergessen, dass sie an 12 Regierungsjahren der CDU-Kanzlerin beteiligt war. Sie hat mitregiert, saß im Merkel-Boot, wenn auch nicht auf der Brücke. Man will es anders machen, als es die Vorgänger-Regierung Merkel gemacht hat, besser natürlich. So ähnlich hatte es schon Gerhard Schröder gesagt, als er den ewig regierenden Kanzler Helmut Kohl abgelöst hatte. Um den Mehltau zu beseitigen, der angeblich über vielem lag. So das Bild. Zusammen mit Joschka Fischer, dem Grünen, einem Ex-Sponti und auch Straßenkämpfer aus Hessen. Sie formten die erste rot-grüne Allianz im Bund.
Die Bundesrepublik hat bisher acht Bundeskanzler gehabt, pardon eine Kanzlerin ist darunter. Und oft war die FDP dabei. Von 1949 bis 2021 saßen die Freien Demokraten über 44 Jahre an verschiedenen Kabinettstischen. Die FDP hat mit Konrad Adenauer regiert und dann den Alten aus Rhöndorf gezwungen, vorzeitig zurückzutreten, um dem von ihm ungeliebten Wirtschafts-Minister Ludwig Erhard Platz zu machen. Die kleine FDP, die oft kämpfen und bangen musste, um die Fünf-vh-Hürde zu schaffen, war der Königsmacher im Falle von Adenauer und Erhard, später von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Helmut Kohl verhalfen die Liberalen zur Kanzlerschaft durch ein konstruktives Misstrauensvotum 1982. Vier Jahre regierte die FDP mit Angela Merkel, danach flog die Partei aus dem Bundestag. Und jetzt hat sich Christian Lindner, der mit Armin Laschet befreundet ist, wie er selbst einräumte und mit diesem die CDU-FDP-Koalition in NRW 2017 geschmiedet hatte, entschieden, die Seite zu wechseln und mit der SPD und den Grünen ein Bündnis einzugehen. Etwas Neues, Lindner zufolge könne daraus Großes werden. Gemeint wohl die Erneuerung des Staates, soziale Reformen, Umbauten, Digitalisierung, Klimaschutz.
Die FDP war fast immer dabei
Die Union hat jetzt Platz genommen auf den von ihr ungeliebten Oppositionsbänken. „Opposition ist Mist“, das hat Franz Müntefering(SPD) einst gesagt. Er kannte beides, Regierung und Opposition, das Gestalten und Opponieren, den Apparat der Regierung, der vieles leichter macht, weil man Zugriff hat zu den Hilfsmitteln der Macht, weil man machen kann, was die Opposition stets nur zu fordern in der Lage ist. Mit Adenauer, Erhard, Kiesinger, Kohl, Merkel hat die CDU fünf Bundeskanzler gestellt, die 50 Jahre regiert haben, mal allein, oft mit der FDP und viele Jahre zusammen mit der SPD, die eigentlich lange Jahre als ewige Oppositionspartei galt. Von 1949 bis 1966, dann gab es die erste richtige Große Koalition: Kurt-Georg Kiesinger wurde aus Baden-Württemberg geholt, wo er Ministerpräsident war, um zusammen mit Willy Brandt zu regieren. Kiesinger, der schon 1933 in die NSDAP eingetreten war, an einem Tisch mit dem Nazi-Gegner und Emigranten Willy Brandt von der SPD. Dabei waren auch Helmut Schmidt und Herbert Wehner, der seine Erfahrungen mit den Kommunisten gemacht hatte und als einer der Architekten des Bündnisses aus Union und SPD galt, weil er die SPD aus ihrer Oppositionsrolle holen und sie zur Regierungspartei machen wollte.
Mit Adenauer und Erhard sind die Westintegration und die soziale Marktwirtschaft verbunden, der Wiederaufbau eines Landes, das in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs lag und moralisch zerbrochen war. Über zehn Millionen Deutsche waren Mitglieder der NSDAP gewesen, viele begeistert von Hitler und Göbbels, blind geworden von den Blitz-Siegen im Krieg, denen der Untergang von Stalingrad folgte und das bittere Ende 1945. Der Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Juden durch das verbrecherische NS-Regime, der Vernichtungskrieg im Osten gegen Polen und die Sowjetunion, all das lastete auf den deutschen Seelen. Konrad Adenauer, der sich selber einige Zeit in den 30er Jahren vor dem Zugriff der Gestapo im Kloster Maria Laach verstecken musste, verstand es, diese NS-Zeit wegzudrücken durch Nicht-Behandeln. Der Feind stand plötzlich im Osten, die Russen in Berlin waren das Feindbild. Erst in den 60er Jahren folgten die ersten Auschwitz-Prozesse in Frankfurt.
Die Bundesrepublik war in den ersten Jahren im Grunde ein CDU-Staat, erst durch das Godesberger Programm gab sich die SPD ein regierungsfreundliches Gesicht, indem sie die West-Integration akzeptierte, die soziale Marktwirtschaft und die Bundeswehr, sie wurde zur Volkspartei und legte klassenkämpferische Parolen auf den Müllhaufen der Geschichte.
Als die Union Erhard stürzte
Interessant der Grund für die Scheidung der schwarz-gelben Regierung unter Ludwig Erhard 1966: die Union wollte zur Verringerung der Schulden-es war die Zeit der ersten Kohle-Krise- Steuern erhöhen, was die FDP ablehnte. Über den Sturz der einstigen CDU-Wahllokomotive Ludwig Erhard kann man in Kohls Erinnerungen nachlesen. Erhard fühlte sich nach einer Vorstandssitzung der Union im Kanzlerbungalow, wo man nach der verloren gegangenen Landtagswahl in NRW nach Schuldigen suchte und auch über einen Nachfolger für Erhard beriet- alleingelassen. Wörtlich habe Erhard gesagt: „Herr Kohl, jetzt sehen Sie, wie es ist, wenn man gestürzt ist, dann ist man ganz allein.“
Mit der ersten Großen Koalition verbinden sich eine Finanzreform und die umstrittenen Notstandsgesetze, mit denen im Falle eines nationalen Notstands auch Grundrechte außer Kraft gesetzt werden könnten. Man erinnert sich an die protestierenden Studenten, die 68er Bewegung, den Kampf gegen den Vietnam-Krieg der Amerikaner. Die FDP verhinderte eine Wahlrechtsreform, die in Form eines Mehrheitswahlrechts, wie es die SPD vorhatte, wie es aber auch Teile der Union befürworteten, die Existenz der Liberalen riskiert hätte. Die FDP, das war Walter Scheel, der Erich Mende, den Ritter-Kreuz-Träger abgelöst hatte, Wolfgang Mischnick, Hans-Dietrich Genscher. Die Partei, früher dominiert von ihrem nationalliberalen Flügel, rückte in die Mitte. Scheels FDP sorgte für die Wahl des ersten SPD-Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der den CDU-Bewerber Gerhard Schröder, Verteidigungsminister, im dritten Wahlgang besiegte.
Der neue Präsident bezeichnete seine Wahl als „ein Stück Machtwechsel“. Ein halbes Jahr später war es dann so weit, der eigentliche Wahlsieger Kiesinger war schon zu Bett gegangen, als Willy Brandt und Walter Scheel noch in der Wahlnacht die erste sozialliberale Koalition besiegelten. Das war Ende September 1969. Schon wenige Wochen später, am 21. Oktober wurde Brandt zum Kanzler gewählt. Man sieht, es geht auch schneller. Übrigens war die rechtsradikale NPD knapp an der Fünf-vh-Hürde gescheitert. Die erste sozialliberale Koalition war kein Zweckbündnis, wie man das später für andere Allianzen ausdrückte und wie es auch jetzt heißt, sondern fast schon eine Liebes-Heirat. Vor allem die Ostpolitik Brandts, die von Scheel unterstützt wurde, die aber auch dazu führte, dass einige Liberale die Partei verließen, schweißte das Bündnis zusammen und prägte die Zeit. Willy Brandt erhielt den Friedensnobelpreis. Der erbittert geführte Streit über die Ostverträge war auch der Grund des Misstrauensvotums der Union gegen den Kanzler. Rainer Barzel verlor die Abstimmung mit zwei Stimmen, auch weil Unions-Abgeordnete gekauft worden waren. Es könnte die Stasi ihre Hand im Spiel gehabt haben, wie man später nach dem Fall der Mauer herausfand.
Mehr Demokratie wagen
Mehr Demokratie wagen, so Willy Brandts berühmt gewordener Satz aus seiner ersten Regierungserklärung. Heute sagt Scholz: Mehr Fortschritt wagen. Brandts Regierung entpuppte sich wirklich als Reform-Koalition. Man senkte das Wahlalter, erweiterte die betriebliche Mitbestimmung, reformierte das Ehe- und Familienrecht. Prägend aber waren die Ostverträge, die quasi den Verzicht auf die einstigen deutschen Ostgebiete bedeuteten und auch die Einrichtung der Ständigen Vertretungen in Bonn wie Ostberlin. Helmut Schmidt machte einen Arbeitsbesuch in der DDR. Dazwischen gab es den Kanzleramts-Spion Günter Guillaume, dessentwegen Brandt zurücktrat.
Es war eine aufregende Zeit mit Wirtschaftskrise, erster Ölkrise, Fahrverbot an Sonntagen, RAF-Terror, Streit um die Bewaffnung mit atomar bestückten Atomraketen, Massen-Demonstrationen in Bonn. Diese Debatte über die atomare Nachrüstung- der Nato-Doppelbeschluss- sorgte für einen Riss quer durch die SPD, Teile der Partei gingen auf Distanz zum Kanzler Helmut Schmidt. Berühmt-berüchtigt der Satz von Oskar Lafontaine: Schmidt habe „Sekundärtugenden“, mit denen man auch ein KZ führen könne. Wenn man so will, wurde Schmidt von den eigenen Genossen so lange demontiert, bis er am Ende war. Und Helmut Kohl ihn mit einem konstruktiven Misstrauensvotum ablösen konnte. Sicherlich spielte auch die Finanz- und Steuerpolitik eine entscheidende Rolle. Man kennt den Satz aus eine der letzten Reden des Kanzlers vor der eigenen Fraktion, es sei notwendig, um die Staatsfinanzen zu sichern, tiefere Einschnitte in Leistungsgesetze vorzunehmen.
Kohl Kanzler der Einheit
Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher regierten ab 1982. SPD-Kanzlerkandidaten scheiterten der Reihe nach am Pfälzer: Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping. In Kohls Regierungszeit fiel die Mauer, weil die DDR am Ende war, die Menschen mit ihren Kerzen waren mächtiger als Stasi, SED, Gewehre und Panzer. Kohl wurde der Kanzler der Einheit, weil es ihm gelungen war, Vertrauen zu den Mächtigen in der Welt zu schaffen, wie dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand, dem US-Präsidenten George Bush und Russlands Präsidenten Michail Gorbatschow.
Gerhard Schröder, der letzte SPD-Kanzler, hat Olaf Scholz, seinen Nach-Nachfolger, in einem Interview die Kompetenz zugesprochen, Bundeskanzler zu sein. Und er kritisierte zugleich die Grünen wegen ihrer rigorosen Haltung gegenüber China und Russland. Annalena Baerbock wird die neue Außenministerin. Richtig an Schröders Kritik ist, dass Deuschland nicht über die Politik von China entscheiden kann und auch nicht über die von Russland. Beide sind Weltmächte, große Player, mit denen wir reden müssen. Schließlich machen wir auch Geschäfte mit ihnen. Man darf an den alten Spruch Brandts erinnern: Wandel durch Annäherung. Oder den der Wirtschaft: Wandel durch Handel. Ohne China geht es nicht und ohne Moskau auch nicht.
Was nicht heißt, dass man mit allem einverstanden sein muss, was in Peking gemacht und gesagt wird. Aber wir dürfen uns dabei auch nicht übernehmen. Wichtig für Olaf Scholz, der vierte Bundeskanzler in der Galerie der SPD, wird aber nicht nur die gute Zusammenarbeiit mit den anderen Regierungspartnern sein, sondern auch die Geschlossenheit der eigenen Partei. Schröder hat erlebt, wie Teile der SPD wegen seiner Agenda-2010-Reformen ihm von der Fahne gingen und mit dafür sorgten, dass er an Zustimmung einbüsste und schließlich die Wahl gegen Merkel 2005 verlor. Scholz wird das wissen, er weiß auch, wie es Helmut Schmidt einst erging, den man dann Jahre nach dem Machtverlust immer wieder feierte. Der künftige SPD-Chef Lars Klingbeil zeigt sich sicher, dass auf die SPD Verlass sei. Man habe aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt. Scholz und Lindner haben beide betont, man wolle wiedergewählt werden. Warten wir es ab, wenn es zum Streit kommt.