Das Grundgesetz lernte ich während meiner Lehrzeit kennen. Insbesondere die Artikel 1 – 19, die sog. Grundrechte – kannte ich in- und auswendig. Sie blieben mir auf seltsame Weise abstrakt. Anders gesagt: Es war reine Wissensaneignung, keine politische Bildung. Diese erhielt ich auf andere Weise.
Als Zehnjähriger wurde mir der Zugang zur Oberschule verwehrt. Dabei hieß es doch: Jeder hat das Recht auf Bildung. Angehörige der Arbeiterschicht offenbar nicht. Oder die schöne Formulierung: Eigentum verpflichtet! Wozu eigentlich?
In den frühen 50er Jahren verfolgte ich mit meinem Opa die Debatten um die Wiederaufrüstung. Mein Opa – ein einfacher Schmied auf der Werft – war Antifaschist und Anti-Militarist. Er hatte im Ersten Weltkrieg die Schlacht um Verdun nur knapp und schwerverwundet überlebt. Er hasste alles Militärische. Für das Lied vom „braven Kameraden“ hatte er nur Spott übrig. Ihn hatten sie auf dem Schlachtfeld liegen lassen. Er wäre verblutet, hätte ihn nicht ein jüdischer Freund unter Einsatz seines Lebens gerettet. Diese Geschichte erzählte er immer wieder.
Und nun das: Adenauer betrieb die Westintegration und den Aufbau der Bundeswehr; unter Beteiligung von Offizieren, die zu 80% noch Hitler gedient hatten. Der Widerstand in SPD und Gewerkschaften, aber auch in weiten Teilen der Bevölkerung war groß. Das Ergebnis ist bekannt.
Etwas später – ich war mittlerweile gewerkschaftlicher Jugendvertreter und aktiv in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig (Schwerpunkt: Geschichte der Arbeiterbewegung) – diskutierten wir intensiv die Frage, warum es nach dem 2. Weltkrieg zu keiner Neuordnung gekommen war. Immerhin war selbst der CDU in ihrem Ahlener Programm von 1947 der Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus noch bewusst. Und das Grundgesetz ließ die Frage des künftigen Wirtschaftssystems ungeklärt, so dass es zumindest für eine umfassende Mitbestimmung mit sozialistischer Perspektive offen war. Und natürlich stritten wir darüber, warum der DGB so früh (1952) eingeknickt war, zumal es damals Massenbewegungen für die Mitbestimmung gab. Und spätestens 1959 machte dann auch die SPD ihren Frieden mit dem System.
Die Restauration der alten Kräfteverhältnisse war in vollem Gange. Nicht nur in der Wirtschaft, auch in den gesellschaftlichen Institutionen – Justiz, Verwaltung, Medien und Universitäten – überall kehrte der Geist, den man glaubte überwunden zu haben, wieder ein.
Bereits 1968 kam es zur Verabschiedung der sog. Notstandsgesetze; gegen den heftigen Widerstand vor allem von Teilen der Gewerkschaften, die befürchteten, dass in einer künftigen Krisensituation Teile der Grundrechte außer Kraft gesetzt werden könnten. Am Sternmarsch auf Bonn habe ich damals teilgenommen.
Und 1972 wurde der sog. Radikalenerlass verkündet. Tausende gerieten ins Visier des Verfassungsschutzes und wurden mit oft fadenscheinigen Argumenten mit Berufsverboten belegt.
Während der Studentenbewegung wurde dagegen opponiert, aber ein breites gesellschaftliches Bündnis z.B. mit den Gewerkschaften kam nicht zustande. Die Gründe dafür sind vielfältig; mit Sicherheit waren es nicht nur Sprachbarrieren.
Zum Glück gab es Leute wie Wolfgang Abendroth. Als Verfolgter des Naziregimes trieb ihn die Frage um, ob das Wiedererstarken des Kapitalismus erneut zum Faschismus führen könnte; ob Kapitalismus und Faschismus gewissermaßen wesenslogisch sind. Er hatte einen Kommentar zum Grundgesetz geschrieben und auf die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation verwiesen. Und er verwahrte sich gegen die restriktive Kommentierung des Grundgesetzes durch konservative Rechtsgelehrte wie Maunz und Herzog, die diese Möglichkeit infrage zu stellen versuchten.
Ich habe aus all dem gelernt, dass die zweifellos fortschrittliche normative Ordnung des Grundgesetzes jederzeit auch wieder zurück gedreht werden kann und daher verteidigt werden muss; gegen massive ökonomische Interessen und vor allem gegen die AfD, die nahezu ungehindert zum offenen Verfassungsbruch aufruft.
Bildquelle: Faksimile des Grundgesetzes von 1949, wie es jedes Mitglied des Parlamentarischen Rates erhielt (Exemplar von Theodor Heuss im Theodor-Heuss-Haus Stuttgart; Eigentum Familienarchiv Heuss).
Date 1949 / Photo: 2007
Source Self-photographed
Author Photo: Andreas Praefcke
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