Zur Zeit streiken an vielen Orten Lehrkräfte für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld. Damit fordern sie indirekt, dass das Grundrecht auf Bildung auch umgesetzt werden kann.
Artikel 14 des Grundgesetzes lautet: Jede Person hat das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung. Dieses Recht wird in vielen Sonntagsreden stets erneut bekräftigt. ‚Kinder sind unsere Zukunft’, heißt es und es wird darauf verwiesen, dass Bildung Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist; dass Teilhabe eine Grundvoraussetzung für den Bestand der Demokratie ist. Aber wie sieht es mit dem ‚Grundrecht auf Bildung’ in der Verfassungswirklichkeit aus?
Da habe ich meine eigenen Erfahrungen. Als bei mir der Übergang zur Oberschule (so hieß das damals) anstand, riet meine Klassenlehrerin meiner Mutter mit den Worten ab: Ihr Sohn wird ja ohnehin nicht studieren. Die Tragweite dieser Weichenstellung begriff ich damals noch nicht. Aber irgendwas in mir rumorte: das diffuse Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Die Kinder, die eine Empfehlung zur Oberschule erhielten, waren nicht besser als ich. Aber es waren die Kinder von Ärzten, Rechtsanwälten oder höheren Beamten. Mein Vater war Werftarbeiter.
Nach wie vor bestimmt die soziale Herkunft den Bildungsweg. Von 100 Arbeiterkindern nehmen nur 21 ein Studium auf. Von den Kindern von Akademikern sind es 74. Den Bachelor-Abschluss schaffen 70 % der Arbeiterkinder (Akademikerkinder 85 %); den Master nur noch 8 % (45 % der Akademikerkinder) und bei der Promotion beträgt das Verhältnis 1:100.
Defizite des Schulsystems gibt es viele und sie sind seit Jahrzehnten bekannt:
Marode Gebäude; zu große Klassen; zu wenige und oft überforderte Lehrer, von denen viele resignieren und hinschmeißen; Unterrichtsausfall; bürokratisch verordnete Lehrpläne; veraltete Lernmethoden usw. Die Liste der Mängel ließe sich noch um einiges verlängern.
Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD, der auch die Pisa-Studie entwickelt hat, äußert scharfe Kritik am deutschen Bildungssystem. Er sagt:
In deutschen Schulen geht es oft zu wie in einem Fastfood-Restaurant. Die Schülerinnen und Schüler sind häufig nur Konsumenten, die den Lernstoff serviert bekommen. Die Lehrer sind Servicedienstleister, die das vorgefertigte Essen aufwärmen und herüberreichen sollen. Eltern sind Kunden, die sich gelegentlich beschweren, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Diese Abläufe frustrieren alle.
Und die Lehrer haben viel zu wenig die Gelegenheit, das zu tun, wofür sie eigentlich in den Beruf gegangen sind: nämlich jungen Menschen zu helfen, ihren Weg zu finden. Der Lehrermangel, aber auch andere Probleme in Deutschlands Schulen sind hausgemacht. Da muss sich viel ändern.
Dass es auch anders geht, zeigt ein Bericht über eine sog. Brennpunktschule, die James-Krüss-Grundschule in Köln-Ostheim. Stadtteile, in denen die Armut groß ist, haben gemeinhin die am schlechtesten ausgestatteten Schulen; hier ist der Lehrermangel am größten, weil die pädagogische Arbeit als besonders belastend und herausfordernd gilt. Dass sie zudem schlechter bezahlt werden, als Gymnasiallehrer, macht den Beruf noch unattraktiver.
Um diesen Nachteilen entgegen zu wirken, wurde hier ein sog. Familiengrundschulzentrum eingerichtet, das aus Landesmitteln gefördert wird. Es ist ein Ort der Begegnung, Beratung und Bildung für Kinder und ihre Eltern. Alle Angebote von der Prävention, über die Erziehung bis hin zur Gesundheit werden in der Schule gebündelt und mit der Arbeit eines multiprofessionellen Teams verzahnt. Um die Klassenlehrerin und Schulleitung herum gruppieren sich vor Ort Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und eine Gesundheitslotsin, die den Familien Gesundheitsangebote auch außerhalb der Schule macht. Alle im Team arbeiten in enger Abstimmung miteinander; auf diese Weise wird den Familien eine individuelle Beratung zuteil. Die Schule wird als gemeinsames Projekt der Lehrer, Schüler und Eltern verstanden. Alle sind daran beteiligt und fühlen sich für das Gelingen verantwortlich.
Die Leiterin der Grundschule beschreibt die Herausforderungen wie folgt: Unsere Kinder sind nicht dümmer, sie sind nur weniger gefördert und haben schlechtere Startchancen. Viele sind bei der Einschulung in ihrer Entwicklung zurück. Viele nehmen hier das erste Mal ein Buch in die Hand. Bei einem großen Teil gibt es familiäre Probleme, viele bringen Traumata von ihrer Flucht mit. Manche beherrschen kaum Deutsch bei der Einschulung. Da gilt es anzusetzen.
Nach nunmehr 3 Jahren stellen sich die Erfolge ein. Viele Kinder gehen hier nach der vierten Klasse mit einer Gymnasialempfehlung raus, berichtet die Schulleiterin. Was aber noch viel wichtiger ist: Bei der Entlassfeier der Viertklässler schauen wir in fröhliche Gesichter, die selbstbewusst durch eine neue offene Tür gehen. Das ist jedes Jahr ein besonderer Moment für unser tolles Team und der Lohn für sehr viel Engagement. An mehreren Orten gibt es Familiengrundschulzentren, aber insgesamt viel zu wenige und deren Finanzierung ist auch nur bis nächstes Jahr gesichert. Wenn es stimmt, dass die Schule von heute die Gesellschaft von morgen ist, dann müssen derartige Schulmodelle verlässlich gefördert werden. Im Interesse der Kinder, aber auch der Stabilisierung demokratischer Verhältnisse. Ansonsten bleibt die Bildungsfrage, was sie immer war: eine Frage der Klassenzugehörigkeit.