Unter dieser Überschrift erschien unlängst in LE MONDE diplomatique ein Artikel, in dem gezeigt wird, wie mit (falschen) historischen Vergleichen Politik gemacht wird.
Seit zwei Jahren wird der russische Angriffskrieg auf die Ukraine mit allem Möglichen verglichen: mit dem Ersten Weltkrieg (Stellungskrieg); der Kuba-Krise (Gefahr des Atomkriegs) oder dem Zweiten Weltkrieg. So beschwört Putin den Großen Vaterländischen Krieg und bezeichnet alle seine Feinde als ‚Nazis’. Er selbst wird wiederum mit Adolf Hitler gleichgesetzt, Mariupol mit Stalingrad, die Annexion der Krim mit der Annexion des Sudetenlandes.
Vor allem das Münchner Abkommen von 1938, die sog. Appeasement-Politik der Engländer und Franzosen, mit der sie versuchten, Hitler von seinen Expansionsplänen abzuhalten, muss herhalten, um jeden Versuch, den Ukraine-Krieg einzufrieren, um diplomatische Lösungen auszuloten, zu diskreditieren. Seither steht Appeasement für Feigheit und Verrat. Zuletzt wurden der Fraktionsvorsitzende der SPD und sogar der Papst in dieser Weise beschimpft.
In dem Artikel wird auf der Basis historischer Forschungen nachgewiesen, dass Spitzenpolitiker lausige Historiker sind. Ihr Repertoire an geschichtlichen Parallelen ist so begrenzt, dass sie oft falsche Analogien wählen, um ihre Politik zu legitimieren.
Auch der ukrainische Präsident Selenskyj verweist gern auf geschichtliche Tragödien, um Unterstützung für die Ukraine zu erhalten. Vor dem US-Kongress beschwor er den japanischen Überfall auf Pearl Harbor 1941 und die Anschläge vom 11. September 2001, im belgischen Parlament die Schlacht von Ypern. In Madrid war es der Spanische Bürgerkrieg und das Massaker von Guernica, in Tschechien der Prager Frühling.
Selbst die Entspannungspolitik der 70er und 80er Jahre wird in Misskredit gebracht, wenn es darum geht, die Ursachen des Ukraine-Krieges zu erklären. Angeblich waren ihre Protagonisten naiv und kurzsichtig. Dabei nimmt man es mit den historischen Fakten nicht so genau. Erinnern wir uns: die Entspannungspolitik führte zum KfSZE-Prozess; zu einer ganzen Reihe von Abrüstungsverträgen, zur Auflösung des Warschauer-Paktes und letztlich zur Wiedervereinigung. Ziel sollte eine Sicherheits-Architektur in Europa unter Einschluss Russlands sein; das gemeinsame. europäische Haus, von dem Gorbatschow und später sogar noch Putin vor dem Bundestag sprach. Dieser Weg wurde nicht konsequent zu Ende gegangen. Den Russen blieb die Tür zum europäischen Haus verschlossen. Stattdessen weitete die NATO ihren Einflussbereich bis an die Grenzen Russlands aus und war drauf und dran, auch Georgien und die Ukraine als Mitglieder aufzunehmen, obwohl es zahlreiche Stimmen erfahrener Politiker wie George F. Kennan (amerikanischer Historiker und Diplomat), Henry Kissinger oder beispielsweise Helmut Schmidt gab, die vor einem verhängnisvollen Fehler der NATO warnten, weil dadurch die Sicherheitsinteressen Russlands ignoriert wurden.
Zur Geschichtsschreibung gehört, auch die nicht genutzten, verdrängten oder unterlassenen Möglichkeiten historischer Ereignisse in ihre Analysen einzubeziehen. Stattdessen werden oft (falsche) Zusammenhänge und Kontinuitäten zwischen Ereignissen konstruiert, statt auf die jeweiligen Bedingungen und Unterschiede zu verweisen. Oft dienen diese Vergleiche dazu, politische Entscheidungen zu rechtfertigen. Diese Art von Geschichtspositivismus schafft meist falsche Analogien, statt die Ursachen von Konflikten aufzuklären und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.