Zum hundertsten Todesjahr ist eine Kafka-Biografie von Rüdiger Safranski erschienen. Der Untertitel lautet: Um sein Leben schreiben. In seiner Vorbemerkung zum Buch – es könnte auch ein Resümee sein – schreibt Safranski: Franz Kafka, der 1883 in Prag zur Welt kam, war zu Lebzeiten nur Eingeweihten bekannt. Erst nach seinem Tod 1924 in einem Krankenhaus bei Wien wuchs sein Ruhm in der internationalen literarischen Welt ins Unermessliche. In seiner makellosen Prosa fand man die Abgründe des 20. Jahrhunderts gespiegelt: die totalitäre Bedrohung und Überwältigung, die Metaphysik im Augenblick ihres Verschwindens, die Einsamkeit eines auf sich zurückgeworfenen Einzelnen, aber auch den existentiellen Trotz und die verborgene Komik der Ausweglosigkeit. So wurde Kafka zu dem wohl am meisten kommentierten Autor des letzten Jahrhunderts.
Safranski geht es um die Bedeutung des Schreibens für Kafkas Leben. Einmal ist ihm das Schreiben der Lebensinhalt schlechthin, sein Lebenselixier. Andrerseits hindert ihn das Schreiben, am Leben teilzunehmen. In beiden Zuständen fühlt sich Kafka schuldig. Schuld und Scham sind überhaupt die dominierenden Gefühle, die ihn prägen, unter denen er leidet: ständig und überall.
Kafka fürchtet sich zeitlebens v o r der Einsamkeit, weil er sich dadurch seinem sozialen Umfeld entfremdet. Und dann wieder bangt er u m seine Einsamkeit, weil sie die Voraussetzung seines Schreibens ist. Ebenso ist es mit der Angst: sie ist ständiger Begleiter, bereitet ihm Schmerzen, ist aber zugleich die Quelle seines Schreibens.
Eine geradezu krankhafte Ambivalenz durchzieht auch seine Beziehungen zu Frauen. Er ver- und entlobt sich mehrfach, weiß nicht recht, was er will oder anders gesagt: er weiß, dass er für ein bürgerliches Leben, also Ehe, Kinder, Familienleben, nicht taugt; aber gleichzeitig sehnt er sich nach Nähe und Liebe. Jedoch: sobald eine Beziehung zu eng wird oder eine Entscheidung von ihm verlangt, erfasst ihn Panik. Vor allem in der Beziehung zu seiner Verlobten Felice wird dies deutlich: Er schreibt ihr Dutzende von Briefen, in denen er seine persönlichen Defizite darstellt, um sie davor zu bewahren, sich an ihn zu binden.
Kafka ist und bleibt ein singuläres Ereignis in der Literatur. Bei ihm gibt es bereits nahezu alle Motive, die bei späteren Autoren wieder auftauchen: z.B. bei den Existentialisten; bei Beckett, Joyce und Virginia Woolf, Faulkner, um nur einige zu nennen.
Schonungslos schildert er die Verirrungen der modernen Welt, die Gewalt- und Kriegsexzesse, die Schattenseiten der technischen Entwicklung, die Zumutungen einer überbordenden, undurchschaubaren Bürokratie oder den Zerfall der bürgerlichen Familie.
Faszinierend ist Kafkas Stil. Er schreibt schnörkellos, ohne jede kunstvolle Ausschmückung oder Virtuosität. Nahezu ‚protokollhaft nüchtern’ hält er die wahnhaften, angstbesetzten Züge des neuzeitlichen Menschen fest, dem die transzendenten Orientierungen abhanden gekommen sind.
Die Stärke der Darstellung Safranskis besteht darin, dass er Kafkas Leben und Werk derart miteinander verknüpft, dass sie eine Einheit bilden; oder anders gesagt: er zeigt, dass die Motive seines Schreibens tief verwurzelt sind in der alltäglichen Wahrnehmung seiner Lebensumstände. Kafka beschreibt eine deformierte Alltagswelt, in der Menschen zu entfremdeten, minderwertigen, gedemütigten Wesen werden, für die es keine Auswege gibt. Er stellt sie als Ungeziefer, Affen, Hunde u.a. dar. Kafka ist ein Autor, den man immer wieder neu lesen kann; ganz verstehen wird man ihn wohl nie. Aber das ist wohl das, was die Lektüre seiner Werke so reizvoll macht.
Bildquelle: Von Mondadori Portfolio -Franz Kafka und Felice Bauer, Gemeinfrei,