Bei den Feierlichkeiten zum 75jährigen Bestehen des Grundgesetzes (GG) blieb ein Aspekt nahezu unbeachtet: Warum gab es nach 1990 keinen Versuch, eine neue, gemeinsame Verfassung zu verabschieden, in der die Vorstellungen und Erfahrungen aus Ost und West Eingang gefunden hätten? Artikel 146 des GG sah diese Möglichkeit ausdrücklich vor. Darin heißt es: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Es gab seinerzeit namhafte Befürworter dieser Lösung. Einer davon war Jürgen Habermas, der sich selbst als ‚Verfassungspatriot’ bezeichnet. Er forderte einen Gesellschaftsvertrag, den die Bürger der beiden Staaten miteinander aushandeln sollten. Nicht nur aus demokratietheoretischen Gründen, sondern vor allem aus politischen Befürchtungen heraus, warnte er vor dem Verfall von Bürgersinn und politischer Kultur und möglichen sozialen Polarisierungen, sollten die Belange der Ostdeutschen nicht berücksichtigt werden. Inzwischen wissen wir, dass seine Befürchtungen nicht grundlos gewesen sind.
Eine neue Verfassung hätte die Möglichkeit geboten, gesellschaftliche Veränderungen und neue Erfahrungen zu berücksichtigen. Zur Erinnerung: auch das GG war bereits hinter den Erwartungen vor allem der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften zurück geblieben. Nach 1945 war der Zusammenhang von Kapitalismus, Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Weltkrieg vielen noch bewusst. Es gab in Westdeutschland einen 24stündigen Massenstreik für Mitbestimmung und Enteignung der Großindustrie, an dem neun Millionen Menschen teilgenommen haben. Es war der größte Streik nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausdruck fand die damalige Stimmung beispielsweise im Artikel 41 der Hessischen Verfassung, der die Überführung der Großindustrie in Gemeineigentum vorsah. Interventionen der westlichen Besatzungsmächte verhinderten, dass er angewandt wurde.
Welche Veränderungen und Ergänzungen des GG wären 1990 diskussionswürdig gewesen? Nur ein Beispiel: Es gab im September 1990 einen Kongress in Weimar, an dem 200 Juristen, Wissenschaftler und Vertreter aus Politik und Kultur aus Ost und West teilnahmen; darunter z.B. Jürgen Habermas, Otto Schily, Bärbel Bohley, Rosemarie Will und Ulrich K. Preuß. Sie berieten u.a. über ca. 2000 Vorschläge von Bürgern. Gefordert wurden Dinge wie:
Demokratisierung der Wirtschaft;
das Recht auf Arbeit und Wohnung;
die Gleichstellung von Frauen;
das Verbot der Benachteiligung wegen Alter, Behinderung oder sexueller Orientierung;
der Schutz der Umwelt einschließlich der Haftung für Umweltschäden;
der Erhalt des Volkseigentum;
eine Ergänzung des repräsentativen Parlamentarismus um mehr Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger an politischen Entscheidungen;
die Friedenspflicht des Staates, ein Verbot von Waffenexporten und die Verpflichtung zu Abrüstungsbemühungen.
Schon dieser (unvollständige) Forderungskatalog zeigt, dass es sich gelohnt hätte, sich Zeit für die Diskussion der Vorschläge zu nehmen. Stattdessen herrschte auf Seiten der politischen Gegner eine geradezu hysterischen Furcht vor einer Verfassungsdiskussion (Habermas). Sie verwiesen auf einen vermeintlichen Zeitdruck und beschlossen den Anschluss der DDR nach Artikel 23 GG. Es war offensichtlich, dass der politische Wille für Veränderungen nicht vorhanden war, auch wenn Kohl vor den Wahlen 1990 noch betont hatte: Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.
Dieses Versprechen dürfte – ähnlich wie die Verheißung blühender Landschaften – ausschließlich wahltaktische Gründe gehabt haben. Wolfgang Schäuble hatte in den Verhandlungen über den Einigungsvertrag, der eine Verfassungsdiskussion ersetzte, schon deutlich gemacht, dass nur ein Anschluss für ihn in Frage käme. So wurde es auch eine Woche vor der Wahl von der CDU/CSU beschlossen.
Um dem Argument des Zeitdrucks zu entgegnen, hatten die Befürworter einer Verfassungsänderung einen gestreckten Artikel 23 vorgeschlagen. Das hieß: Erst der Beitritt und dann in Ruhe über eine neue Verfassung diskutieren. Auch dieser Vorschlag wurde rundweg abgelehnt. Bernhard Schlink (u.a. Verfasser des Romans Der Vorleser), der als Jurist und Schriftsteller an den Beratungen teilnahm, schilderte, wie Bonner Ministerialbeamte mit gequälter Geduld darauf reagierten, die Versammlung belehrten und ihr schließlich mitteilten, das alles käme auf keinen Fall in Frage. Ausdruck der weit verbreiteten westlichen Siegermentalität.
Historiker wie Heinrich A. Winkler, der wie immer die prowestliche Sicht vertritt, mögen heute über die gescheiterte Revolution von 1989 räsonieren. Tatsache ist, dass die politisch Verantwortlichen überhaupt kein Interesse daran hatten, eine Verfassungsdiskussion zu führen. Es ging ihnen vor allem um Machterhalt; alles andere wurde zur Nebensache und geriet schnell in Vergessenheit, auch weil die Sieger ihre Geschichte selbst schreiben.
Man mag darüber spekulieren, ob der heutige Rechtsruck, der auf einer Mischung aus Frust, Hass, Gewalttätigkeit und Demokratieverachtung beruht, durch einen anderen Verlauf des Einigungsprozesses verhindert worden wäre. Ein Beitrag zur Förderung der politischen Kultur in diesem Lande war es sicherlich nicht.
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-1003-028 / Grimm, Peer / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons