Die Erzählwerke Arno Schmidts habe ich erstmals 1985 während eines Urlaubs auf einem ostfriesischen Bauernhof gelesen; der ideale Kontext für die Lektüre. Seither habe ich in Abständen einige davon immer einmal wieder gelesen; z.B. Brand’s Haide; Die Gelehrtenrepublik; Das steinerne Herz oder Aus dem Leben eines Fauns. Um die Feinheiten und Subtilitäten seines Schreibens zu genießen, ist eine mehrmalige Lektüre überaus hilfreich.Nur an sein gigantisches Hauptwerk Zettel`s Traum habe ich mich bis heute nicht herangetraut; nur hin und wieder darin geblättert. Es muss noch warten.
Als ich auf der Landstrasse von Celle Richtung Bargfeld fahre, stelle ich mir vor, wie ich es, als er noch lebte, seinerzeit wohl hätte anstellen müssen, um ihm einmal zu begegnen. Er galt als sperrig und kauzig; lebte völlig zurückgezogen und hasste es, Besucher zu empfangen, zumal wenn sie ihn unangemeldet heimsuchten.
Im Ort angekommen, gibt es nirgendwo einen Hinweis. Kein Schild; kein Straßenname deutet auf den Dichter hin, den einige für ein Genie; viele allerdings eher für skurril, wenn nicht gar für verdächtig halten.
Der Ort wirkt wie ausgestorben. Nirgendwo eine Menschenseele. Niemand, den ich fragen könnte. Nach einigem Suchen entdecke ich am Haus „Unter den Eichen 13“ ein kleines Messingschild. Sein Haus steht etwas abseits von der Straße – klein, unscheinbar, holzvertäfelt. davor eine Wasserpumpe. Auf dem Grundstück tummeln sich einige Katzen. Ich hatte von seiner sprichwörtlichen Katzenliebe gehört. Hier musste ich richtig sein.
Vielleicht wäre mir die folgende Idee gekommen: Ich nehme eine der Katzen, die sich mir ganz zutraulich nähert, einfach auf den Arm und klopfe an. Wahrscheinlich hätte Alice, seine Frau, geöffnet, mich verblüfft angeschaut und ausgerufen: Das ist ja unsere Mizie.
Ich habe sie dahinten auf der Landstrasse aufgelesen, hätte ich behauptet.In ihrer Freude ruft sie ihren Mann, der sich im oberen Stockwerk befindet. Arno, der junge Mann hat unsere Mizie mitgebracht. Der Dichter kommt hinzu und meint etwas misstrauisch: Die Katzen halten sich normalerweise auf dem Grundstück auf. Bei den Bauern hier weiß man ja nie. Ich werde zum Tee eingeladen. Ich, der Katzenretter, brauche keinen Besuchstermin. Und dann hätte sich vielleicht folgendes Gespräch entwickelt:
Was führt Sie in diese gottverlassene Gegend, will er wissen. Ohne eine Antwort abzuwarten fährt er fort: Auf das Haus hat mich einst ein Künstlerfreund hingewiesen. Es war genau das Richtige damals. Absolute Stille. Poststelle beim Gastwirt, ein weiteres Telefon beim Kaufmann, keine Kirche. Hier konnte ich in Ruhe arbeiten. Dort, wo wir vorher gelebt hatten, wurde ich politisch und juristisch verfolgt; einmal sogar wegen angeblicher ‚Pornographie’ angeklagt. Überall herrschte noch der Nazi-Ungeist. Wir lebten lange Zeit in völliger Armut. Wenn wir im Winter nichts zum Heizen hatten, legten wir uns ins Bett, um uns aufzuwärmen. Vom sogenannten ‚Wirtschaftswunder’ haben wir nie etwas mitbekommen.
Das umliegende Grundstück haben wir später hinzu gekauft. Als Schutz vor weiterer Bebauung. Und als Auslauf für unsere Katzen. Auch die Gegend gefiel mir. Ich gehe gern in der Landschaft umher, genieße die gute Luft und fotografiere viel.
Da Sie nun schon einmal hier sind, kann ich Ihnen das Haus gleich einmal zeigen. Aber zunächst trinken wir Tee.
Wir sitzen in der Küche, an die sich ein kleiner Wohnraum anschließt; mit Wänden voller Bücher. Alles ist klein und eng in diesem Haus. Im oberen Stockwerk, an der hellsten Stelle, befindet sich das Arbeitszimmer des Meisters. In der Ecke eine Holzplatte im Halbrund. Die habe ich mir ausschneiden lassen und selbst angebracht. Sie dient mir als Schreibtisch.
Auf dem Tisch liegen zahlreiche Bleistifte, eine Lupe, ein Fernglas und der Fotoapparat. In Reichweite einige Nachschlagewerke, Atlanten und Klassikerausgaben. Und dann zeigt er mir voller Stolz seinen Zettelkasten. Meine eigene Erfindung. Man sieht Holzkästen voller beschrifteter Zettel und Karteikarten.
Es ist eine mühselige Arbeit. Hier konzentriert sich mein gesamtes, über Jahrzehnte angesammeltes, exzerpiertes, bearbeitetes und durch ein kompliziertes Chiffriersystem verknüpftes Wissen. Die Systematik verrate ich nicht. Sie hat sich im Laufe der Jahre immer weiter entwickelt und ausdifferenziert. Selbst wenn ich sie Ihnen erklärte, würden Sie sie wohl kaum verstehen.
Nachdem er mir das Haus gezeigt hat, lädt er mich zu einem Spaziergang ein. Das karg bewachsene Grundstück wird am hinteren Rand von einer Art Schutzwall begrenzt. Von dort aus schaut man über eine Weidelandschaft. In der Nähe befindet sich ein kleiner Aussichtsturm.
Von hier aus habe ich viele Fotos gemacht; oft schon am frühen Morgen, wenn der Nebel aufsteigt. Aber auch zu jeder anderen Tageszeit. Die Fotos regen mich gelegentlich zu Schreibmotiven an und stellen eine gute Gedankenstütze dar.
Mir fiel auf, dass es bei Ihnen sehr verdichtete Landschaftsschilderungen gibt. Etwa im ‚Abend mit Goldrand’, wo sie viele Kapitel damit einleiten. Dadurch schaffen Sie eine Atmosphäre, die auf den weiteren Text ausstrahlt. Das fand ich sehr ungewöhnlich und wüsste nicht, bei wem ich dergleichen schon einmal gefunden habe.
Es wundert mich, dass Ihnen das aufgefallen ist. Viele lesen darüber hinweg. Heutzutage erwarten die meisten Leser eine ‚Handlung’ oder ‚Spannung’. Aber das alles gibt es bei mir nicht. Ich konzentriere mich auf das Wesentliche und das liegt in den Dingen selbst, nicht im äußerlichen Handlungsablauf.
Und dennoch erfährt man bei Ihnen viel über die Welt; über die ‚Innenwelt der Außenwelt’ gewissermaßen. Daher liebe ich Ihre Naturschilderungen. Es sind ja oft nur wenige Zeilen, aber diese sind voller Poesie. Sie erzeugen eine bestimmte ‚Stimmung’ bei mir.
Ich bemerkte, dass er kurz zusammenzuckte, als ich von ‚Stimmung’ sprach. Daher fuhr ich fort:
Mit ‚Stimmung’ meine ich natürlich keine Gefühlsduselei, keine billige Heimatromantik. Ähnlich wie lyrische Texte oder eine bestimmte Musik berühren Ihre Naturschilderungen etwas in mir, das ich kaum benennen kann.. Sie sind für mich die reinste Poesie. Sich auf diese Weise Ihren literarischen Texten zu nähern, könnte eine Möglichkeit sein, die Distanz zu den Texten zu verringern und eine vorgespiegelte Rationalität des Textverstehens zu unterlaufen.
Ihre Texte bewirken bei mir eine Art ‚gegenintuitives Denken’, denn was uns zuerst auf das Potential einer Landschafts- oder Naturschilderung’ aufmerksam macht, ist oft eine ‚Irritation’ oder. die Faszination eines einzelnen Wortes oder Details, die einen bestimmten Ton oder Rhythmus erzeugen.
Neben dem ‚Staunen’ über Ihre Fabulierkunst beschleichen mich oft auch melancholische Gefühle, weil ich mir klar mache, dass die ‚Landschaften’, die Sie schildern, irgendwann verschwunden sein werden.
Er hörte meinen Ausführungen interessiert zu und meinte schließlich:
Ich teile diese Vorliebe für Landschaften, versuche aber, durch eine verdichtete, geradezu präzise Darstellungsweise einen gewissen ‚Gefühlsüberschwang’ zu konterkarieren, indem ich mich nahezu körperlich auf sie einlasse. Vielleicht führt das zu den von Ihnen erwähnten ‚Irritationen’. Einige Kritiker werfen mir ja vor, meine Art zu schreiben sei ‚exaltiert’, ‚spleenig’ oder gar ‚schrullig’. Vor allem aber werfen sie mir vor, bei mir gäbe es keine ‚Handlung’ oder ‚Spannung’. Und zu viel ‚ätzende Kritik am restaurativen Zeitgeist’’. Sie vergessen, dass ich zur Hochzeit des ‚Kalten Krieges’ schrieb, als wir ständig in der Angst vor einem neuen Krieg, wenn nicht gar eines Atomkriegs lebten. Ich hatte den ganzen Weltkrieg als Soldat miterlebt. Mir reichte es. Der Krieg hatte mir die besten Jahre genommen und jetzt begann man schon wieder, aufzurüsten. Mit einer Bundeswehr, deren Offiziere zu achtzig Prozent schon unter Hitler aktiv waren..
Aber gleichwohl freut es mich, dass Sie auf meine doch recht spärlichen Landschaftsschilderungen hinweisen. Es ist natürlich viel schöner, über solche Dinge zu schreiben.
Landschaften verdienen meines Erachtens ungleich mehr Beachtung als die Aussagen und Handlungen von Akteuren. Sie sind das Bleibende; demgegenüber sind Worte und Handlungen relativ beliebig. Gleichwohl habe ich mich oft gefragt, warum man überhaupt Landschaften darstellen sollte. Sie sind doch schon ‚da’. Warum sollte man sie noch eigens beschreiben?
Aber Sie haben recht: eine Landschaft erzeugt diese schwer benennbaren ‚Stimmungen’ in uns. Wir werden an etwas erinnert, dass tief in uns schlummert und dessen wir uns kaum bewusst sind. Das können Sehnsüchte, Traumbilder oder auch Ängste sein. Es ist ein Vorgang, den man kaum steuern kann. Es ist, als würde eine Melodie in uns aufsteigen, die wir noch nie gehört haben, die uns aber dennoch bekannt vorkommt.
*
Ich wusste aus meiner Lektüre, dass er sich stets vehement gegen die Vorherrschaft der sogenannten ‚Handlungs- und Spannungsliteratur’ gewandt hatte. Ich hatte mir vorgenommen, ihn darauf anzusprechen und sagte: Ich finde es erstaunlich, dass es in Ihren Texte kaum ‚Handlungen’ gibt, sie aber dennoch reich an Erfahrungen sind und man viel über die Welt erfährt.
Ich unterscheide zwei große Literatur-Richtungen: Die eine, die sich vordrängt mit dem Geschrei nach Handlung und Aktion, wo es im Getümmel nur so qualmt, wo man brüllt und herumfuchtelt, wo ständig Abenteuerliches und Unerhörtes geschieht: Morde oder Kämpfe um ein Weib. Schriftsteller, die so etwas schreiben, bezeichne ich als ‚Handlungsreisende’.
Dann stehen Sie in einer Reihe von Schriftstellern, bei denen die Fabel nicht aus Taten und Handlungen, sondern aus Reflexionen, Zuständen, Denkweisen, Funktionen und Befindlichkeiten besteht?
In der Tat. Bei mir gibt es keine ‚Handlung’ im eigentlichen Sinne. Handlungen bestehen mehr oder weniger aus willkürlichen Konstruktionen; sie können so oder so ausgehen, wie der Autor es eben haben möchte. Sie haben keine ‚existentielle Bedeutung’, wie ‚Landschaften’ sie besitzen, denen man sie ‚ablauschen’ muss.
In der Wirklichkeit ‚geschieht’ doch viel weniger, als die Liebhaber von Handlungsromanen uns glauben machen wollen. Das Leben besteht vielmehr aus den bekannten kleinen Einförmigkeiten. Ich lehne die artfremde klappernde Handlung ab, die Lüge der ‚Aktiven’, dass vom Menschen und durch sie stets planvolle und bedeutsame Aktionen ausgehen. Diese Art der Literatur entspricht nicht der Realität.
Um der Wahrheit willen verweigere ich mich der Fiktion pausenlos aufgeregter Ereignisse. Dagegen würde ich mich als ‚extremen Realisten’ bezeichnen, der versucht, in seiner Denkweise, Sprache und Architektonik radikal ‚bei den Sachen’ zu bleiben, wie ein Phänomenologe das genannt hat. Auf diese Weise versuche ich, zum Kern der ‚Sache’ vorzudringen. Das kann durchaus gepaart sein mit einer für den oberflächlichen Beurteiler befremdlichen ‚Handlungsleere’.
Im Laufe des Gesprächs erzähle ich ihm, dass ich die meisten seiner Bücher gelesen hätte, aber es mir schwerfallen würde, über sie zu reden. Dennoch sage ich:
Man muss sich ganz auf Ihr Erzählen einlassen und ‚mitgehen’. Dann kommt man wie von selbst in den ‚Rhythmus’ und das macht den Reiz Ihrer Literatur für mich aus. Abgesehen davon, dass es eine ‚reflexive’ Literatur ist, die zum Nachdenken anregt; über die großen, aber vor allem auch über die kleinen und kleinsten Dinge. Über einige seiner Bücher hätte ich mir Notizen gemacht. Um der Peinlichkeit einer Nachfrage zu entgehen, sage ich ihm, dass ich nur für mich schreibe; einfach, um mir über das Gelesene klar zu werden. Zu meiner Erleichterung fragt er nicht weiter. Ich merke, dass er unruhig wird und wieder an die Arbeit möchte. So endet uns kleines Gespräch an dieser Stelle.