Als die Mauer fiel, knallten die Sektkorken, lagen sich die Deutschen in Ost und die Deutschen in West in den Armen und jubelten. Bundeskanzler Helmut Kohl versprach blühende Landschaften dort, wo einst die DDR war. Das war am 9. November 1989 und in den Wendejahren. Heute ist diese Hochstimmung einer nüchternen Betrachtung gewichen, nicht zuletzt wegen der Ausschreitungen in Dresden, in Heidenau, in Bautzen. Vergessen wollen wir auch nicht Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, auch wenn das schon ein paar Jahre zurückliegt. Es sind schlimme Beispiele rechtsradikaler Umtriebe und Bedrohungen, die oft genug in Anschläge gegen Flüchtlingsheime mündeten. Fremdenfeindlichkeit, ja Hass gegenüber den Menschen aus anderen Welten ist zu spüren, der besorgniserregend ist. Dazu kommt, dass das Armutsrisiko im Osten der Republik größer ist als im westlichen Teil Deutschlands. Aber die Armutsgefahr im Westen ist deutlich gestiegen.
In Dresden wird der Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober gefeiert, mit Musik, Reden und einer Art Volksfest, bei dem sich auch die Bundesländer vorstellen und ihre typischen Rezepte und Traditionen anpreisen. Ein Grund zum Feiern? Ja, doch. Dass die Mauer weg ist, wird kaum einer als Grund zur Klage nennen. Dass die verhasste Stasi mit dem SED-Staat verschwunden ist, ein Glück und eine Erleichterung. Der Einheitsstaat ist passé, die SED nannte sich um in PDS und später in Die Linke, ihr Anteil im demokratischen Spektrum der alten DDR ist größer als in der alten Bundesrepublik.
Repariert, restauriert, aufgebaut und aufgehübscht
Die Menschen können seit dem Fall der Mauer in alle Welt reisen und tun dies auch. Vieles wurde repariert und restauriert, aufgebaut, aufgehübscht. Man hatte zum Beispiel in Berlin das Gefühl, eine Goldgräber-Stimmung habe sich breit gemacht, es schien, als werde eine ganze Stadt umgegraben. Man nehme Prenzlauer Berg, jenes Viertel im Bezirk Pankow, das seit Jahren in ist. Wer diese Häuser, die längst Premium-Charakter und die entsprechenden Preise haben, vor ihrer Instandsetzung gesehen hat, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Es war so vieles heruntergewirtschaftet, in schlechtem Zustand, Toiletten in Mehrfamilienhäusern auf dem Flur, keine Aufzüge usw. Nein, dies sind keine Übertreibungen, so war es, als wir eine Wohnung suchten und der Makler uns das Haus präsentierte, dessen Eingang wir nur über Bohlen-Bretter erreichten, sonst wären wir mit den Füßen im Schlamm stecken geblieben.
Aber, und das ist der traurige Teil dieser Geschichte, Käufer der Häuser waren oft Leute aus Schwaben, die ihr gutes Geld in Berlin-Mitte investierten. Die alten Mieter mussten raus, sie konnten sich die Mieten von damals- 2003- elf Euro pro Quadratmeter nicht leisten. Begeistert waren sie nicht.
Berlin, das ist auch die glänzende Mitte der Stadt, das heutige Regierungsviertel um Reichstag und Bundeskanzleramt, das Brandenburger Tor, das Hotel Adlon, die Botschaften Amerikas und Frankreichs, die Straße Unter den Linden mit ihren Cafés und Geschäften. Ja, hier ist ein buntes Treiben auf den Straßen, hier regt sich was und nicht selten bei Tag und Nacht.
Zu Berlin zählen auch Neukölln und Wedding
Aber zu Berlin zählen auch Neukölln, der Wedding, auch Charlottenburg, Wilmersdorf, Pankow, Friedrichshain. Und zu Berlin zählen auch teils die schäbigen Schulgebäude, ein unfertiger Flughafen in einer solchen Metropole- zum Weinen. Wer genau hinschaut, erkennt heute noch an vielen Stellen den Unterschied zwischen West und Ost, zwischen Ostberlin und Westberlin, und dies nicht nur an den Steinen, die zur Kennzeichnung des alten Verlaufs der Mauer in die Straßen eingelassen wurden. Es ist noch lange nicht zusammengewachsen, was zusammengehört, wie das Willy Brandt einmal gesagt hat.
Wenn in Dresden der Tag der Einheit gefeiert wird, hat das seinen guten Grund. Aber es gibt eben auch viele Gründe, nachdenklich diesen Tag zu begehen und an die Fehlentwicklungen seit jenem Novembertag zu erinnern. Dass die Häuser und Straßen in gutem Zustand sind, dass es fast überall im Lande, quasi in jedem Dorf neue Straßenlaternen gibt, ist schön, aber nicht alles und sehr oberflächlich. Millionen haben die Dörfer verlassen und zurück geblieben sind oft nur die Alten.
Zum Tag der Einheit gehört, dass die Ruhrgebietsstädte seit Jahren über ihre Probleme klagen und fordern, nunmehr müsse die Förderung nicht mehr nach Himmelsrichtungen gehen, sondern nach Bedürftigkeit. Wer es nicht glaubt, schaue sich in Gelsenkirchen um, in Oberhausen, in Duisburg mit der Parallelwelt, im Norden von Dortmund. Probleme über Probleme, nicht nur wegen der Flüchtlingskrise, die man im Revier bewältigen wird. Da kennt man sich aus, Solidarität war hier der Alltag, die Hilfe über den Zaun der Normalfall. Anpacken und Ärmel hoch. Aber das wird nicht reichen, Straßen, Schulen, Brücken, Wohnhäuser in einem Zustand, der an den in den letzten Jahren in Teilen der DDR erinnert. Hier muss was geschehen, damit die Menschen sich wohlfühlen zu Hause.
Ruhrgebietsstädte fordern Hilfe aus Berlin
Das Armutsrisiko im Revier ist an manchen Stellen mit Händen zu greifen, die Hilferufe Richtung Berlin sind berechtigt. Warum dauert das nur so lange, bis das Geld fließt? Vieles sieht grau in grau aus, nicht einladend, heruntergekommen, ärmlich, abstoßend, weil kein Geld reingesteckt worden ist. Es gibt die schönen Seiten im Ruhrgebiet, aber es gibt zu viele Bilder, die abschrecken.
15,7 Prozent der Menschen in Deutschland waren 2015 armutsgefährdet, so das Statistische Bundesamt. In den alten Bundesländern-ohne Berlin- waren es 14,7 Prozent und in den neuen Ländern 19,7 Prozent. Als armutsgefährdet gelten Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, das sind rund 930 Euro im Monat. Nüchterne Zahlen, andere Angaben machen das Problem deutlicher: 40 Prozent der unteren Einkommen haben kein Vermögen zur Hand, wo sie bei Bedarf zugreifen könnten, sie leben von der Hand in den Mund. Was auch bedeutet: Im Krisenfall können sie nicht zuschießen, sondern müssen sparen.
Arbeitslose, Geringverdiener, Alleinerziehende
Zur Klarstellung: Armut in Deutschland heißt nicht existentielle Armut, wie sie die Menschen in Entwicklungsländern Tag für Tag erleben und erleiden. Niemand muss in Deutschland Hunger leiden, der sein Leben bedroht. Dennoch leben die von Armut Betroffenen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung mit erheblichen Einschränkungen. Mangelernährung ist oft bei ihnen die Folge, hohe Krankheitsanfälligkeit, soziale Isolation, Abgrenzung ihrer Kinder, die eben nicht zu der Schicht gehören, wo sich das Leben abspielt mit Fußball, Tennis, Ausflügen, Kino, Theater, Kneipenbesuch, Urlaub.
Es handelt sich um Millionen Menschen, Arbeitslose und deren Angehörige, Geringverdiener, oft Menschen mit vielen Kindern, vor allem Alleinerziehende sind von Armut bedroht oder stecken in dieser schlimmen Falle. Jedes 6. Kind in Deutschland ist auf staatliche Unterstützung angewiesen, so sagt es das Kinderhilfswerk. Die Tafeln sind oft genug der einzige Anlaufpunkt, wo diese Menschen etwas zu essen bekommen. Fast 1,8 Millionen holen sich regelmäßig Lebensmittelspenden bei Tafeln ab, darunter 280000 Flüchtlinge. Die Zahl der Tafeln ist seit 2014 um 18 Prozent gestiegen.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble(CDU) hat betont, niemand in Deutschland habe einen Euro weniger wegen der Flüchtlingsproblematik. Das wird so sein, wird aber von nicht wenigen Menschen anders gesehen, weil sie es anders fühlen. Sie fühlen sich benachteiligt, weil sie hören, dass es Deutschland heute besser gehe als je zuvor, aber sie profitieren nicht davon. „Wenn die Armut trotz guter Wirtschaftsdaten zunimmt,“ so der Vorwurf des Hauptgeschäftsführers des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, an die Bundesregierung, „ist dies auch ein Zeichen politischen Versagens und einer verfehlten Sozialpolitik.“
Schere zwischen Reichen und Armen weitet sich
Die Schere zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen geht immer weiter auseinander. Die Menschen, die sich früher in der Mitte wohl und sicher fühlten, beschleicht eine Abstiegsangst, was die Volksparteien zu spüren bekommen. Ein Teil der Anhänger von CDU und SPD wandert zu den Rechtspopulisten der AfD ab. Sprüche wie „Für uns Deutsche bleibt nix übrig“ symbolisieren diese Sorgen, ja die Wut einzelner.
Dabei sind es nicht nur die Flüchtlinge, die den Menschen Angst einflössen und sie verunsichern. Die Kosten für die Bewältigung der Flüchtlingskrise, so hieß es in der Sendung „Maybrit Illner“, beliefen sich auf 20 Milliarden Euro, kein großer Betrag für ein Land, in dem jedes Jahr 3000 Milliarden Euro erwirtschaftet würden. Und dennoch der Verdruss bei den Wählern und der Zulauf zur AfD, die keine Antworten zu bieten ab, sondern nur Sprüche. Als wenn die Welt und die Lösungen so einfach wären!
Boni für Manager selbst bei roten Zahlen
Ob Armut nur ein Gefühl ist, was man bestreiten darf, oder ob Millionen Menschen sich wirklich bedroht fühlen von den Folgen der Globalisierung, die sie nicht begreifen, ob sie wütend sind, weil sie mitbekommen haben, wie Hunderte Milliarden in die Banken gesteckt wurden, um sie zu retten, weil sie quasi täglich erleben, dass Manager neben ihren hohen Monats-Einkünften noch Boni bekommen selbst dann, wenn die Firma rote Zahlen schreibt. Verantwortung sieht anders aus, von Vorbild nicht zu reden.
Es ist eigentlich selbstverständlich, was Malu Dreyer, die SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, in der Fernseh-Runde bei Illner betonte, dass man die Ängste der Menschen ernstnehmen müsse. Man müsse mehr mit den Leuten reden, so der Kölner Pfarrer Franz Meurer, ihnen eine Geschichte über das Leben erzählen, wie es ist. Und man dürfe die Leute nicht hängen lassen, egal ob Flüchtling oder Deutscher.
Deutschland wandelt nicht im Tal der Tränen
Deutschland wandelt nicht im Tal der Tränen, auch 26 Jahre nach der Einheit. Aber es ist viel zu tun in einer Zeit, da nicht wenige Menschen das Gefühl haben, es gehe zunehmend ungerechter zu in diesem Staat, den wir zu Recht Sozialstaat nennen, weil er vorsorgt für den Fall der Not, damit niemand ertrinkt.
Zurück zu Dresden und den Feierlichkeiten. Zu Buden, Pavillons, Bühnen, der Festmeile also, gehört eben auch die Sicherheit, gehört die Sorge wegen möglicher Terrorgefahr, zählen Demonstrationen verschiedener Gruppen. Die Anschläge auf eine Moschee, in der sich eine Familie aufgehalten hatte, der zum Glück nichts passierte, zählen dazu sowie der Fund einer Sprengsatzattrappe. 1400 Betonelemente rund um die Festmeile sollen Anschläge wie einst in Nizza verhindern helfen, Taschen- und Einlasskontrollen werden das Bild mitbestimmen.
Pegida gehört zu Dresden, leider. Aber diese Menschen sind nicht das Volk und sie haben auch mit dem Fall der Mauer und dem Ende der kommunistischen Diktatur 1989, mit der stillen Revolution nichts zu tun, als das Volk mit Kerzen siegte.
Dresden ist schön und es leuchtet.
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-1003-400 / Grimm, Peer / CC-BY-SA 3.0