Israel ist durch den barbarischen Überfall der terroristischen, islamistischen Organisation Hamas vor einer Woche ins Mark getroffen. Ein Land, das sich für unangreifbar hielt und die Hamas für unfähig, die angeblich sicherste Grenze der Welt zu überwinden, ist schockiert, weil es ahnungslos war, unvorbereitet, weil der weltweit geschätzte und gefürchtete Geheimdienst Mossad ganz offensichtlich versagte. 1300 Tote durch diesen Angriff auf israelischer Seite, darunter Frauen, Kinder, Babies. Ferner entführten die Terroristen rund 150 Geiseln. Israels Staatschef Netanjahu hat Rache geschworen, er will die Hamas vernichten, eine Bodenoffensive der israelischen Armee könnte den Krieg ausweiten, der Iran finanziert die Hamas, hat durch seine politische Führung Israel gedroht. Und in dieser schier ausweglosen Lage plädiert einer für die Fortsetzung des Dialogs, für Frieden: Daniel Barenboim, „das letzte Genie der klassischen Musik“(SZ-Kritiker Joachim Kaiser), 30 Jahre lang Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden. In Buenos Aires mitten im Zweiten Weltkrieg 1942 geboren, besitzt der Dirigent mit Weltniveau die israelische wie die palästinensische Staatsangehörigkeit.
Barenboim hat 1999 das „West-Eastern Divan Orchestra“gegründet, das sich zur Hälfe aus arabischen und israelischen Musikerinnen und Musikern zusammensetzt. Es klingt gewiss naiv, was er sagt, gerade jetzt nach diesem Verbrechen und vor einem möglichen Einmarsch israelischer Soldaten in den Gaza-Streifen, was Tote über Tote fordern wird. „Friedensbotschaft“ überschreibt die SZ den Gast-Artikel von Daniel Barenboim. „Genau jetzt müssen wir alle im Anderen den Menschen sehen.“ Also nicht Auge um Auge, sondern die Hand zum Frieden ausstrecken, den Dialog fortsetzen, mag es noch so schwer werden.
Den Terror der Hamas verurteilt auch Barenboim, er sei durch nichts zu rechtfertigen. Wie auch?! Es war ein Überfall, die Menschen im Grenzbereich wurden gnadenlos umgebracht. Es klingt wie Hohn, wenn weltweit, darunter auch in Deutschland, so in Berlin-Neukölln, der Überfall mit Beifall und Fahnen gefeiert wird. Es ist unmenschlich, so zu reagieren. Nein, hält Barenboim dagegen, wir dürften nicht auf Gewalt mit Gegengewalt reagieren, sondern „beharren wir darauf, dass es Frieden geben muss und geben kann“. Wer die Entwicklung in Nahost über Jahrzehnte verfolgt hat, mag daran nicht glauben und verwirft solche Gedanken als Träume, um nicht zu sagen: als baren Unsinn. Mit denen doch nicht, nach dieser Metzelei.
Barenboim lässt sich davon nicht abhalten. Der Frieden ist für ihn der Ernstfall. So hat es vor vielen Jahren der deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann gesagt. Und von Willy Brandt weiß ich den klugen Satz: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. In seinem SZ-Beitrag erinnert Barenboim daran, dass in seinem Orchester die Musikerinnen und Musiker, dass an der Barenboim-Said-Akademie Studentinnen und Studenten unmittelbar von der Krise betroffen seien, fast alle lebten in der Region, andere hätten viele Verbindungen in die Heimat. Es kann für ihn nur eine Lösung des Konflikts geben: „Auf der Grundlage von Humanismus, Gerechtigkeit und Gleichheit- und ohne Waffengewalt und Besatzung“.
Das wird schwierig werden, sich mit dieser Botschaft überhaupt Gehör zu verschaffen, jetzt, wo viele, zu viele nach Rache schreien, Vergeltung. Und doch spielt der Meister-Musiker weiter auf dieser Tastatur des Friedens: Denn „es gibt Menschen auf beiden Seiten, Menschlichkeit ist universell, und die Anerkennung dieser Wahrheit auf beiden Seiten ist der einzige Weg“. So einfach könnte man es zusammenfassen, wenn jeder mitspielte, mitmachte, die Waffen niederlegte. Aber man muss aus heutiger Sicht leider hinzufügen: Dass dieser Weg vorerst zumindest nicht beschritten werden wird, weil auf beiden Seiten keine Bereitschaft vorhanden ist, nachzugeben, auch wenn beide Seiten wissen, dass ihr Weg tödliche Folgen haben, zerstören wird. Und weil das so ist, wird daraus neue Rache entstehen, Hass, ein widerlicher Kreislauf, der allein der Waffen-Industrie hilft, ihre Aktien werden in die Höhe schnellen.
Es bricht uns das Herz
Aber lassen wir diesen großen Dirigenten ein wenig weiter philosophieren. „Die Bilder der verheerenden terroristischen Angriffe der Hamas brechen uns das Herz“. Es haben sich jetzt bei den Aufräumarbeiten in den überfallenen Kibbuz und anderswo Anleitungen gefunden, dass die Hamas-Leute die Israelis einfach erschießen sollten, umlegen, töten irgendwie, gleich ob Kinder, Frauen. Barenboims Bereitschaft zur Empathie ist dennoch ungebrochen, die Bereitschaft, das Leid des Anderen zu sehen, zu fühlen. Man müsse, gerade jetzt, auch Wut, Ängste, Verzweiflung zulassen, räumt er ein, um dann ein Aber folgen zu lassen: „In dem Moment, wo dies dazu führt, dass wir einander die Menschlichkeit absprechen, sind wir verloren. Jede einzelne Person kann etwas bewirken und weitergeben. So verändern wir im Kleinen. Im Großen ist die Politik gefragt“.
Denen, die sich zum Extremismus hingezogen fühlten, müsse man eine Perspektive bieten, weil sie oft völlig verzweifelt seien, perspektivlos, jene Menschen, die sich mörderischen oder extremistischen Ideologien verschrieben, glaubten, dort ein Zuhause zu finden. Große Worte eines großen Mannes. Bildung und Information seien hier wesentlich, um Abhilfe zu schaffen, wenn diese Leute falsch informiert seien.
Der israelitisch-palästinensische Konflikt ist kein Konflikt zwischen zwei Staaten, also kein Streit wegen der Grenzen, wegen Öl, Gas, Wasser oder anderer Ressourcen, aber es ist „ein zutiefst menschlicher Konflikt zwischen zwei Völkern, die Leid und Verfolgung kennen“. Barenboim erinnert an die Verfolgung der Juden seit über 20 Jahrhunderten, man muss die einzelnen Pogrome nicht aufzählen, es reicht, auf das schlimmste aller Verbrechen, den Holocaust von Nazi-Deutschland hinzuweisen, bei dem sechs Millionen Juden ermordet wurden. Es dauerte lange, ehe das neue demokratische Deutschland sich dieses Jahrhundert-Verbrechens annahm, man nannte das Aufarbeitung, hin und wieder gab es Entschädigung. Am Ende reichten die Israelis den Deutschen die Hand zum Frieden. Eine große Geste, wenn man bedenkt, was alles im Reich Hitlers geschehen war und in Auschwitz. Aber es ist möglich, wenn man will, füge ich hinzu. Wobei ich zugeben muss, dass ich mich bei meinem ersten Besuch in Auschwitz darüber wunderte, dass nach dem Krieg überhaupt jemand bereit war, sich mit Deutschen an einen Tisch zu setzen und ihnen die Hand zu geben.
Heimat für alle Juden
Barenboim erzählt in seinem sehr einfühlsamen Stück in der „Süddeutschen Zeitung“ in knappen Worten einen Teil der Geschichte des Staates Israel. „Das jüdische Volk hegte einen Traum; ein eigenes Land, eine Heimat für alle Juden im heutigen Gebiet Palästinas. Aus diesem Traum aber folgte eine zutiefst problematische, weil grundfalsche Annahme: ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. In Wahrheit lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung Palästinas im Ersten Weltkrieg bei nur neun Prozent. 91 Prozent waren also nicht jüdisch, sondern palästinensisch, über Jahrhunderte gewachsen. Das Land kann kaum als Land ohne Volk bezeichnet werden, und die palästinensische Bevölkerung sah keinen Grund, das eigene Land aufzugeben“.
Ein unausweichlicher Konflikt. Ich erinnere mich, dass ich während meines Studiums in München einen Palästinenser kennenlernte, der hatte einen amerikanischen Pass, lebte in Beirut, war bei der Credit Suisse beschäftigt, ein promovierter Banker. Er erzählte mir eines Tages, dass seine Familie aus dem Gebiet der Jaffa-Orangen stamme, sie hätten dort Grund und Haus gehabt und seien später von den Israelis vertrieben worden. Er hegte keine Rache, sondern fragte mich nur, ob ich das für rechtens hielte. Er wollte nichts zurückhaben, aber zumindest hören, dass er mit seiner Ansicht im Recht sei. Barenboim schreibt über diesen Konflikt, dass sich die Fronten über Generationen verhärtet hätten. Und er ist überzeugt: „Die Israelis werden dann Sicherheit haben, wenn die Palästinenser Hoffnung spüren können, also Gerechtigkeit. Beide Seiten müssen ihre Feinde als Menschen erkennen und versuchen, ihre Sichtweise, ihren Schmerz und ihre Not nachzuempfinden“.
Dazu gehört, sagt Barenboim: „Die Israelis müssen akzeptieren, dass die Besetzung Palästinas damit nicht vereinbar ist“. Barenboims Schlüsselerlebnis, um diesen alten Konflikt zu verstehen, ist die Freundschaft mit Edward Said, einem US-amerikanischen Literaturtheoretiker palästinensischer Herkunft, die gemeinsame Arbeit mit dem West-Eastern Divan Orchestra, die gemeinsame Arbeit in der nach ihnen benannten Akademie Barenboim-Said. Der Mann, dem die Musik-Welt zu Füßen liegt, nennt diese Arbeit „die wohl wichtigste Tätigkeit meines Lebens.“ Beim gemeinsamen Musizieren habe man durch teils hitzige Diskussionen gelernt, den vermeintlich Anderen besser zu verstehen, auf ihn zuzugehen. Weil sie verstanden haben, dass sie beide, sie alle, wir alle „gleichwertige Menschen sind, die Frieden, Freiheit und Glück verdienen“. Dieses Verständnis, das so einfach klingt, weil wir ja alle Menschen sind, „erscheint im Konflikt heute auf beiden Seiten völlig verloren“.
Welch eine Friedensbotschaft! Den 1300 Toten beim Überfall der Hamas auf Israel folgten durch die Luftangriffe Israels auf Gaza rund 1500 tote Hamas-Terroristen. Israel hat die Menschen in Gaza aufgefordert, binnen 24 Stunden die Stadt zu verlassen. Dort leben eine Million, zumeist Zivilisten. Wir brauchen mehr Barenboims.
Bildquelle: UN Geneva, flickr, CC BY-NC-ND 2.0 DEED