Die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) trifft US-Präsident Joe Biden zu einem wohl letzten bilateralen Austausch in Washington. Seit dem Machtwechsel im Weißen Haus hat sich das deutsch-amerikanische Verhältnis ohne Zweifel entspannt. Ob es jedoch für ein offenes kritisches Wort unter Freunden reicht, wird sich am Fall Julian Assange zeigen.
Das Schicksal des Wikileaks-Gründers berührt beileibe nicht nur humanitäre Aspekte. Es geht um die Pressefreiheit, um Rechtsstaatlichkeit und um die Demokratie. Die nach den furchtbaren Trump-Jahren wieder zu festigen und zu verteidigen, war erklärtes Ziel von Bidens Europa-Reise. Die Freilassung von Assange wäre ein starkes Zeichen der Aufrichtigkeit dieses Schwurs, und es wäre nur recht und billig, wenn Merkel sich nach langem Heraushalten dafür stark machte.
Um die 120 Künstler, Journalisten und Politiker aller großen Parteien haben der Bundeskanzlerin einen entsprechenden Brief geschrieben. Der machte nach einem dpa-Bericht die Runde und redet Merkel nachdrücklich ins Gewissen. „Wir bitten Sie inständig, helfen Sie, im Fall Julian Assange Brücken zu bauen“, heißt es in dem Appell, der von Günter Wallraff initiiert und von Prominenten wie Sigmar Gabriel, Gerhart Baum, Oskar Lafontaine, Alice Schwarzer, Navid Kermani und Elfriede Jelinek mitunterzeichnet wurde.
Zu dem unsäglichen Verfahren gegen Assange sind seit einigen Wochen wieder vermehrt Interviews mit Nils Melzer zu lesen und zu hören. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter hat inzwischen ein Buch über seine Ermittlungserkenntnisse veröffentlicht. Das Unrecht schreit zum Himmel, doch um es aus der Welt zu schaffen, müssten die USA einen Rückzieher machen. Nach der jahrelangen Propaganda, die den Enthüllungsjournalisten zum Spion, Verräter und Vergewaltiger stempelte, müsste Biden zu einem Eingeständnis des fatalen Fehlverhaltens der US-Behörden bereit sein. Das setzt Größe und Einsicht voraus. Gesucht wird ein gesichtswahrender Ausweg.
Noch läuft das Auslieferungsbegehren der USA. Die haben gegen ein erstes Londoner Urteil, das die Überstellung des 51-Jährigen ablehnte, Revision eingelegt. Assange sitzt bis heute in dem britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh ein, weitgehend isoliert, nach Einschätzung von Melzer systematisch psychischer Folter ausgesetzt. „Das Martyrium ist noch nicht zu Ende“, schrieb der Blog der Republik nach dem Urteil und erinnerte an die Vorgeschichte: Seit April 2019 sitzt Assange im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Er war wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen zu 50 Wochen Haft verurteilt worden. Zuvor hatte er sieben Jahre Zuflucht in der Botschaft von Ecuador gesucht, um einer Auslieferung nach Schweden zu entgehen. Inzwischen wurden die Ermittlungen der schwedischen Behörden eingestellt, der Vorwurf der Vergewaltigung hatte sich als konstruiert erwiesen.
Die USA werfen dem Journalisten und Gründer der Whistleblower-Plattform Wikileaks Spionage und Verrat vor. Angesichts des Drucks, den Washington auf seine Verbündeten ausübte, und der Willfährigkeit, mit denen die Behörden in Schweden und Großbritannien agierten, war allen Protesten zum Trotz mit einer Auslieferung gerechnet worden. Das Londoner Gericht hat das Auslieferungsersuchen der USA nicht mit einer Begründung in der Sache zurückgewiesen, sondern allein mit Blick auf Assanges Gesundheitszustand. Die US-Justiz kündigte umgehend Revision an. Im Fall einer Verurteilung würden Assange in den USA bis zu 175 Jahre Haft drohen.
Der Skandal hatte viele Jahre im Dunst von Vorwürfen, Verleumdungen und Diffamierungen geschwelt, ehe sich 2019 schließlich Nils Melzer, der UN-Sonderberichterstatter für Folter einschaltete und die unzumutbaren Haftbedingungen anprangerte. Er recherchierte hartnäckig die ungereimten Vorgänge in Schweden ebenso wie die unglaublichen Menschenrechtsverstöße, er konfrontierte die Regierungen mit schwersten Vorwürfen, musste sich mit nichtssagenden Antworten abspeisen lassen und sogar dafür rechtfertigen, dass er sich überhaupt um Aufklärung bemühte.
Der Völkerrechtler, der vor seiner Berufung zum UN-Sonderberichterstatter für Folter zwölf Jahre als Delegierter für das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) gearbeitet hat, rüttelte eine breitere Öffentlichkeit wach und machte die Tragweite des Geschehens deutlich, beispielsweise im Interview mit „Republik“, in dem Melzer sagte: „Mächtige können straflos über Leichen gehen, und aus Journalismus wird Spionage. Es wird ein Verbrechen, die Wahrheit zu sagen.“
Er habe viel Schrecken und Gewalt gesehen, führte er aus, „wie schnell sich friedliche Länder wie Jugoslawien oder Ruanda in eine Hölle verwandeln können“. An der Wurzel solcher Entwicklungen stünden „immer Strukturen mangelnder Transparenz und unkontrollierter politischer oder wirtschaftlicher Macht, kombiniert mit der Naivität, Gleichgültigkeit und Manipulierbarkeit der Bevölkerung. Plötzlich kann das, was heute immer nur den anderen passiert – ungesühnte Folter, Vergewaltigung, Vertreibung und Ermordung – ebenso gut auch uns oder unseren Kindern passieren. Und es wird kein Hahn danach krähen.“
Melzer argumentierte grundsätzlich und verteidigte grundsätzlich die universellen Menschenrechte und die Prinzipien des Rechtsstaats: „Ich sage nicht, Julian Assange sei ein Engel. Oder ein Held. Aber das muss er auch nicht sein. Denn wir sprechen von Menschenrechten und nicht von Engels- oder Heldenrechten. Assange ist ein Mensch, er hat das Recht, sich zu verteidigen und menschlich behandelt zu werden. Was auch immer man Assange vorwirft, er hat ein Recht auf ein faires Verfahren.“
Das habe man ihm konsequent verwehrt, und zwar sowohl in Schweden wie auch in den USA, in England und in Ecuador. Melzers Fazit: „Vier demokratische Staaten schließen sich zusammen, USA, Ecuador, Schweden und Grossbritannien, um mit ihrer geballten Macht aus einem Mann ein Monster zu machen, damit man ihn nachher auf dem Scheiterhaufen verbrennen kann, ohne dass jemand aufschreit. Der Fall ist ein Riesenskandal und die Bankrotterklärung der westlichen Rechtsstaatlichkeit. Wenn Julian Assange verurteilt wird, dann ist das ein Todesurteil für die Pressefreiheit.“
Das in Washington offen anzusprechen, ist ein berechtigter Wunsch an Angela Merkel. Zum Ende ihrer Amtszeit kann sie ein Zeichen für die gemeinsamen demokratischen Werte, die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit setzen. Über Gerechtigkeit für Julian Assange hinaus wäre damit auch eine Botschaft an ihre eigene Partei verbunden. Aus der CDU heraus werden in diesen Tagen abstoßende Attacken gegen die Pressfreiheit geritten, und die Parteiführung nimmt das ohne große Empörung hin.
Bildquelle: flickr,duncan c , CC BY-NC 2.0