Antje Vollmer ist tot. Die Politikerin, die zur ersten Grünen-Fraktion gehörte, die 1983 den Sprung in den Deutschen Bundestag geschafft hatte, und die viele Jahre Vize-Präsidentin des Bundestages war, wurde 79 Jahre alt. Katrin Göring-Eckardt, selber Stellvertreterin der Präsidentin Bärbel Bas, würdigte die Parteifreundin mit den Worten, Antje Vollmer habe „vieles von dem durchgekämpft, wovon wir heute profitieren“. Dazu gehört längst die anerkannte Rolle der Grünen in Gesellschaft und Politik. Die Verstorbene habe „ihren eigenen Kopf behalten“ und sei „unbeugsam “ gewesen. Wer Antje Vollmer erlebt hat, kann jedes Wort unterschreiben. Sie polarisierte gern und war deshalb auch in ihren eigenen Reihen umstritten.
Sie gehörte schon zu den Grünen, als diese noch eine echte Opposition waren, die sich eher als eine Anti-Bewegung verstanden, die sich zusammenfanden aus vielen Gruppen und Grüppchen, denen das etablierte System in Bonn nicht so gefiel. Damals waren die Grünen eher eine Protestbewegung, gegen die Atomenergie als Kern ihres Programms, gegen jeden Krieg, für Umweltschutz und Frauen-Rechte. Unbequem waren diese Grünen, war Antje Vollmer, die, so habe ich sie erlebt, sich kaum etwas sagen ließ von den zumeist älteren Herren im Deutschen Bundestag. Man schaue sich die Bilder an, als die Grünen mit bunt bestickten Hemden und T-Shirts, Blumen in den Händen, das Hohe Haus am Rhein betraten und den dort seit Jahrzehnten sitzenden Parteien zeigten, dass das nicht ihre Welt war. So wurden sie anfangs belächelt, ja auch mit Spott und Häme begrüßt, was sie nicht störte.
Unbequeme Mahnerin
Antje Vollmer war eine unbequeme Mahnerin, ich gebe zu, dass ich ihre Worte oft allzu moralisierend empfunden habe, die sie in ihrem eher weinerlichen Ton vortrug. Dabei war sie eine Humanistin, unbeirrbar und ja eine Persönlichkeit hohen Grades, die wesentlich dazu beitrug, dass die Grünen zu einer Parlamentspartei wurden, mit denen jede andere demokratische Partei Bündnisse eingeht. In Stuttgart, Düsseldorf, Kiel, Mainz, Wiesbaden, Hannover, und im Bund. Um nur einige Beispiel zu nennen. Sie sind angekommen nach ihrem langen Weg.
Antje Vollmer ist 1943 in Lübbecke -Ostwestfalen-geboren, also gegen Ende des furchtbaren, von deutschen Nazis entfachten Weltkrieges. Ihre Eltern hatten ein Textilgeschäft „ganz wunderbaren altmodischen Zuschnitts, also sehr viele Stoffe, Aussteuer, extrem gute Bett- und Tischwäsche, Betten, Knöpfe“.(Vollmer im Interview mit dem Deutschlandfunk)Sie stamme „nicht aus einem religiösen Elternhaus, war auch nie Pfarrerstochter, wie mir immer nachgedichtet wird“. Das sei zu Hause eher ein amusisches und areligiöses Leben gewesen. Hat sie richtig gestellt.
Die Nachkriegszeit ist überall im Land von Armut geprägt, die Menschen waren oft traumatisiert vom Krieg. Antje Vollmer erzählt im DLF-Interview von einer Putzfrau, die von ihren Erlebnissen in Schlesien berichtet habe, gemeint wohl die Flucht und alle anderen Schrecken in diesem Zusammenhang. „Der Krieg war eigentlich überall“, sagt sie weiter. Er war vorbei und nicht vorbei. Nie wieder Krieg. Daran kann ich mich erinnern. Antje Vollmer erinnert sich, etwas älter, an die Überschrift in der Zeitung „Wiederaufrüstung der Bundeswehr.“ Da soll sie kreidebleich geworden sein und umgekippt, lese ich in der Abschrift des Rundfunk-Beitrags. Und die Eltern hätten gefragt, was das Kind denn habe. „Und ich sagte, es gibt wieder Krieg.“ So Antje Vollmer. Sie habe früh begriffen, „dass der Krieg das Allerschlimmste ist, dass er die Menschen auf Jahre lebensunfähig macht“. Und deswegen sei das Thema „eins der größten Themen meiner Jugendzeit“ gewesen.
Bonhoeffer war ihr Vorbild
Sozialisiert sei sie durch die Kirchengemeinde geworden, die sich in der Tradition der „Bekennenden Kirche“ gesehen habe. Und ihr erstes großes politisches Thema sei der versäumte Widerstand gegen Hitler gewesen oder der wenigen positiven Beispiele. Bonhoeffer sei das Hauptmotiv für sie gewesen, Theologie zu studieren. Dietrich Bonhoeffer, lutherischer Theologe, Mitglied der „Bekennenden Kirche“, aktiv im Widerstand gegen Hitler und die Nazis, am 9. April 1945, wenige Wochen vor Ende des Krieges, auf ausdrücklichen Befehl Hitlers als einer der letzten NS-Gegner, die mit dem Attentat am 20. Juli 1944 in Verbindung gebracht wurden, im KZ Flossenbürg gehängt. Bonhoeffer war für sie ein Vorbild.
Sie studiere Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Berlin und wohnte im Wedding, Arbeiterviertel. Die bundespolitische Bühne betrat sie dann 1983 und zog für die Grünen in den Bundestag. 1990 verfehlten die Grünen die Fünf-vh-Hürde, also schied Vollmer aus dem Parlament und arbeitete als Autorin. Vier Jahre später ist sie wieder Abgeordnete und wurde Vizepräsidentin des Berliner Parlaments im Reichstag, bis sie 2005 nicht mehr kandidierte. Es gab Stimmen, die hätten sie gern als Bundespräsidentin gesehen. Die Macht des Wortes hätte sie gehabt. Sie blieb politisch aktiv, schrieb Gastbeiträge in vielen Blättern und beteiligte sich an Debatten, in denen sie ihre pazifistischen Überzeugungen vertrat. So unterzeichnete sie im April 2022, wenige Wochen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, einen offenen Brief, in dem Bundeskanzler Olaf Scholz aufgerufen wurde, Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen. Auch beim umstrittenen, von der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer initiierten „Manifest für den Frieden“ gehörte Vollmer zu den ersten Unterzeichnern.
Die Entwicklung ihrer eigenen Partei sah Antje Vollmer kritisch. In einem Spiegel-Interview attestierte sie nach der Bundestagswahl 2021 den Grünen eine Kluft zwischen Wählerschaft und Parteispitze. „Von einer neuen Volkspartei sind wir weit entfernt“. Zudem haderte sie mit dem Kurs der Grünen, der eher pragmatisch war, man wollte regieren, mitregieren, deshalb Bündnisse mit SPD und der CDU. Sie sah in Waffenlieferungen für die Ukraine eine Abkehr von den pazifistischen Ursprüngen der Partei in der Friedensbewegung. Später, gegen Ende ihres Lebens, bekannte Antje Vollmer in der „Berliner Zeitung“ in einer Art Vermächtnis: „Meine ganz persönliche Niederlage wird mich die letzten Tage begleiten.“ Dass die Grünen es versäumt hätten, den Weg zu einer „wirklich neuen Ordnung, einer gerechteren Welt“ einzuschlagen. Sie sei „durch glückliche Umstände dieser Botschaft viel näher als alle anderen Parteien“. Und weiter betonte sie: „Was hat die heutigen Grünen verführt, all das aufzugeben für das bloße Ziel, mitzuspielen beim großen geopolitischen Machtpoker und dabei ihre wertvollsten Wurzeln als lautstarke Antipazifisten verächtlich zu machen?“
Vollmers Essay in der „Berliner Zeitung“ endet mit dem Appell: „Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren, einzigartigen, wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“ Sie war eine Intellektuelle, eine körperlich kleine, aber große Persönlichkeit.
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