Liebe Genossin Esken, lieber Genosse Klingbeil,
viele in der SPD machen sich grosse Sorgen um unser Land und um den Zustand unserer Partei.
Die Entscheidung des Bundeskanzlers der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026 zuzustimmen, stösst auf Unverständnis und Fragen, die nicht beantwortet werden.
Im Beschluss des SPD-Präsidiums vom 12. August, der die Stationierung dieser Raketen unterstützt, heisst es, die SPD werde „in den kommenden Wochen und Monaten weiterhin Raum für den Dialog mit unseren Mitgliedern aber auch Bürgerinnen und Bürgern schaffen.“ Austausch und Dialog sind nur dann sinnvoll, wenn am Ende die Entscheidung anders ausfallen kann als sie ohne Dialog getroffen worden ist.
Als Beitrag zu diesem „Dialog“ schicke ich Euch Anmerkungen und konkrete Fragen zum Beschluss des Präsidiums verbunden mit der Bitte, diesen Text an alle Mitglieder des Parteivorstands weiterzugeben. Wir sind gespannt auf die Antworten auf unsere Fragen, die ich an meine mail- oder Post-Adresse erbitte.
Mit freundlichem Gruss
Christoph Habermann
Anmerkungen und Fragen zum Beschluss des SPD-Präsidiums vom 12. August 2024
„Wir organisieren Sicherheit für Deutschland und Europa“
I. Anmerkungen
Das Präsidium der SPD hat in der Sommerpause, ohne dass es Gelegenheit zur innerparteilichen Diskussion in den Ortsvereinen, Unterbezirken und Arbeitsgemeinschaften gegeben hätte, einen Beschluss gefasst, der die Absicht der Regierung der USA und eine entsprechende Vereinbarung mit der Bundesregierung unterstützt, „beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland (zu) stationieren.“
Anders als die Überschrift dieses Beschlusses unterstellt, sehen Kritiker der geplanten Raketen-Stationierung dadurch weniger Sicherheit für Deutschland und Europa und zusätzliche Risiken. Risiken der Stationierung liegen darin, dass diese Raketen eine sehr kurze Vorwarnzeit haben und einen neuen Rüstungswettlauf eröffnen. Dadurch steigt die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation zwischen Russland und den USA, deren furchtbaren Konsequenzen wir in Deutschland ausgesetzt wären.
Schon heute verfügt die NATO auch ohne die geplanten neuen Raketen über eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit.
Im Beschluss des SPD-Präsidiums finden sich viele Aussagen zur Notwendigkeit von Rüstungskontrolle und Abrüstung. Das ist ein Hinweis darauf, dass auch dem Präsidium der SPD bewusst ist, dass sich wirkliche Sicherheit nicht herbeirüsten lässt, sondern auf Vereinbarungen und Verträge angewiesen ist, die einen neuen Rüstungswettlauf verhindern.
Die Bundesrepublik Deutschland muss verteidigungsfähig sein. Das heisst aber nicht, dass sie in jeder Waffenkategorie mit dem potentiellen Gegner Russland gleichziehen oder ihm gar überlegen sein muss. Es kommt auf das Gesamt-Kräfteverhältnis an. Vor allem entspricht es nicht den Interessen Deutschlands und auch nicht den Interessen Europas, wenn bei uns in Deutschland Waffen stationiert werden, die für uns potentiell gefährlicher sind als für den angenommenen Gegner.
Die Aussagen zur Notwendigkeit von Rüstungskontrolle und Abrüstung im Beschluss des SPD-Präsidiums sind richtig, aber allgemein und ohne jede Konkretisierung. Vor allem fehlt der Vorschlag, dass die NATO Russland Verhandlungen vorschlägt mit dem Ziel, dass weder Russland noch NATO-Staaten in Europa Mittelstreckenraketen aufstellen und sich über entsprechende Schritte zur wechselseitigen Überprüfung und Kontrolle einer solchen Vereinbarung verständigen.
II. Fragen
1.
Die Unterstützung für die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wird im Beschluss als „eine Reaktion auf den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands in der Ukraine“ dargestellt.
Tatsächlich ist es aber so, dass die USA schon vor vielen Jahren, lange vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, beschlossen haben, weltweit fünf „Multi Domain Task Forces“ aufzustellen, eine davon in Wiesbaden.
Warum wird diese Tatsache im Beschluss mit keinem Wort erwähnt?
2.
Warum fehlt im Beschluss eine Darstellung der behaupteten konkreten gewachsenen Bedrohung, der mit der Aufstellung der neuen US-Mittelstreckenraketen begegnet werden soll?
3.
Warum ist Deutschland das einzige Land in Europa, in dem diese neuen Waffensysteme stationiert werden sollen?
4.
Entsteht angesichts der kurzen Vorwarnzeiten nicht ein besonderes Risiko für Deutschland, vor allem in Spannungszeiten und durch unbeabsichtigte militärische Eskalation? Die zur Stationierung vorgesehenen Hyperschall-Raketen reichen weiter, sind zielgenauer, zerstörerischer und wegen ihrer Geschwindigkeit kaum abzuwehren.
Steigt damit nicht das Risiko, dass Russland im Spannungsfall zu dem Ergebnis kommt, diese besonders gefährlichen Waffen präventiv auszuschalten?
5.
Wodurch sind die zusätzlichen Risiken gerechtfertigt, die sich durch diese „Singularisierung“ Deutschlands im Spannungsfall ergeben?
6.
Warum handelt es sich um eine bilaterale Vereinbarung zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland und nicht um eine Vereinbarung im Rahmen der NATO?
Führt die Stationierung ausschliesslich in Deutschland nicht dazu, dass unser Land dadurch stärker als andere Mitgliedsstaaten der NATO zum Ziel eines möglichen russischen Angriffs wird?
7.
Wer entscheidet im Krisenfall darüber, ob und wann die neuen Waffensysteme eingesetzt werden? Deutschland oder die USA?
8.
Warum enthält die Vereinbarung kein Angebot an Russland, auf die Stationierung zu verzichten, wenn Russland seinerseits auf vergleichbare Waffensysteme verzichtet?
9.
Warum hat die Bundesregierung nicht schon seit Jahren die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika gedrängt, den gekündigten Vertrag über die Begrenzung von Mittelstreckenraketen in Europa durch ein Moratorium weiter einzuhalten. (Ein entsprechender Vorschlag des russischen Präsidenten liegt seit Oktober 2020 vor.
Das hat Rose Gottenmoeller, von 2016 bis 2019 stellvertretende Generalsekretärin der NATO, in einem Interview vom 29. Juli 2024 mit dem „Bulletin of the Atomic Scientists“ bestätigt. Gottenmoeller spricht sich dafür aus, Verhandlungen darüber an den Beginn einer neuen Runde von Verhandlungen zwischen Russland und der NATO bzw. der USA über Rüstungskontrolle und Abrüstung zu setzen.)
10.
Seit wann und auf welcher sachlichen Grundlage definiert das Präsidium der SPD die zur Stationierung in Deutschland vorgesehenen US-Mittelstreckenraketen als „abstandsfähige Präzisionswaffen“?
11.
Wie definiert das Präsidium der SPD die behauptete „Fähigkeitslücke“ zur Verteidigung Deutschlands, die durch die geplante Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen geschlossen werden soll?
12.
Warum fehlt in dem Beschluss eine wenigstens knappe Darstellung und Bewertung der heute vorhandenen militärischen Möglichkeiten und Fähigkeiten der NATO, aus der sich die behauptete „Fähigkeitslücke“ ableiten liesse?
13.
Welche Schritte schlägt das Präsidium der SPD vor, um das in seinem Beschluss formulierte Ziel anzugehen, nämlich die „Rückkehr zu einer wirksamen Rüstungskontrolle in Europa und der Aufbau einer neuen regelbasierten Friedensordnung, an die sich die Länder unseres Kontinents gebunden fühlen.“?
14.
Im Beschluss heisst es, notwendig sei „eine gesellschaftliche Debatte über die Bedrohungslage und die notwendigen Schritte für unsere Sicherheit, zum Erhalt unserer Freiheit und zur Sicherung von Frieden in Europa.“
Wie ist diese richtige Forderung damit vereinbar, dass das Präsidium der SPD mit seinem Beschluss vom 12. August 2024 der Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland ab 2026 zustimmt, bevor eine solche Debatte überhaupt stattfinden konnte?
Bonn, 20. August 2024
Christoph Habermann, Staatssekretär a.D., stellvertretender Chef des Bundespräsidialamtes bei Bundespräsident Johannes Rau 1999 bis 2004
Dr. Wolfgang Lieb, Staatssekretär a.D., Regierungssprecher bei Ministerpräsident Johannes Rau 1990 bis 1996
Professor Dr. Peter Brandt, stellvertretender Vorsitzender Willy-Brandt-Kreis
Bärbel Dieckmann, Oberbürgermeisterin von Bonn 1994 bis 2009
Dr. Karl-Heinz Klär, Staatssekretär a.D., Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und für Europa 1994 bis 2011
Peter Kox, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Bonn
Jürgen Nimptsch, Oberbürgermeister von Bonn 2009 bis 2015
Dr. Hans Walter Schulten, Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Bonn 1991 bis 1997
Wolfgang Wiemer, Büroleiter des SPD-Parteivorsitzenden Kurt Beck 2006 bis 2008
Ich unterstütze diese Initiative uneingeschränkt.
Die Qualität der Antworten wird für mich mit entscheidend sein bei der Frage, ob ich nach mehr als 57 Jahren Mitgliedschaft noch in der SPD sein kann, sein will.
Dr. Karlheinz Bentele, Staatssekretär a,D., Präsident des Rheinischen Sparkassen- und Giroverbandes d.D.
Der von Christoph Habermann redaktionell verantwortete Beitrag ist vorranig ein „Glaubensbekenntnis“ und keine fundierte Sachdarstellung zu dem Gesamtkomplex. Man hat den Eindruck, sämmtliche Diskussionsbeiträge, die diese Stationierung als notwendig bezeichnet haben, sind inhaltlich von dem Autor nicht zur Kenntnis genommen worden. Die gestellten Fragen spiegeln dies zum Teil eindrucksvoll wieder.
Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat zu diesem Rüstungsbeschluss der Bundesregierung festgestellt, dass „die Rechtsgrundlagen aufgrund derer die Bundesregierung ohne weitere Einbindung der legislativen Gewalt eine Zustimmung erteilen könnte“ dafür der NATO-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag in Verbindung mit den dazugehörigen Zustimmungsgesetzen sind. Daraus folgt, dass die entsprechende Entscheidung allein Sache der Exekutive war.
Das Parteipräsidium der SPD ist der geschäftsführende Vorstand der Partei und in dieser Eigenschaft vor allem für Positionierungen in aktuellen politischen Fragen zuständig. Daraus ergibt sich zwingend im Zusammenhang mit der Handlungsfähigkeit, dass für notwendige aktuelle Beschlüsse keineswegs parteiinterne Meinungsbildungen vorab herbeigeführt werden müssen. Wäre dies so, würde dies unmittelbare Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung haben. Solche Vorgaben müssten sicher auch einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen werden.
Unabhängigb vo diesen Einwendungen bin auch ich der Auffassung, dass erheblicher Erläuterungsbedarf zu der Notwendigkeit des Beschlusses der Bundesregierung und des begleitenden Beschlusses des SPD Präsidiums besteht. Hilfreich im Sinne wirklicher Erkenntnis sind dabei aber nur mit Fakten hinterlegte „Beweisführungen“.
Fragen über Fragen:
Der Beschluss des Präsidiums vom 12.8. versucht die Debatte eingangs abzuwürgen, um sie abschließend erläuternd zuzulassen: Das allein ruft angesichts der Bedeutung des Themas schon Widerspruch und neue Fragen auf, wie Christoph Habermann und Andere darlegen.
Besonders erschreckend und fragwürdig erscheint mir zudem der inhaltliche Widerspruch im Text selbst: In der Gemeinsamen Erklärung vom 10. Juli wird die ab 2026 zeitweilige Stationierung weitreichender Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland durch die Vereinigten Staaten als „Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung“ bezeichnet. Dahinter stellt sich das SPD-Präsidium mit seinem mehr als voreiligen Beschluss!
Der anschließende Beschlusstext erläutert aber „nur“, was ab 2026 „zeitweilig“ geplant ist; dabei übersieht, bzw. unterschlägt das Präsidium die geplante dauerhafte Stationierung mit allen weiteren dramatischen Implikationen, insbesondere der Stationierung von Atomwaffen. Was das Präsidium Partei und Öffentlichkeit zur Erläuterung anbietet ist schon fragwürdig genug und steht obendrein in deutlichem Widerspruch zur Gemeinsamen Erklärung.
Daraus folgt für mich die zentrale Frage: Wäre es nicht angesagt, die Zeit für eine Debatte zu nutzen, die unserem Land und der Menschheit im Ergebnis diese neue Rüstungsspirale erspart?
Anke Brunn
Lieber Hans-Christian Hoffmann, ob Fragen an einen Beschluss des SPD-Präsidiums ein „Glaubensbekenntnis“ sein können, lasse ich einmal dahingestellt.
Erhebliche Zweifel habe ich an der „Feststellung“ der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags https://www.bundestag.de/resource/blob/1014640/07c7b25fe08f0145d5e3ba265ba938dc/WD-2-047-24-pdf.pdf, dass die Vereinbarung zwischen den USA und Deutschland ein rein exekutiver Akt sei.
Die Rechtsgrundlagen wonach die Bundesregierung ohne weitere Einbindung der legislativen Gewalt die Zustimmung zu dieser Vereinbarung geben konnte, „dürften (so heißt es wörtlich) auch hier wohl (!) der NATO-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag“ ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik vom 23. Oktober 1954 i.V.m. den dazugehörigen Zustimmungsgesetzen sein. Die Stationierung von US-amerikanischen Raketen und Marschflugkörpern (wiederum wörtlich) „dürfte sich ebenfalls im Rahmen des NATO-Bündnissystems abspielen“. Als Beleg für diese (juristische) Begründung wird genannt, dass die geplante Stationierung auf dem NATO-Gipfel im Juli verkündet wurde und die Vereinbarung auf die „Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO“ verweise.
In der Schlusserklärung des NATO-Gipfels in Washington taucht diese Entscheidung jedoch gar nicht auf. Die Bindungswirkung zur NATO ist eher rhetorisch. Und ob ein „Commitment to NATO“ – wie es in der amerikanischen Fassung des „joint statement“ heißt, also eine „Verpflichtung“ der USA gegenüber der NATO, einseitig und ohne einen Bündnisbeschluss sich noch im Rahmen des Bündnissystems „abspielt“, kann man auch in Frage stellen.
Das sind eher Mutmaßungen als juristische Begründungen.
Dass aber eine im Vergleich zu einem Truppeneinsatz in Mali so weitreichende Entscheidung für die Sicherheit Deutschlands als exekutiver Akt schmallippig mitgeteilt wird, ist eine sehr weite Auslegung des Demokratieprinzip und wird der politischen Bedeutung für die Sicherheit der Bevölkerung wohl kaum gerecht.
Ich unterstütze diese Initiative voll und ganz.
Insbesondere begrüße ich den Hinweis, dass der Vorschlag, dass die NATO Russland Verhandlungen vorschlägt mit dem Ziel, dass weder Russland noch NATO-Staaten in Europa Mittelstreckenraketen aufstellen und sich über entsprechende Schritte zur wechselseitigen Überprüfung und Kontrolle einer solchen Vereinbarung verständigen.
Für mich unfassbar, dass die SPD nicht genau dieses in den Vordergrund Ihrer politischen Bemühungen stellt!
Auch ich unterstütze diese Initiative nachdrücklich und werde für Verbreitung sorgen.